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Aktueller Online-Flyer vom 25. April 2024  

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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 3
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 195.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                                  
2. Kapitel (Fortsetzung)

Der Griff zum Handy war fast automatisch – erst auf halbem Weg registrierte er, wonach er greifen wollte. Dem Gerät, das in der Halterung hing, war zwar noch anzusehen, was es einmal gewesen war – aber genauso deutlich konnte man erkennen, dass niemand je wieder mit ihm telefonieren würde: das Display war zerbrochen, und aus den Rissen war, wie es schien, schwarze Tinte hinein geblutet. Das ganze Gerät war teilweise zerschmolzen und wirkte, als hätte man es aufgeblasen. An der Seite war ein großes, gezacktes Stück heraus gesprengt, das Loch war mit einer Schicht Ruß bedeckt. Mit spitzen Fingern nahm Kevin es am oberen Ende, wo es am wenigsten mitgenommen aussah. Es war heiß, und was er auch versuchte, es ließ sich keinen Deut bewegen – die Hitze des Blitzes hat es geradezu mit der Halterung verschweißt.


In Kevin machte sich ein mulmiges Gefühl breit. Vielleicht entstand es angesichts der Kraft, die das Gerät im Bruchteil eines Augenblicks zu einem Klumpen Plastikschrott geschmolzen hatte. Oder ihm dämmerte schon jetzt, was das eigentlich für ihn bedeutete. Vorsichtig betastete er die Windschutzscheibe da, wo sonst das Bild des Navigationssystems erschien, wenn er den Wagen startete. Sie war trüb geworden, milchig wie ein altes Auge unter Grauem Star. Und auch sie fühlte sich spürbar warm an. Aber es waren keine Risse und Sprünge darin, und als er dagegen drückte, fühlte sie sich stabil an.

„Sandra!“
Nichts.
„Computer!“

Das mulmige Gefühl wuchs an und wurde bedrohlich. Kevins Auge tastete das Armaturenbrett ab und wanderte zu der Stelle, unter dem sich, wie er wusste, der Bordcomputer befand. Eine Klappe, die in das Holz zwischen den Vordersitzen eingelassen war. Kevin schob den Finger unter den Hebel, der die Klappe verriegelte und zog. Der Deckel öffnete sich, Rauch entwich mit einem Zischen.

Kevin hatte das Gerät gesehen, als der Autoverkäufer voll Stolz die Klappe geöffnet hatte. Für Notfälle, hatte er erklärt, war es sogar mit eigenem Bildschirm und Tastatur ausgerüstet – obwohl das in Zeiten von Sprachsteuerung und Einspiegelungstechnik völlig überflüssig wäre.

Erstaunlich, an was man sich alles erinnerte: Kevin hatte sogar das aufgesetzte Lachen des schmierigen Kerls im Ohr, als er betonte, dass man ja schließlich nie wissen könne. Die Windschutzscheibe geht zu Bruch, man zieht sich eine Verletzung am Mund zu, dass man nicht mehr sprechen kann. Und dann hatte er erklärt, was das Herzstück des Wagens alles aushalten konnte. Auf welche Weise sichergestellt war, dass es unter allen Umständen weiter liefe. Der Kasten, in dem es saß, war aus Titan und genauso gut gegen Stoß, Feuer und alle denkbaren Angriffe geschützt wie die Flugschreiber der großen Passagiermaschinen.

Das, worauf Kevin schaute, hatte nichts mehr von dem Gerät, das er an diesem Tage gesehen hatte. In der Titan-Box lag ein verschmorter Klumpen, der zum Erbrechen stank und Kevin, wenn überhaupt an etwas, dann an einen Haufen Scheiße erinnerte, den jemand warum auch immer anstelle des Computers in diese Kiste geschaufelt hatte. Auf den Wänden waren rußschwarze Linien, die wie mit einem Schweißbrenner durch die stoßsichere Gummierung hindurch bis in das Metall hinein gebrannt waren. Kevin begriff, dass das Drähte gewesen sein mussten. Die Titan-Box mochte zwar wasserdicht sein – aber einen Blitz, der durch die Datenkabel gekrochen kam, beeindruckte das wenig. Kevin war nur froh, dass das Titan zwei Zentimeter dick und die Klappenverriegelung so stabil war – ansonsten hätte sich die Box wahrscheinlich in eine Splittergranate verwandelt, sagte er sich. Jetzt ging ihm auch der Sinn auf, warum sein Gehirn beim Anblick der Rechner-Reste die Erinnerungen an den Autoverkäufer so detailliert ausspuckte: Mehr aus dem Drang heraus, den Typen zu ärgern, hatte er gefragt, was er denn tun solle, wenn der Computer doch ausfallen sollte.

„Wenn er das tatsächlich tun sollte – und ich versichere Sie, er wird es nicht – dann“, hatte der Verkäufer erklärt, „können Sie den Wagen natürlich auch ganz ohne ihn fahren.“ Kevin erinnerte sich, wie der geleckte Typ die Nase gerümpft hatte. „Es gibt in der Tat so altmodischer Herren, die darauf bestehen, auf diese Art zu fahren. Die wollen sogar solche unnötigen Dinge tun, wie selber das Getriebe mit einem Schaltknüppel zu steuern.“ Wie es der Verkäufer vorgemacht hatte, tastete Kevin an den Seiten der hölzernen Bank zwischen den Vordersitzen entlang, fand die Druckpunkte und entfernte die Paneele. Die Innenseiten der Verkleidung waren eng bedruckt, aber Kevin achtete nicht darauf, sondern schaute zufrieden auf das, was darunter zum Vorschein kam. Ein Schaltknüppel nämlich, ganz so, wie Kevin es von alten Wagen kannte. Seitlich versetzt sah er das Schloss, in das er das stecken musste, was der Verkäufer Zündschlüssel genannt hatte.

"Navigator", "Schlüssel zur Freiheit" Illustration: Björn „The Hoink” Zutt
Illustration: Björn „The Hoink” Zutt                       
Kevin war dem Verkäufer plötzlich dankbar – denn es war sein so unglaublich verächtlicher Gesichtsausdruck gewesen, der Kevin dazu gebracht hatte, sich diesen Zündschlüssel zeigen zu lassen und ihn genau anzuschauen. Und ihn schön zu finden. Er war in seinen geliebten Büchern so oft Schlüsseln begegnet oder sie in Filmen gesehen. Und immer hatte er denken müssen, dass so ein Schlüssel etwas Zauberisches hatte: Ein Ding, das dem, der es besaß, Zugang zu geheimen Dingen und Orten verschaffte, die niemand sonst sehen durfte. Heute öffneten sich Türen mit dem richtigen Fingerabdruck, der richtigen Netzhaut, oder wie in Ali Baba und die vierzig Räuber auf das richtige Passwort hin mit dem richtigen Stimmmuster. Oder auf den richtigen Zahlencode des RFID-Chips, den seit einem Dutzend Jahren jeder in die Haut des Unterarms implantiert trug.


Schlüssel, die man anfassen konnte, waren selten. Schlüssel, die mit metallisch schwerem Gewicht in der Hand lagen und deren komplizierte Muster man mit dem Finger nachfahren konnte, um sich dabei vorzustellen, dass diese eine und einmalige Folge von Zacken und Rundungen, Kerben, Schlitzen und Nuten nur in ein einziges Schloss passte. Der Gedanke hatte etwas Romantisches, etwas, das Kevin gefiel, das ihn lockte. Lockte wie die Vorstellung, das es da draußen eine Frau geben könnte, zu der er gerade so passte wie der Schlüssel in das einzig rechte Schloss.

Kevin griff unter sein Hemd und holte den Zündschlüssel heraus, den er an einer Kette um den Hals trug. Der Talisman hatte ihm zwar bisher nicht im geringsten gebracht, was er sich erhofft und was ihm auch der bestbezahlteste Bankjob nicht zu geben vermocht hatte – aber jetzt war er sehr froh darüber, diese kleine abergläubische Vernarrtheit gepflegt zu haben. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn.

"Navigator", "Schlüssel zur Freiheit" Illustration: Björn „The Hoink” Zutt

Illustration: Björn „The Hoink” Zutt

Der Wagen gab ein äußerst ungesundes Geräusch von sich und machte einen Satz nach vorn. Irgendetwas in den Gedärmen aus Zahnrädern jaulte schrill. Kevin wurde gegen das Armaturenbrett geschleudert und mit einer panischen Bewegung drehte er den Schlüssel wieder herum. Das Jaulen erstarb sofort.

Im Sitz verdreht, mit schmerzender Schulter, sagte Kevin zu sich selbst: „Zumindest scheint er noch zu fahren.“ Er erinnerte sich an die bedruckten Innenseiten der Paneele, die den Schaltknüppel verborgen hatten und nahm sie zur Hand. Mit vielen Bildern und einer Sprache, die sich an begriffsstutzige Kretins zu wenden schien, war erklärt, wie der Wagen manuell zu bedienen war. Kevin erschien das nicht allzu schwer, zumal es sich um ein Automatikgetriebe handelte und er sich um Dinge wie Kupplungen nicht zu kümmern brauchte. Er atmete tief durch, legte die Hand fest ans Lenkrad, den Fuß auf die Bremse und stellte den Schalthebel auf die Position, die mit einem großen „P“ versehen war. Seine Finger schlossen sich um den Zündschlüssel, und sich innerlich gegen den Satz wappnend, den der Wagen vielleicht tun würde, drehte er ihn im Schloss herum.

Der Wagen bockte nicht nach vorn, sondern gab nur das leise Schnurren des anlaufenden Elektromotors von sich. „Na also“, sagte Kevin und war zufrieden mit sich. Er studierte die Armaturen, die er nie wirklich beachtet hatte, deren Sinn ihm aber jetzt zu dämmern begann. Drehzahlmesser, Wasserstoff-Vorrat, verschiedene Warnzeichen. Etliche von ihnen leuchteten in unangenehm grellem Rot. Auf einer war eine stilisierte Karte zu sehen, auf einem anderen ein Computer, eine dritte zeigt ein großes „A“. Für „Automatik“, wie er der Grafik auf einer der Paneelen entnahm. Alle Warnzeichen bezogen sich auf die Bordelektronik, die, wie er sich sagte, nicht notwendig für die eigentliche Funktion des Fahrzeugs war – nämlich zu fahren.

Er nahm den Fuß von der Bremse und setzte ihn vorsichtig auf das Gaspedal. Seine Handfläche war schwitzig, stellte er fest, als er sie um den Knauf des Schaltknüppels legte und ihn zu sich hinzog, bis er einrastete. Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung, Kevin senkte den Fuß und schob den Knüppel in die nächste Position, sobald der Drehzahlmesser in den richtigen Bereich kam. Er probierte die Bremsen – sie gingen ungewohnt schwer, aber wenn er mit genügend Kraft trat, bremste der Wagen wie gewohnt. Etwas gewöhnungsbedürftiger war die Lenkung – auch hier musste er Kraft aufwenden, und die spielerische Leichtigkeit, mit der das Lenkrad zu bewegen gewesen war, war dem Gefühl gewichen, dass er wirklich mit seiner Muskelkraft die Position der Räder veränderte. Auch wenn es ungewohnt und ein wenig anstrengend war, gefiel ihm das Gefühl: Hier waren nur er und der Wagen, und der Wagen machte nur, wozu er ihn mit seinen Muskeln zwang. Er holte tief Luft, trat das Pedal ganz hinunter, setzte den Blinker und lenkte auf die Fahrbahn zurück.

Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!


"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-29-7

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 196  vom 06.05.2009

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