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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 5
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 197.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                                  

3.
Kapitel (Fortsetzung)

Es ist schwer zu beschreiben, was mit Kevin geschah, als er von die Abfahrt hinunter in die Stadt kam. Wir Heutigen haben gewisse Strategien entwickelt, uns selbst in einer gänzlich unbekannten Umgebung zu orientieren, uns mit einem gewissen Automatismus auffällige Wegmarken zu merken und nach und nach so etwas wie eine dynamische Karte im Kopf zu entwickeln.


Kevin war nie der Notwendigkeit ausgesetzt gewesen, etwas finden zu müssen. Jedes Handy, jedes Auto lotste auf Anfrage sofort zur richtigen Stelle, wahlweise die schnellste oder die schönste Strecke. Jede Information zu einem interessanten Gebäude war überall abzurufen, Fragen, wie nach dem Ort einer Veranstaltung, sofort beantwortet.

Aber Kevin hatte kein Navigationssystem und auch kein Handy. Er war in eine stumme Welt geworfen, die nicht mehr zu ihm sprach, die ihm nicht mehr sagte, wo es lang ging. Jede Kreuzung, jede Abzweigung wurde zu einem unlösbaren Problem. Er hatte noch nicht einmal eine vage Vorstellung, wo er sich befand und in welche Richtung er musste. Die Desorientierung und Angst, die sich in Kevin breit machte, ist einem Heutigen kaum verständlich zu machen. Nackt in einer fremden Stadt aufzuwachen, in der eine völlig andere Sprache gesprochen wird, ist vielleicht ein angemessener Vergleich.

Ich, der ich diese merkwürdige Geschichte zu erzählen habe, höre schon die zweifelnden Fragen, warum Kevin nicht einfach zu einer Telefonzelle ging, oder zu einem Internet-Café. Aber was soll eine Welt mit Telefonzellen, wo jeder sein Telefon immer bei sich hat? Was mit Internet-Cafés, wenn diese Mobiltelefone jederzeit online sind und obendrein vollwertige Computer?

Weit weniger einfach ist zu beantworten, warum Kevin nicht an den Straßenrand fuhr und jemand nach dem Weg fragte. Wo doch jeder, wenn er sich schon nicht mehr selbst orientieren konnte, zumindest über ein Handy mit Navigationsgerät verfügte.

Es kam Kevin nicht in den Sinn.

Er war es nicht gewöhnt, herum zu fragen oder sogar wildfremde Menschen anzusprechen – wozu auch, wenn jede erwünschte Information ständig abrufbar ist? Kevin fuhr ziellos durch Köln, und irgendein seltsames Gefühl in ihm wartete darauf, dass etwas geschah. Es war immer irgendetwas geschehen. Die Stimme des Navigationssystems hatte ihm gesagt, wo er abbiegen musste. Jemand rief an, oder via Mail kam eine Nachricht. Kevin fuhr und fuhr, bog hier ein, folgte da einer Straße, und dieses Gefühl, das auf irgendetwas wartete, es schwand nur langsam. Und inzwischen hatte sich die Gegend verändert, durch die Kevin fuhr. Er war die himmelhohen Paläste aus Stahl und Glas gewohnt. Die nach Schachbrettmuster aufgereihten Vorstadt-Häuschen mit Wiese drum herum. Die sauberen Straßenzüge mit alten Bäumen und viel Stuck. Es war eine saubere Welt, in der Kevin lebte, sauber und wohlhabend.

Der Asphalt der Straße, auf der er jetzt fuhr, wies jedoch Risse auf und an der einen oder anderen Stelle sogar ein wassergefülltes Schlagloch. In den Parkbuchten standen ältere Wagen, nicht die glänzenden Limousinen, die Kevin sonst sah. Auch die Fassaden der Häuser wirkten nicht allesamt, als wären sie frisch auf dem Ei gepellt. Unter den Fensterbänken waren Wasserspuren zu sehen, hier und da zog sich ein Riss durch den Putz.

Kevin empfand das auf eine gewisse Weise anheimelnd – irgendwie echter. Die Vorstadt-Häuschen kamen ihm oft genug vor wie gerade aus der Plastik-Verpackung geholt und auf Fertigrasen drapiert, künstlich, geleckt, ohne jede Spur von Leben. Hier quoll eine Mülltonne über, ein kleines Kind patschte in übergroßen Gummistiefeln durch die Pfützen. Mit dem dunklen, grauen Himmel darüber und den kahlen Dezember-Ästen der Bäume, die die Straße säumten, hatte es etwas Melancholisches. So sah die Welt aus in den Büchern, die er las, die alten, guten, wo Menschen und Schicksale beschrieben wurden. Seine eigene Welt erschien ihm plötzlich künstlich, antiseptisch, vollautomatisch tot.


Er rollte langsam weiter, wich, während er den Blick schweifen ließ, Unebenheiten der Straße und wassergefüllten Schlaglöchern aus.

Was Kevin, so genau er auch hinschaute, nicht bemerkte und auch nicht bemerken konnte, war, dass er über eine unsichtbare Grenze rollte – eine unsichtbare Grenze, die mit einem virtuellen Zirkel gezogen quer über die Straße lief. Er bemerkte nur, wie sich die Häuser und Straßen ringsum immer mehr veränderten.

Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!


"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-29-7

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 198  vom 20.05.2009

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