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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Aktuelles
Über die Ursachen des Gaza-Kriegs
Israels Verantwortung
Von Yacov Ben Efrat

Mein Artikel „Israels Krieg gegen Gaza: Damit die Besatzung weitergeht“ hat zu meiner Überraschung zahlreiche Reaktionen hervorgerufen, darunter auch solche, die meine Einschätzung, dass die Verantwortung allein bei Israel liegt, ablehnen. In einem solch kurzen Artikel war es zugegebenermaßen nicht möglich, eine umfassende Analyse dieses Krieges vorzulegen, dessen Wurzeln bis 1967 zurückreichen. Ich musste mich daher in manchen Punkten auf allgemeine Aussagen beschränken, die möglicherweise einer etwas ausführlicheren Erläuterung bedürfen.

Studenten in Tel Aviv unterstützen den Gaza-Krieg 2009 Foto: lilachd
Zynische Gehirnwäsche: „Hamas, hör auf,
Israel in Kämpfe zu verwickeln...“ Studenten    
in Tel Aviv unterstützen den Gaza-Krieg 2009
Foto: lilachd
Der gängigen Meinung zufolge hat Israel sich 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen und alle dortigen Siedlungen geräumt. Gleichwohl hat die Hamas weiter Raketen auf israelische Städte im Negev abgefeuert. Es stehe fest, dass eine solche Verletzung staatlicher Souveränität nicht ohne Reaktion bleiben könne; daher sei die gegenwärtige Militäroperation gerechtfertigt, selbst um den Preis zahlreicher Toter, auch wenn sich unter diesen viele unschuldige Menschen befänden.

Weiter behaupten jene, die meine Position ablehnen, ich würde die Hamas-Regierung von jeglicher Verantwortung freisprechen, sei es, weil ich von einem Hass auf Israel als Eroberer und Besatzer angetrieben sei, oder weil die Palästinenser so unterdrückt seien, dass sie für ihre Handlungen keine Verantwortung trügen. Ich möchte daher klar sagen, dass ich, wenn ich die Verantwortung ausschließlich bei Israel sehe, über die Verbrechen der anderen Seite nicht hinwegsehe. Seit 1993 hat die palästinensische Führung jeden nur möglichen Fehler gemacht. Sie hat sich bereit erklärt, das Oslo-Abkommen zu unterzeichnen, welches den Palästinensern weder einen unabhängigen Staat noch eine Räumung der Siedlungen versprochen hat. Sie hat ein korruptes, mit der Besatzung kollaborierendes Regime etabliert. Sie hat das Vertrauen ihrer Bevölkerung verloren, diese hat sich der extremistisch-religiösen Bewegung zugewandt, der Hamas.

Wahlkampfveranstaltung der Hamas in Ramallah Scheich Yasin und Rantisi Foto: hoheit
Wahlkampfveranstaltung der Hamas in Ramallah, auf dem Transparent die „Märtyrer“ Scheich Yasin und ehem. Hamas-Führer Rantisi | Foto:Hoheit

Die Hamas, die als Belohnung für das Märtyrertum das Paradies verspricht, hat einen totalen Vernichtungskrieg gegen Israel begonnen. Sie benutzt den bewaffneten Kampf, insbesondere um die Macht in der Palästinensischen Autonomiebehörde, der PA, zu übernehmen, aber auch um ihr Ansehen unter den Palästinensern zu heben, die inzwischen völlig ohne Hoffnung sind. Die Hamas hält sich für die Speerspitze der Islamischen Erweckung. Sie betrachtet ihre Machtübernahme in Gaza im Juni 2007 als einen Schritt auf dem Marsch der Muslim-Bruderschaft zur Eroberung der gesamten Region zwischen Ägypten und Jordanien, Syrien und Saudi Arabien.

In der Tat kann es so aussehen, als seien die Arroganz ihrer Führer und ihre strategischen Entscheidungen von Judenhass motiviert, doch einen möglicherweise sogar größeren Hass hegt die Hamas gegen die weltlichen arabischen Regime. Diese sind für sie ein ebenso tödlicher Feind wie Israel – vielleicht noch tödlicher. Die grausame Gewalt bei der Übernahme Gazas war Ausdruck dieses Hasses.

Israelischer Panzer im Anmarsch Montage: Heinrici Fotos: Lewy, lior34
Machtdemonstration mit Bodentruppen            
Montage: Heinrici | Fotos: Lewy, lior34
Wenn all dies stimmt, warum soll dann allein Israel die Schuld tragen? Der Grund ist einfach: Es lag und liegt ausschließlich in der Macht Israels, das zu verhindern, was in Gaza geschehen ist und geschieht. Israels wirtschaftliche und militärische Macht ist weitaus größer als die der PA. Doch während der Jahrzehnte der Besatzung hat Israel alles getan, um eine palästinensische Entwicklung zu hintertreiben. Während seiner Herrschaft über Gaza hat es das Land in jene Armut und Rückständigkeit gedrängt, die wir heute sehen. Das ist eine Tatsache, die durch die Anwendung von Gewalt nicht besser wird.

Rabin, Clinton, Arafat Friedensverhandlungen '93 Foto: Vince Musi
Rabin, Clinton, Arafat – „Friedens-
verhandlungen“ 1993 | Foto: Vince Musi
Darüber hinaus hat Israel das Oslo-Abkommen als Sprungbrett benutzt, um seine Kontrolle über die Westbank zu festigen. Während es mit den Palästinensern verhandelte, gestattete es zugleich das Entstehen neuer Siedlungen, baute auf jeden Hügel einen Außenposten und weitete die Siedlungsviertel um Jerusalem massiv aus. (Auf diese Art und Weise schnitt es die Stadt vom Rest der Westbank ab und teilte letztere in zwei Teile.)

Ohne Skrupel verschloss Israel Tausenden palästinensischer Arbeitspendler seine Tore; zuvor hatte es den einheimischen palästinensischen Markt jahrzehntelang mit seinen eigenen Waren überflutet und die Entwicklung der Wirtschaft, in der die Palästinenser hätten Arbeit finden können, blockiert. Israel hat die Erwerbslosigkeit und Armut unter Palästinensern in einem Maße verstärkt, das jenem der ärmsten Länder des Trikonts gleichkommt. Die fehlende Arbeitskraft hat es durch den Import von Migranten kompensiert, die zu sklavenähnlichen Bedingungen ausgebeutet werden. Zudem hat Israel bei der Etablierung einer korrupten PA mitgewirkt, mit deren Hilfe es alles kontrollierte, was in den Besetzten Gebieten geschah.

Der „Frieden“ von Oslo, dieses wacklige Gebilde, kollabierte Ende September 2000, nach Ariel Sharons provokativem Ausflug auf das Gelände der al Aqsa Moschee. Kurze Zeit später wählten Israelis denselben Sharon zum Premierminister. In seiner neuen Eigenschaft beschloss dieser, die PA zu Fall zu bringen und Yasser Arafat, ihren Präsidenten, zu isolieren. Mit dem Tod Arafats saß die PA in der Scheiße. Das Vakuum füllte die Hamas, die ihren Weg zur Macht mit der Durchführung von Selbstmordattentaten in israelischen Städten gepflastert hatte. Israels Antwort war der Bau der Sperranlage, die Fokus heftiger Auseinandersetzungen bleibt. Als alles nichts half, legte Sharon jene Idee auf den Tisch, die Kern des gegenwärtigen Konflikts ist: der unilaterale Rückzug aus Gaza.

Ariel Sharon Donald Rumsfeld 2001 Pentagon Foto: R. D. Ward
Besuch Sharons bei Freund Rumsfeld im Pentagon 2001 | Foto: R. D. Ward

Warum unilateral? Warum war Israel nicht so schlau, diesen wichtigen Schritt dazu zu benutzen, eine umfassende Übereinkunft mit der PA zu erzielen? Die Antwort ist, dass Sharon über das Schicksal von Westbank und Jerusalem nicht verhandeln wollte. Im Gegenteil, er wollte Gaza loswerden, um seine Kontrolle über den größten Teil der Westbank zu stärken .

Da der Rückzug aus Gaza im August 2005 als unilaterale Maßnahme stattfand, führte er zu einer weiteren Schwächung des Präsidenten der PA, Mahmud Abbas, und dessen Fatah-Bewegung. Die Hamas gewann die Parlamentswahlen im Januar 2006. Kurz gesagt, der unilaterale Rückzug – der von allen Knessetmitgliedern des Zentrums, der Linken und der arabischen Parteien unterstützt wurde – gab den Anstoß für den jetzigen Krieg. LeserInnen von Challenge und ihrer hebräischen Schwester Etgar werden sich erinnern, dass wir den unilateralen Ansatz nachhaltig abgelehnt haben, weil wir voraussahen, was kommen würde.

Heute ist Israels Regierung zu dem Schluss gekommen, dass es wieder niemanden gibt, mit dem man reden kann. Es hat zwei Jahre mit sinnlosem Geschwätz mit Abu Mazen [1] verschwendet, bei dem beide Seiten dasitzen und einen virtuellen palästinensischen Staat entwerfen. Der tatsächliche Zweck solch nutzloser Gespräche ist es, den Tag der Abrechnung hinauszuzögern. Israelische Führer erklären die Unfruchtbarkeit der Gespräche auf eine Art und Weise, die sie ziemlich logisch erscheinen lässt: Abu Mazen ist schwach, die Hamas regiert Gaza mit Gewalt, und es gibt keinen echten Partner. Doch wir bestehen weiter auf unserer Frage: Wer trägt die Hauptverantwortung dafür, dass dies so ist?

Olmert, Rice, Abbas 2007 Foto: MattyStern
„Volle Hände und leere Gespräche“: Olmert, Rice, Abbas 2007
Foto: Matty Stern

Wenn wir die Frage nach der Verantwortung stellen, beziehen wir uns nicht nur auf das, was Israel in der Vergangenheit hätte tun können und nicht getan hat. Wir stellen auch die Frage, was hier und heute getan werden kann, ehe die Panzer die Zäune durchbrechen und mehr Zerstörung bringen. Wir fordern von Israel, dass es sich sofort verpflichtet, sich aus allen seit 1967 besetzten Gebieten zurückzuziehen, und dass es seine Bereitschaft zu Gesprächen mit jedem palästinensischen und arabischen Vertreter erklärt, der bereit ist, den Konflikt zu beenden.

bethlehem stacheldraht Foto: arbeiterfotografie.com
Eingesperrtes Land – die Mauer bei
Bethlehem | Foto: Arbeiterfotografie
In dem Augenblick, in dem sich Israel hierzu verpflichtet, wird die Hamas-Regierung die Unterstützung der Bevölkerung verlieren – sollte sie sich nicht drastisch ändern. Eine solche Verpflichtung Israels wird es den Palästinensern ermöglichen, eine Führung zu wählen, die auch mandatiert ist, Friedensgespräche aufzunehmen. Die Sperranlage wird fallen und die völlig gestörten Beziehungen zwischen den beiden Völkern werden sich zu normalen Beziehungen zwischen zwei Staaten wandeln.

Doch solange Israel sich weigert, sich zu einem solchen Vorgehen zu verpflichten, so lange es versucht, seine Kontrolle über die Westbank und Gaza auf Biegen und Brechen aufrecht zu erhalten, solange es die Ein- und Ausgänge kontrolliert und den Bau eines Flughafens oder Hafens verhindert, solange der Shin Beth [2] das Leben in den Besetzten Gebieten fernsteuert, solange hat Israel nicht das moralische Recht, Massaker an Palästinensern zu begehen. Es hat kein Recht, seine Souveränität zu verteidigen, wenn es dem Volk nebenan die Souveränität verweigert. Schlimmer noch, das Blutvergießen ist nutzlos. Solange die Besatzung besteht, wird es auch Widerstand geben. Das ist die Lektion, die israelische Regierungen sich hartnäckig zu lernen weigern. (CH)


Erläuterungen der Redaktion:
[1] Anderer Name für Mahmud Abbas, in der arabischen Welt geläufig.
[2] Israels Inlandsgeheimdienst

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Yacov Ben Efrats Erläuterungn zum Hintergrund des Gaza-Kriegs erschienen im Original bei „Challenge“, einem von Arabern und Juden gemeinsam herausgegebenen Magazin über den israelisch-palästinensischen Konflikt.
Aus dem Englischen von Endy Hagen | www.challenge-mag.com


Online-Flyer Nr. 179  vom 07.01.2009

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