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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 4
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 196.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                                  
3. Kapitel

Die Unsicherheit wich schon auf den ersten Kilometern. Der Wagen lief so ruhig wie immer. Die Sorge, dass der Blitz irgendwelche wichtigen Dinge zerstört hatte, war offenbar unbegründet. Und so kompliziert war das „manuelle“ Fahren nicht, wie es auf diesen Anleitungen sinnlos umständlich erklärt war – im Grunde gab es keinen wesentlichen Unterschied, fand Kevin, abgesehen von den drei Stellungen des Schaltknüppels und dass er alles mit mehr Kraft machen musste. Eigentlich war es sogar angenehmer – niemand funkte ihn ständig an, quatschte ihn von der Seite her voll oder meinte, ihm anraten zu wollen, was er als nächstes zu tun habe.

Er glitt durch den Tunnel aus Lärmschutzwänden, und nur das Summen der Reifen auf dem Asphalt, das Arbeiten des Motors und der Fahrtwind war zu hören. Es fühlte sich gut an, die Kontrolle über die Maschine zu haben. Links zog ein Wagen nach dem anderen vorbei, wie auf einer Perlenschnur aufgefädelt – Kevin fuhr ganz rechts und nicht schneller als einhundertdreißig. Die meisten hatten die Hände nicht am Lenkrad und ließen den Au­topiloten für sich fahren.

Es war die Bequemlichkeit, dachte er, mit der sie uns kriegen. Wahrscheinlich konnten die Leute gar mehr nicht selber fahren – wenn der Computer ausfiel, waren sie völlig hilflos. Er, Kevin, war nicht hilflos, oh nein! Er hatte eine Lösung gesucht , sie gefunden und seine Angst überwunden. Er empfand ein Hochgefühl, das den Geschmack von Freiheit hatte.

Er setzte sich etwas bequemer zurecht und gab ein wenig mehr Gas. Der Tachometer kletterte auf einhundertfünfzig, einhundertachtzig, zweihundertzwanzig. Er setzte den Blinker und wechselte auf die nächste Spur. Zweihundertfünfzig. Der Fahrtwind war jetzt nicht nur zu hören, sondern schon deutlich spürbar. Er holte einen Wagen nach dem anderen ein. Dreihundert. Jetzt begann der Wagen etwas unruhig zu werden, und Kevin bekam ein leise mulmiges Gefühl. Er nahm den Fuß vom Pedal und nickte zufrieden, genoss das Gefühl von Macht. Eine große Hinweistafel rauschte vorbei und Kevins Hochgefühl kippte unvermittelt um.

Welche Ausfahrt musste er, zum Teufel noch mal, nehmen?

Auf dem Schild konnte er „Dreieck Heumar“ lesen, aber ehe er die Namen der Städte entziffern konnte, war es schon vorbei gerauscht – er fuhr noch immer zweihundertfünfzig Stundenkilometer. Weiter vorn näherte sich ein ganzer Schilderwald, riesengroß und blau hing er über der Fahrbahn. „Aachen“ las Kevin, „A4“, „Venlo“ und „Düsseldorf“, aber es sagte ihm nichts. Natürlich kannte er die Städtenamen, aber sie halfen ihm kein Stück weiter. Seit vier Jahren fuhr er denselben Weg zur Arbeit – und er hatte nicht die geringste Ahnung, welche Abfahrt die richtige war. Wie hieß der Stadtteil, indem seine Bank ihre Brokerbüros hatte? Er wusste es nicht, er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht. Irgendwann vor ein paar Jahren hatte er dem Computer die Adresse genannt, Gustav-Straße, oder so ähnlich. Vielleicht auch Giselherstraße. Das Navigationssystem hatte ihn jeden Morgen zielsicher gelotst.

Zum ersten Mal dämmerte ihm, dass er doch nicht ganz so kritisch und hinterfragend war, wie er immer angenommen hatte. Nicht nur, dass die Navigations-Geräte seit mehr als einem Dutzend Jahren serienmäßig in jedem Wagen installiert waren – sie schalteten sich ein, sobald er angelassen wurde. Kevin konnte noch nicht einmal sagen, ob man überhaupt fahren konnte, ohne ein Ziel anzugeben. Es war ihm so sehr zur Gewohnheit geworden, dass es ihm noch nicht mal in den Sinn gekommen war.

Er versuchte sich zu erinnern, wie die Ausfahrt aussah, die er seit vier Jahren fünf Tage die Woche nahm, aber die Ausfahrten sahen alle gleich aus. So, wie die Innenstädte von Paris, Frankfurt und New York sich bis auf einige alte und berühmte Gebäude kaum voneinander unterschieden, und auch Istanbul machte hier keine echte Ausnahme: dieselben Geschäfte und Kaufhäuser und, was die moderneren Gebäude anbelangte, ein und derselbe Brei. Die neuen Viertel und Trabantenstädte konnten sowieso nicht auseinander gehalten werden.

Jetzt kam eine Ausfahrt, bei der die Schallschutzwand an einer Stelle beschädigt war und Rußflecken zeigte. Das war ihm schon einmal aufgefallen, aber wie lange dauerte es von hier aus noch? Ein, zwei weitere Ausfahrten rauschten vorbei, ohne dass er irgendetwas besonderes bemerkte, an das er sich erinnern konnte. „Klettenberg“ schnappte er auf, dann „Frechen“. Irgend ein Autobahnkreuz. „Köln-West“. Hier war er abgebogen, glaubte er. A1, das sagte ihm etwas. Er wechselte die Spur. Bis zum nächsten Kreuz – „Köln-Nord“ – sagte ihm gar nichts mehr irgend etwas.

Die Autobahn war ein ununterbrochener Cañon, der zwischen den Lärmschutzwänden dahin lief und überall gleich aussah. Irgendwo hier wurde ihm klar, dass er sich nicht zurecht finden würde. Er musste seinen Chef anrufen, er musste jemand nach dem Weg fragen. Sein Blick hing am traurigen Rest des Mobiltelefons. Als die nächste Ausfahrt heran kam, setzte er den Blinker und fuhr unter dem Schild von der Autobahn, das „Longerich“ verkündete. Das sagte ihm zwar reinweg gar nichts, aber irgendwo in der Stadt würde er schon etwas finden, das ihm weiter half.

Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!


"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-29-7

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 197  vom 13.05.2009

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