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Arbeit und Soziales
Streitfall Hartz IV - Ein Fall für Dietrich S.
Chaos am Ende des Kapitalismus
Von Jens Szaneit

Was das Ausgrenzungs- und Verarmungssystem Hartz IV – durchgesetzt durch SPD, Grüne und CDU – tatsächlich mit den Menschen in unserem Lande macht, kann nur verstehen, wer selbst davon betroffen ist. Vielleicht kann man es auch, wenn dokumentarisch darüber berichtet wird. Zum Beispiel durch die Dokumentarfilmerin Edeltraud Remmel. Die ARGE Duisburg steht in ihrem WDR-Film erneut in der Kritik im Umgang mit den „Kunden“ und ihrem „Ombudsman“. – Die Redaktion.


Dietrich Schoch, ehrenamtlicher
Ombudsmann bei der ARGE in
Duisburg, scheut auch vor
Hausbesuchen nicht zurück.
Bild: WDR
So ganz rational kann auch Edeltraud Remmel nicht herleiten, was einen Menschen wie Dietrich Schoch dazu bewegt, immer weiter zu machen. Zwischen November 2008 und April 2009 begleitete die Filmemacherin den deutschlandweit ersten und einzigen anerkannten Schlichter im Hartz-IV-Dschungel in seinem aufreibenden Ehrenamt. „Das ist wohl einfach seine Mentalität", urteilt die Autorin über den spätkapitalistischen Don Quichote, den sie im Rahmen der ARD-Themenwoche „Ist doch Ehrensache!" vorstellt. Soweit es den Programmmachern darum ging, aufopferungsvolle Lückenbüßer des maroden Sozialstaats zu würdigen, zeigt die Dokumentation „Streitfall Hartz IV – Ein Fall für Dietrich S." ein wahres Musterbeispiel. Hoffnung, dass ehrenamtliches Engagement jenseits von Symptomkosmetik von staatlicher Seite gewünscht ist, macht der Film dagegen nicht.
Vier Jahre, nachdem Sozialamt und Arbeitsagentur zu den Arbeitsgemeinschaften - kurz: ARGE - zusammengeführt wurden, steht die inzwischen als verfassungswidrig entlarvte Mischbehörde vor dem Aus. Doch schon jetzt gleicht das Amt für die Hartz-IV-Vergabe landesweit einem Tollhaus. „Jede Menge falscher Bescheide, Unzufriedenheit und strukturelle Probleme", fasst Remmel die malade Lage zusammen, die nicht von ungefähr kommt.


Das Behörden-Chaos kocht über:
In Duisburg protestieren regelmäßig
Menschen gegen die Hartz-IV-
Gesetzgebung. | Bild: WDR
Rund zur Hälfte setzt sich das Personal der ARGE aus Kurzarbeitern vom freien Markt zusammen. Die befassen sich mit einer Paragrafenlage, die bis Dezember 2008 satte 34 Mal nachgebessert wurde, wie die Filmemacherin erklärt: „Die Berater müssen sich in kürzester Zeit einarbeiten und Bescheide ausstellen, die sie selbst nicht verstehen."

Frustration und chaotische Zustände waren deutschlandweit die Folge, gegen die man in Duisburg im November 2007 eine Patentlösung präsentierte: Dietrich Schoch. Der pensionierte Verwaltungsexperte wollte als ehrenamtlicher Ombudsmann in den zahlreichen Streitfällen ums Thema Hartz IV schlichten. Und er erhielt reichlich Gelegenheit. Rund 240 Mal wurde der Paragrafenkenner zurate gezogen, und in mehr als der Hälfte aller Fälle bekamen seine Klienten recht - also Geld.


In Birgits Büdchen treffen sich
Duisburger Hartz-IV-Empfänger.
Ombudsmann Dietrich Schoch
(rechts) steht mit Rat und Tat
zur Seite. | Bild: WDR
So zeigt der Film einen Fünfeinhalb-Zentner-Mann, der aus seiner behindertengerechten 60-Quadratmeter-Wohnung ausziehen sollte. Zu groß, befand die Behörde. Oder auch den Fall eines Thyssen-Krupp-Arbeiters, der seine Patchwork-Familie und die Ex-Frau finanziell versorgen musste. Als der gut verdienende Arbeiter unter die Grundsicherung fiel, wollte ihm die ARGE einen neuen Job vermitteln: bei einer Zeitarbeitsfirma zum halben Gehalt. Da der Mann den Unsinn ausschlug, wurden ihm wegen Verweigerung sämtliche Bezüge vorenthalten.

Schoch, ein Protestant, der schon sein Leben lang ehrenamtlich arbeitet, verhalf diesen Klienten zu ihrem Recht. Doch dabei beließ er es nicht. Seit der Experte der Behörde dezidiert ihre strukturellen Mängel vorhielt und diese auch an die Öffentlichkeit brachte, herrschte mit der Duisburger ARGE-Führung Funkstille. Auch die Mehrheit im Stadtrat wollte den „Nestbeschmutzer" nun loswerden, der sich erst auf gutes Zureden der Wohlfahrtsverbände zum Weitermachen entschied. Doch als dem Ombudsmann im März zwei weitere ehrenamtliche Schlichter an die Seite gestellt werden sollten - unter zentraler Direktive -, war es genug. Mit dem ursprünglich einmal als unabhängig vereinbarten Gremium hatte das nicht mehr viel zu tun. Schoch schmiss endgültig hin und coacht nun - natürlich ehrenamtlich - die überforderten Berater bei den Verbänden.


Auch die 400-Euro-Jobberin
Gabriele Mertes wandte sich mit
ihrem Anliegen an den Ombudsmann
der ARGE. | Bild: WDR
  An fast schon konspirativen Orten und bei zahlreichen Hausbesuchen zeichnet der Film die Beamtenfarce nach. Denn in den Räumen der Arbeitsgemeinschaften herrschte Drehverbot. Auch die Beratungsgespräche durften somit nicht gefilmt werden. Lediglich ein Sachbearbeiter äußerte sich anonym - ein ziemlich erbärmliches Zeugnis für die angeblich so transparente Bundesrepublik, die dieser Tage ihr 60. Jubiläum feiert. Alt ist sie geworden, darüber täuschen auch ehrenamtliche Helfer nicht hinweg. (HDH)

Wir danken der Agentur „teleschau - der mediendienst GmbH“ und der „Nordsee-Zeitung“ für die Übernahme des Artikels.


Online-Flyer Nr. 197  vom 13.05.2009

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