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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 6
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 198.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                                    



4.
Kapitel

Waren die Häuser und Straßen an dieser unsichtbaren Grenze, an dieser Nahtstelle virtueller Wirklichkeit hier und da in einem Zustand gewesen, dem man das Bewohntwerden ansah, das In-Gebrauch-Sein, so begannen sie schon wenige hundert Meter jenseits davon, heruntergekommen zu wirken. Die Straße war ein Flickenteppich, Kopfsteinpflaster schaute unter dem zerrissenen Asphalt hervor, Schlaglöcher waren mit Ziegelbruchstücken aufgefüllt.

Das heimelige Gefühl, dass Kevin beim Anblick der spielenden Kinder empfunden hatte, bei den Wäschestücken und all den kleinen Details, die zeigten, dass hier gelebt wurde und das Leben Spuren hinterließ, dieses heimelige Gefühl wich mehr und mehr etwas, das sich wie eine kalte Hand in seine Gedärmen grub.

Sein Wagen rumpelte über Kopfsteinpflaster mit Resten von Asphalt. Er musste aufpassen, denn einige der mit schlammiger Brühe gefüllten Löcher konnten ihm wahrscheinlich einen Achsbruch bescheren. Früher war die Straße von Bäumen gesäumt gewesen wie ein paar hundert Meter weiter hinten, aber es standen nur noch die Stümpfe. Kevin sah an einer Stelle, warum: Einige Männer standen an einem Stamm, der vor kurzem gefällt worden zu sein schien, vielleicht die letzte der großen Linden, die hier gestanden hatten. Mit billig aussehenden Kettensägen zerteilten sie den Baum, bis nur noch Scheite übrig waren.

Die Häuser hier waren alt, auf den Dächern standen Schornsteine, und aus einigen stieg Rauch auf. Die Männer hoben die Köpfe von der Arbeit, als er vorbeifuhr. Sie starrten ihn an, und in ihren Augen war etwas, das Kevin mehr erschreckte als die roten Ziegelsteine, die unter großen Löchern im Putz der Häuser hervor schauten. Diese Augen waren genauso leer wie die leeren Fensterhöhlen einiger Wohnungen, deren Scheiben eingeworfen waren oder mit groben Brettern vernagelt. Und hinter ihnen flackerte es genauso wie hinter den Scheiben der intakten Fenster, wo die allgegenwärtigen Bildschirme zuckend kaltes Licht in den Raum warfen. Nur liefen hinter den Augen der Holzfäller keine Vormittags-Talkshows.

Dort starrte hinter einem schmierigen, nikotinfleckigen Vorhang aus Resignation nichts als kalter, blanker Hass.

Kevin lenkte den Wagen weiter nach links, weg von diesen Männern. Gegenverkehr brauchte er nicht zu fürchten – er sah keinen Wagen auf der Straße. Nur am Straßenrand standen einige Karossen, und die würden nie wieder fahren: es waren bloße Hülsen ohne Räder und Scheiben und Scheinwerfer. In einem kletterten Kinder herum, sie trugen Pullover, die ihnen viel zu groß waren und wirkten so ganz anders, als Kevin Kinder kannte. Vielleicht, weil ihre Haare nicht gegelt nach hinten gekämmt waren und sie nicht die schreiend bunte Kleidung mit den riesigen Schriftzügen der Markennamen trugen. Vielleicht, weil sie kreischend die kaputten Autositze als Trampoline benutzten, anstatt mit Handys in der Hand, Kopfhörer im Ohr stets kühle Überlegenheit zur Schau zu tragen.

Er sah im Rückspiegel, wie ihm die Kerle in ihren groben Pullovern und Jeans immer noch nachstarrten. Ihre Blicke begegneten seinem. Einer, vielleicht um die Fünfzig, grinste plötzlich – weniger ein Grinsen als viel mehr ein aggressives Schnappen, das Zähnefletschen eines gereizten Hundes. Nur dass diesem Hund etliche Zähne fehlten. Dem Mann standen nur noch Stummel im Mund, und Kevin kroch Entsetzen kalt den Rücken hinauf – er hatte noch nie so einen Mund gesehen. Einen Mund, wo schwarze Löcher dort gähnten, wo Zähne sein sollten. Und es hatte etwas, das ihn verunsicherte, ihm Angst machte, und die Angst in Kevin wuchs wie ein Parasit, der alle Freude frisst. Seine Brust war ihm zu eng, es drückte ihm die Luft ab. Er konnte selbst nicht genau sagen, woher die Angst kam. Etwas saß hier in den Schlaglöchern, im abbröckelnden Putz, in den gefällten Bäumen, den leeren Augen toter Wohnungen und in den Löchern im Mund des böse grinsenden Mannes. Etwas schleichendes, Hoffnung fressendes, Krankes. Und am stärksten glotzte es aus den Augen der Leute heraus, die stehen blieben und ihn anstarrten.

Es knallte.

Sein Seitenfenster zeigte plötzlich ein Spinnennetz von Rissen. Kevin sah, wie ein Junge wegrannte. Ein Stein hüpfte über das Kopfsteinpflaster davon. Kevin hatte das Gefühl, unaufhaltsamen in einen Albtraum hinein zu rutschen, und er hatte nicht die geringste Ahnung, was er dagegen tun sollte.

Das hier war nicht seine Welt. Das konnte nicht seine Welt sein. So etwas gab es in alten Filmen, vielleicht gab es in der großen Finanzkrise Anfang des Jahrhunderts solche Viertel in Köln. Die Arbeitslosenquote heute war verschwindend gering, die normale Fluktuation auf dem Markt. Rumpelnd knickte der Wagen vorne rechts ein. Das Lenkrad riss sich ihm aus der Hand. Ein Schlagloch, das hässliche Geräusch knirschende Metalls ließ Kevin ein Stoßgebet in den Himmel schicken.

Bloß keinen Achsbruch!

Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!


"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-29-7

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 199  vom 27.05.2009

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