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Inland
60 Jahre Grundgesetz - 60 Jahre Warten auf bundesweite Volksentscheide
Feierliche Rückblicke genügen nicht
Von Anne Dänner

Bonn, 23. Mai 1949: Der Präsident des Parlamentarischen Rates Konrad Adenauer verkündet in einer feierlichen Sitzung das Inkrafttreten des Grundgesetzes. Elf Ministerpräsidenten – die der Länder in den drei westlichen Besatzungszonen – haben das Dokument unterzeichnet. Das Fundament hatte 1948 der Verfassungskonvent, ein Ausschuss von Sachverständigen und Wissenschaftlern gelegt. 60 Jahre später schauen wir in Gedenkveranstaltungen, Festreden und Medienberichten stolz auf die Errungenschaften, die wir den 66 Vätern und 4 Müttern des Grundgesetzes verdanken. Doch zurückzublicken genügt nicht...

Konstituierende Sitzung des Parlamentarischen Rats, 1948
Quelle: www.bundestag.de
 
Die lang versprochene Staatsgewalt
 
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, so steht es seit 60 Jahren in Artikel 20 (2) unserer Verfassung, deren Jubiläum jetzt wortreich gefeiert wird. Nur selten hält jemand inne und denkt darüber nach, was da eigentlich gesagt ist. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus…von uns allen also und nicht von einigen wenigen. Den Menschen, die 1989 auf die Straße gegangen sind und mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ die friedliche Revolution eingeleitet haben, war diese Grundidee deutlich bewusst. Wir sind das Volk…das gilt auch 20 Jahre nach dem Mauerfall. Doch wie üben wir sie nun eigentlich aus, die Staatsgewalt? Auch darüber haben sich die 70 Abgeordneten des Parlamentarischen Rates Gedanken gemacht: Die Staatsgewalt – so besagt Art. 20 (2) weiter – „wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt.“
 
Was heißt eigentlich "Abstimmungen“?
 
Abstimmungen? Die meisten Menschen – so sie nicht gerade selbst direktdemokratisch aktiv sind oder in Berlin und Hamburg leben, wo es Volksbegehren mittlerweile regelmäßig in die Medien schaffen – werden darüber schlicht hinweglesen. Wer Demokratie gestalten will, muss wählen gehen. Punkt. Wer sich von den Volksvertreterinnen und -vertretern nicht vertreten fühlt, geht irgendwann nicht mehr wählen. Und äußert seine Unzufriedenheit mit denen da oben, die ja ohnehin machen, was sie wollen. Das liest sich dann so: „Jeder Dritte glaubt nicht mehr an die Demokratie“ (Medienberichte zur Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung im Juli 2008). Die Deutschen seien „demokratiemüde“ und die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in der Bundesrepublik „besorgniserregend niedrig“ (die Herausgeber des Datenreports 2008). Auch wenn solche Umfragen die Realität nie eins zu eins abbilden, zeigen sie doch, dass viele Menschen in Deutschland ganz und gar nicht das Gefühl haben, die Staatsgewalt gehe vom Volke, also von ihnen, aus.
 
Wählen allein genügt nicht
 
Ein Grund dafür ist die Vernachlässigung der im Grundgesetz angelegten „Abstimmungen“, die neben den Wahlen noch immer ein Schattendasein fristen. Warum ist auf Bundesebene nicht möglich, was auf Landes- und Kommunalebene funktioniert? In mittlerweile allen Bundesländern können Bürgerinnen und Bürger auch zwischen den Wahlen per Volks- und Bürgerbegehren über politische Sachfragen mitentscheiden. Warum wurde im Grundgesetz die Voraussetzung für bundesweite Volksentscheide geschaffen, ohne die Volksgesetzgebung tatsächlich in die neue Verfassung aufzunehmen?
 
Die diffuse Angst vor dem Volk
 
Wer Angst vor der verantwortungslosen, manipulierbaren und kurzsichtigen Masse oder schlicht keine Lust hat, durch die Einmischung von Nicht-Fachleuten in seiner Arbeit gestört zu werden, kann als Antwort auf diese Frage auf ein Standard-Argument zurückgreifen: Die schlechten Weimarer Erfahrungen sind es, die Väter und Mütter des Grundgesetzes dazu bewogen haben, den Deutschen auf nationaler Ebene keine direktdemokratischen Mitspracherechte mehr einzuräumen. Dass die These vom Scheitern der Weimarer Republik durch Volksabstimmungen der historischen Prüfung gar nicht standhält, ist dabei zweitrangig. Wer sich damit nicht zufrieden geben will, kann der Frage nachgehen, was es mit der Angst vor dem bundesweiten Volksentscheid wirklich auf sich hat, so wie es Privatdozent Dr. Otmar Jung getan hat.
 
Reise zu den Ursprüngen des Grundgesetzes
 
Der für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte habilitierte Wissenschaftler begab sich Ende der 1980er Jahre auf Entdeckungsreise zu den Anfängen des Grundgesetzes. Er fand heraus, dass die Weimarer Erfahrungen in der Nachkriegszeit keineswegs als Argument gegen Volksentscheide galten. Das Misstrauen gegenüber direkter Demokratie war lange nicht so groß, wie die Gegner von Volksentscheiden uns glauben machen wollen. So enthielten alle Landesverfassungen, die 1946/47 in der Amerikanischen, Französischen und Sowjetischen Besatzungszone geschaffen wurden, Elemente der direkten Demokratie. 
 

Max Reimann (KPD) – Mitglied des Parlamentarischen Rats
Quelle: www.parlamentarischerrat.de
 
Dass man sich beim Verfassungskonvent 1948 und später im Parlamentarischen Rat dann gegen alle Formen direkter Demokratie entschied, erklärt Jung vor allem mit der Angst vor SED und KPD. Denn diese hatten im Kalten Krieg begonnen, Plebiszite zu Themen wie Wirtschaft, Verfassung und nationaler Frage für sich zu nutzen und ihre Gegner auf außerparlamentarischem Weg anzugreifen.
 
Wo bleibt der bundesweite Volksentscheid?
 
Was die Eltern des Grundgesetzes demnach nicht im Sinn hatten, war ein “Verbot“ direkter Demokratie auf Bundesebene. „Die ‚Vision’ der Gründer der Bundesrepublik für später war eindeutig“, schreibt Jung. „Wenn die Kommunisten domestiziert wären und die Teilung überwunden sei, sollte auf dem überlieferten Wege einer Nationalversammlung und/oder Volksabstimmung eine deutsche Verfassung gegeben werden, die dann selbstverständlich auch Elemente direkter Demokratie enthalten würde.“ Inzwischen sind beide Voraussetzungen erfüllt und so müssen sich Politikerinnen und Politiker fragen lassen, wann das Versprechen bundesweiter Volksentscheide endlich eingelöst wird.
 
Wir warten immer noch…
 
Seit 20 Jahren kämpft “Mehr Demokratie“ für die Einführung direkter Demokratie auf Bundesebene. 2002 ist uns bereits ein großen Schritt in diese Richtung gelungen: Erstmals stimmt eine Mehrheit im Bundestag für den von SPD und Grünen eingebrachten Gesetzentwurf. Doch die Konservativen blockieren und so kommt die notwendige Zweidrittel-Mehrheit nicht zustande. Nach der Wiederwahl 2002 verspricht Rot-Grün einen neuen Anlauf, aus dem aber nie etwas wird. 80 Prozent aller Bundesbürger, die sich laut Forsa-Umfrage von 2006 bundesweite Volksentscheide wünschen, warten vergeblich. 2006 bringen FDP, Grüne und die LINKE jeweils eigene Gesetzentwürfe in den Bundestag ein. Erst vor wenigen Wochen hat der Innenausschuss darüber beraten. Das Ergebnis: Ablehnung. Und das, obwohl sich mittlerweile auch die CSU des Themas Volksentscheid annimmt – und dabei hoffentlich mehr im Sinn hat, als den EU-Beitritt der Türkei per Bürgervotum zu verhindern.
 
Wer hat Angst vorm Volksentscheid?
 
Ein bisschen erinnert die Kluft zwischen Sonntagsreden und Rückziehern im Ernstfall an das Kinderspiel „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“: Am einen Ende des Spielfelds stehen die Bürger und rufen: „Wer hat Angst vorm Volksentscheid?“ „Niemand“, antworten vom anderen Ende die Politiker im Brustton der Überzeugung. „Und wenn er kommt?“ fragen die Bürger. „Dann laufen wir“, rufen die Politiker und verschwinden in alle Richtungen statt endlich konsequent für direkte Demokratie einzutreten.
 
Dieses Davonlaufen und Aus-der-Verantwortung-Stehlen muss ein Ende haben. Und deshalb wollen wir 2009 nicht nur feiern, sondern zugleich mit der Kampagne „Volksentscheid ins Grundgesetz“ die Demokratie weiterentwickeln. Unser großes Ziel ist es, nach der Bundestagswahl am 27. September eine belastbare Aussage zum bundesweiten Volksentscheid in den Koalitionsvertrag zu bekommen.
 
Kampagne: Volksentscheid ins Grundgesetz
 
Vielen Menschen reicht es nicht, alle paar Jahre ihre Stimme im doppelten Wortsinn abzugeben und während der Legislaturperiode zuzuschauen. Auf diese Menschen setzen wir 2009. Rund um dem 60. Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai nehmen wir an Diskussionsveranstaltungen teil, starten Aktionen und sammeln Unterschriften für den bundesweiten Volksentscheid. Zur Europawahl im Juni planen wir eine selbst organisierte Volksabstimmung in einer Muster-Gemeinde, mit der wir zeigen wie der Informations- und Meinungsbildungsprozess im Vorfeld eines Volksentscheids abläuft. Vor allem aber wollen wir den Wählerinnen und Wählern bei der Bundestagswahl 2009 Gelegenheit geben, ihre Stimme gezielt für die bundesweite Volksabstimmung abzugeben. Mit einem Wahlkreis-Flugblatt werden wir deutschlandweit darüber informieren, wie die Direkt-Kandidatinnen und -Kandidaten zum Volksentscheid stehen.
 
Demokratie ist anstrengend
 
Für einen Verein mit etwas über 5.000 Mitgliedern und einem festen Stab von gut 30 Leuten ist das ein organisatorischer Kraftakt, der nur gelingen kann, wenn Bürgerinnen und Bürger auch außerhalb von “Mehr Demokratie“ mitziehen. Wählen gehen allein reicht nicht. Nicht wählen gehen allerdings auch nicht. Wer wirklich etwas verändern will, muss das Gespräch mit anderen suchen, auf sein Anliegen aufmerksam machen und für seine Überzeugung auf die Straße gehen. „Demokratie ist kein Sofa“, hat mal ein kluger Mensch gesagt. Demokratie ist anstrengend. Aber Demokratie – und besonders direkte Demokratie – kann auch Spaß machen und Sinn stiften. Zuletzt haben wir das bei unserer Kampagne für ein faires Wahlrecht in Hamburg gemerkt. Viele sind bereit, einen kleinen Schritt hin zu einer Verbesserung unserer Demokratie zu tun, wenn man sie gezielt anspricht. Viele wollen sich den Frust von der Seele reden, der sich in all den Jahren, die sie in einer Zuschauer-Demokratie gelebt haben, aufgestaut hat.
 
Endlich mitreden – auch bei großen Themen
 
Wo die Menschen mitbestimmen dürfen, nutzen sie diese Möglichkeit auch. Allein 2008 gab es 44 von unten angestoßene direktdemokratische Verfahren auf Landesebene. Die Menschen melden sich zu ganz unterschiedlichen Themen zu Wort: Sie begehren auf gegen neue Kraftwerke und Tagebaue, fordern Wahlrechtsreformen, den Ausbau von Kindertagesstätten oder ein Schulsystem, das größere Chancengleichheit gewährleistet. Dass die Bürger mit Minderheiten oder öffentlichen Geldern verantwortungsloser umgehen als die Politik, hat bisher noch keine Studie belegen können. Im Gegenteil: Schweizer Wirtschaftswissenschaftler haben herausgefunden, dass dort, wo die Bürger häufig per Finanzreferendum über öffentliche Ausgaben entscheiden, die Haushaltslage stabiler ist als dort, wo nur selten über die Finanzen abgestimmt wird.
 
60 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes wird es höchste Zeit, dass Bürgerinnen und Bürger auch in Deutschland endlich ein Wort mitreden dürfen, wenn es um die wirklich spannenden Themen wie Steuerpolitik, Ökologie oder soziale Gerechtigkeit geht. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hätten da sicher keine Bedenken. (PK) 
 
Informationen zur Kampagne Volksentscheid ins Grundgesetz:
http://www.mehr-demokratie.de/kampagne.html
Helfen Sie mit: http://www.mehr-demokratie.de/mitmachen.html 

Online-Flyer Nr. 194  vom 18.04.2009

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