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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Kultur und Wissen
68er Fragen und Antworten – Teil 1
„68er Köpfe“
Von der Arbeiterfotografie und Christian Heinrici

Bis zum 19. Oktober ist sie noch zu sehen, die Ausstellung der Arbeiterfotografie „68er Köpfe“ in der Alten Feuerwache in Köln: Menschen die sich vor vierzig Jahren an den Schulen, Unis oder in den Betrieben politisiert haben und die nicht aufgehört haben zu kämpfen. Die Ausstellung zeigt in großformatigen Portraits teilweise prominente Vertreter der Generation in ihrer heutigen Umgebung, ihrem Aktionsfeld: in diesem ersten Teil unserer Dokumentation Vertreter der schreibenden Zunft.

Mit ihrer Ausstellung legt die Arbeiterfotografie ein eindrucksvolles Dokument der Rebellion vor – damals wie heute. In dem hier veröffentlichten Fragenkatalog geben die Portraitierten Auskunft über ihre Motivationen, Aktivitäten, Ereignisse, die sie besonders geprägt haben, Ziele, Wirkung und Rezeption der 68er Jahre, und wie es sich für den Geist der Rebellion gehört: kritisch. Und, allen dieses Jahr von vielen Mainstream-Medien hervorgequakten Unkenrufen zum Trotz, diese Generation hat etwas vorzuweisen: Einen wichtigen Schritt zu mehr Emanzipation, Demokratisierung, Offenheit und Transparenz auf breiter gesellschaftlicher Ebene.

„68er Köpfe“ hat ohne Zweifel zeitdokumentarischen Wert, doch die Fragen und die Antworten der Exponenten weisen in die Gegenwart und in die Zukunft, die es noch zu gestalten gilt. Die Ausstellung mit Fotografien von Anneliese Fikentscher, Senne Glanschneider, Hans-Dieter Hey, Andreas Neumann, Karin Richert und Gabriele Senft, hat auch der Kinder- und Enkelgeneration etwas zu sagen und wird hoffentlich noch in anderen Zusammenhängen zu sehen sein.

Die NRhZ zeigt in den kommenden Ausgaben weitere Fotografien aus „68er Köpfe“ und in diesem ersten Teil die Antworten auf den Fragenkatalog der Fotografen. Sehen Sie auch dazu die Fotogalerie in der NRhZ 167.
(CH)


Werner Rügemer
„Nochmal, aber besser!“


Werner Rügemer 68er Köpfe Ausstellung Arbeiterfotografie Köln
Foto: Anneliese Fikentscher

1. Was war damals (um 1968) persönlicher Auslöser, Dein Umfeld und Deine Hauptaktivität?

Für mich gab es keinen bestimmten Auslöser, ich beschäftigte mich seit etwa 1964 als Student an den Universitäten München und Tübingen mit Philosophie, Zeitgeschichte, Entwicklungsländern, Nationalsozialismus, USA, Vietnam, CDU-Regierung u.ä.

2. Was ist für dich ein für die 68er-Zeit besonders typisches persönliches Erlebnis?


1968/1969 studierte ich in Paris und wohnte bei einem Exil-Vietnamesen, der auch desertierte US-amerikanische Soldaten aufnahm. Wir schliefen in einfachen Betten, benutzten den selben Kühlschrank und streiften durch Paris.

3. Was war damals das Wichtigste, was es deiner Meinung nach zu erreichen galt?

Demokratie in Deutschland und weltweit.

4. Was hat die 68er-Bewegung tatsächlich erreicht?

Als solche hat die 68er Bewegung nichts Gemeinsames erreicht; es gab und gibt ganz unterschiedliche Entwicklungen und Ausgänge. Die von 1968 ausgehende Lockerung der Verhältnisse hat Linke und Rechte, Demokraten und Anti-Demokraten, Wendehälse und Opportunisten hervorgebracht, hat auch den herrschenden Kräften „neues Blut“ zugeführt, in Medien, Parteien, Unternehmen.

Werner Rügemer 68er Köpfe Ausstellung Arbeiterfotografie Köln
Foto: Anneliese Fikentscher

5. Welches sind wesentliche Ziele, bei denen du ein Scheitern der 68er-Bewegung siehst? Und wie kam es dazu?

Bei allen wesentlichen demokratischen Zielen kam es zu einem Scheitern, wenn man dies an der realen Durchsetzung misst. Das kam daher, dass die 68er Bewegung zu klein, zu unerfahren und zu unwissend war und die Gegenkräfte nicht immer in ihrer wahren Macht und ihren Methoden sichtbar waren bzw. erkannt wurden. Ein weiterer Grund für das Scheitern waren die oben genannten zahlreichen Wendehälse u.ä. und die auf Dauer sehr geschickten und materiell gewichtigen Integrationspraktiken der alten Eliten.

6. Womit ist damals versucht worden, die 68er-Bewegung zu Fall zu bringen?

Mediale Hetze verbunden mit medialer Integration, Focus auf ein paar wenige „führende Köpfe“ wie Dutschke, Cohn-Bendit und Teufel/Langhans, Bekämpfung durch Polizei, Diffamierung und Falschdarstellung.

7. Womit wird heute im nachhinein versucht, die Auswirkungen der 68er-Bewegung kaputt zu machen?

Durch selektive Identifikation mit „Kommune“, mit antiautoritärer Erziehung und heute besonders mit der dämlich-elitär-verbrecherischen RAF.

8. Wo und wie siehst du für heute die Notwendigkeit einer ähnlichen Bewegung wie 1968? Was möchtest du der heute jungen Generation vermitteln?

Eine „ähnliche Bewegung“ ist notwendig, die aber aus den obengenannte Umständen gelernt haben müsste. In meiner Nach-68er bzw. Nach-89er Arbeit versuche ich nicht nur der „jungen“, sondern auch der „alten“ Generation zu vermitteln, wie der Gegner und seine finanziellen, ökonomischen und politischen Praktiken wirklich aussahen und aussehen.



Wolfgang Bittner
„Gegen latenten Faschismus, für demokratische Verhältnisse“


Wolfgang Bittner 68er Köpfe Ausstellung Arbeiterfotografie Köln
Foto: Andreas Neumann          

1. Was war damals (um 1968) persönlicher Auslöser, Dein Umfeld und Deine Hauptaktivität?


Unzufriedenheit mit den universitären und den gesellschaftlichen Verhältnissen. Ich habe in der Zeit von 1966 bis 1970 studiert, hatte allerdings als Werkstudent wenig Zeit, mich politisch zu engagieren; ich habe an Diskussionen, Studentenversammlungen und Demonstrationen, u.a. gegen den Vietnamkrieg, teilgenommen.

2. Was ist für dich ein für die 68er-Zeit besonders typisches persönliches Erlebnis?

Wie die Polizei in München eine friedliche Demonstration mit brutaler Gewalt aufgelöst hat. Beeindruckend fand ich die Zivilcourage vieler Demonstranten.

3. Was war damals das Wichtigste, was es deiner Meinung nach zu erreichen galt?

Bessere Studienbedingungen, friedlichere, gerechtere und vernünftigere Verhältnisse in Staat und Gesellschaft.

4. Was hat die 68er-Bewegung tatsächlich erreicht?

1968 ist eine „andere Gesellschaft“ entstanden. Die 68er-Revolte hatte Auswirkungen in Staat und Gesellschaft, in den Universitäten, den Kirchen, in Bildung, Wissenschaft, Kunst und Kultur, Justiz, Medizin, Presse und Film, in der Musik, Literatur... Von dem damals Erreichten zehren wir zum Teil noch heute, wenngleich vieles rückgängig gemacht wurde.

Wolfgang Bittner 68er Köpfe Ausstellung Arbeiterfotografie Köln
Literatur... wie sie auch in der NRhZ zu lesen ist. Editionen von
„Der Aufsteiger“ im Wandel der Zeiten | Foto: Andreas Neumann

5. Welches sind wesentliche Ziele, bei denen du ein Scheitern der 68er-Bewegung siehst? Und wie kam es dazu?

Wir haben keine friedlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse erreicht, weder in Deutschland noch anderswo. Die Gegenkräfte waren zu stark und zu gut organisiert.

6. Womit ist damals versucht worden, die 68er-Bewegung zu Fall zu bringen?

Durch Diskriminierung, Kriminalisierung, nicht zuletzt durch Korrumpierung.

7. Womit wird heute im nachhinein versucht, die Auswirkungen der 68er-Bewegung kaputt zu machen?

Durch eine gnadenlose Volksverdummung und Entpolitisierung der Gesellschaft. Nach wie vor auch durch Lügen und Diskriminierung der 68er-Bewegung (angebliche „Lottererziehung“ in den Kindergärten, Nähe zur RAF, „Familienfeindlichkeit“ usw.).

8. Wo und wie siehst du für heute die Notwendigkeit einer ähnlichen Bewegung wie 1968? Was möchtest du der heute jungen Generation vermitteln?

Die etablierten Parteien haben versagt. Wir müssen uns umsehen nach parlamentarischen und außerparlamentarischen Möglichkeiten einer Veränderung. Dabei kann u.a. die Besinnung auf Ziele der 68er-Bewegung hilfreich sein. Zur Debatte stehen natürlich unsere heutigen Probleme mit Kriegseinsätzen, Globalisierung, Umweltzerstörung, Verarmung in der sog. Dritten Welt, Sozialabbau, Hartz IV (ein Viertel der deutschen Bevölkerung lebt am Rande des Existenzminimums), Einschränkung von Bürgerrechten, Kulturlosigkeit, Kinderverwahrlosung/Jugendgewalt/Alkoholismus/Sucht (Ursachen!), Studiengebühren, Rente mit 67 usw.

9. Was gibt es sonst noch, was dir wichtig ist, zum Ausdruck zu bringen?

Für mich war ’68 sehr wichtig. Ich habe mich in dieser Zeit politisiert und zu einem bewussteren Menschen entwickelt.



Erasmus Schöfer
„Ein Frühling irrer Hoffnung“


Erasmus Schöfer 68er Köpfe Ausstellung Arbeiterfotografie Köln
Foto: Andreas Neumann

1. Was war damals (um 1968) persönlicher Auslöser, dein Umfeld und deine Hauptaktivität?

Die Auslöser meines politischen Handelns lagen vor dem Jahr 1968: Die Unterdrückung des algerischen Freiheitskampfes durch die französische Militärmacht, die Niederschlagung der demokratischen Regierung in Guatemala durch US-amerikanische Marines, die militärische Unterdrückung des vietnamesischen Befreiungskampfes durch das französische und amerikanische Militär.

2. Was ist für dich ein für die 68er-Zeit besonders typisches persönliches Erlebnis?

Der Mut vieler Menschen, der ungerechten staatlichen Gewalt entgegenzutreten, um wirkliche Demokratie durchzusetzen

3. Was war damals das Wichtigste, was es deiner Meinung nach zu erreichen galt?

Die Macht der Kapitalinteressen hinter der parlamentarischen Demokratie sichtbar zu machen und zurückzudrängen

4. Was hat die 68er-Bewegung tatsächlich erreicht?

Die Bürger und Bürgerinnen auf vielen Ebenen der Gesellschaft zu selbstbewussterer Wahrnehmung ihrer Rechte und Interessen zu befähigen.

5. Welches sind wesentliche Ziele, bei denen du ein Scheitern der 68er-Bewegung siehst? Und wie kam es dazu?

Bei der Demokratisierung der Schulen und Hochschulen, bei der Sicherung kapitalunabhängiger Medien, bei der Überwindung der sozialpartnerschaftlichen Orientierung der Gewerkschaften zugunsten einer wirklichen Mitbestimmung der Arbeitenden in ihren Betrieben. Hauptursachen: Die Berufsverbote, die Hochschulrahmengesetze, die Privatisierung von Funk und Fernsehen, die wachsende Arbeitslosigkeit.

Erasmus Schöfer 68er Köpfe Ausstellung Arbeiterfotografie Köln
Erasmus Schöfer an seinem Arbeitstisch | Foto: Andreas Neumann

6. Womit ist damals versucht worden, die 68er-Bewegung zu Fall zu bringen?

Mit polizeilicher Repression und den Berufsverboten.

7. Womit wird heute im nachhinein versucht, die Auswirkungen der 68er-Bewegung kaputt zu machen?


Durch Leugnung und Verdrehung ihrer emanzipatorischen und humanistischen Motive.

8. Wo und wie siehst du für heute die Notwendigkeit einer ähnlichen Bewegung wie 1968? Was möchtest du der heute jungen Generation vermitteln?

Die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit der Verteilung des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums muss beendet werden. Die Zerstörung der Ökosphäre durch die profitbestimmte Wirtschaft und ihre Nutznießer muss zugunsten unsrer Nachkommen drastisch eingeschränkt werden.

9. Was gibt es sonst noch, was dir wichtig ist, zum Ausdruck zu bringen?

Die an vielen Orten in Europa und der Welt sich bildenden Bewegungen für selbstbestimmtes gerneinsames Leben und Handeln müssen Gegenöffentlichkeit entwickeln, um die verbreitete Resignation angesichts der Mächte des imperialen Kapitals und seiner politischen Kumpane zu überwinden und starke demokratische Volksbewegungen zu entfachen.




Dieter Höss
„Ein Beginn hoffnungsvoller Zeiten“


Dieter Höss 68er Köpfe Ausstellung Arbeiterfotografie Köln
Foto: Senne Glanschneider

1. Was war damals (um 1968) persönlicher Auslöser, dein Umfeld und deine Hauptaktivität?

Die seit meinem Geburtsjahr 1935 bestimmenden Vertreter der Gesellschaft, die seit den 50ern immer weiter bestehenden miefigen Verhältnisse und die beides persiflierenden satirischen Gedichte, zuerst im „Simplicissimus“, dann in „pardon“ und vielen anderen Blättern.

2. Was ist für dich ein für die 68er-Zeit besonders typisches persönliches Erlebnis?

Drei TV-Drehtage mit linken Liedermachern in München, mit Auftritten und Solidaritätsadressen von Wolfgang Neuss und Franz Josef Degenhardt an die demonstrierenden Studenten in der dortigen Universität.

3. Was war damals das Wichtigste, was es deiner Meinung nach zu erreichen galt?

Mehr politisches Bewusstsein und mehr demokratisches Selbstbewusstsein.

4. Was hat die 68er-Bewegung tatsächlich erreicht?

Größere Offenheit innerhalb der Gesellschaft.

5. Welches sind wesentliche Ziele, bei denen du ein Scheitern der 68er-Bewegung siehst? Und wie kam es dazu?

Der revolutionäre Geist war willig, der reformerische Eifer bei der notwendigen Wahrnehmung des Erreichbaren und der Wahrung des Erreichten schwach.


Dieter Höss' „Schwarz-braun-rotes Liederbuch – Neue teutsche Volks & Wunderlieder für jedermann“ – erschienen 1967 | Foto: S. Glanschneider

6. Womit ist damals versucht worden, die 68er-Bewegung zu Fall zu bringen?

Mit dem Ruf nach Ruhe und Ordnung, durch Druck auf Einzelne als Kommunisten und Denunziation des Ganzen als eine einzige große Kommune 1.

7. Womit wird heute im nachhinein versucht, die Auswirkungen der 68er-Bewegung kaputt zu machen?

Mit allen Mittel, wobei das perfideste darin besteht, die 68er für alle heute bestehenden Mängel der Gesellschaft zu Sündenböcken zu erklären.

8. Wo und wie siehst du für heute die Notwendigkeit einer ähnlichen Bewegung wie 1968? Was möchtest du der heute jungen Generation vermitteln?

Einzelne persönliche und politische Erfahrungen sind nicht übertragbar. Dennoch ist es richtig, sich darüber auszutauschen.

9. Was gibt es sonst noch, was dir wichtig ist, zum Ausdruck zu bringen?

Es ist wichtig, dass die jeweils junge Generation sich die historischen Zusammenhänge bewusst macht und am politischen Geschehen teilnimmt.


„68er Köpfe“
Portraits mit Statements zur 68er Bewegung
Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln
5. bis 19. Oktober 2008
in der Ausstellungshalle Alte Feuerwache
Melchiorstraße 3, 50670 Köln
Öffnungszeiten: mi./do. 19-21 Uhr
Sa. 11-14 Uhr und nach Vereinbahrung
 


Online-Flyer Nr. 168  vom 15.10.2008

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