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Arbeit und Soziales
Der globale Finanzkrach zerstört die "private Daseinsvorsorge"
Ende der Individualisierung
Von Robert Kurz

Allenthalben wird gerätselt über die Folgen des finanzkapitalistischen Flächenbrands, der selbst von Berufsoptimisten als „historisch" eingestuft wird. Dabei sind sie absehbar. Man kann nicht von einer „historischen" Krise sprechen und gleichzeitig so tun, als würde sich das Drama hauptsächlich im undurchsichtig verhangenen Finanzhimmel abspielen, ohne einschneidende Rückwirkungen auf die ganze Gesellschaft.

Kredit ist laut Marx nichts anderes als der Vorgriff auf zukünftigen Mehrwert, dem eine entsprechende reale Kapitalverwertung nachfolgen muss. In der dritten industriellen Revolution seit den achtziger Jahren ist dieser Zusammenhang zerrissen, weil die neuen Potenziale der Rationalisierung die Grundlage der realen Kapitalverwertung, die kapitalproduktive Arbeitssubstanz, abgeschmolzen haben. Die daraus folgende Entkoppelung des Finanzüberbaus führte aber nicht bloß zu einer substanzlosen Akkumulation von "fiktivem Kapital". Globale Schuldenberge, Finanzblasen und die Geldschwemme der Notenbanken sind für eine ganze Epoche zum sekundären Treibsatz der Realökonomie geworden und haben die Defizitkonjunkturen seit den neunziger Jahren befeuert.

Um die nach kapitalistischen Kriterien unproduktiv gewordene Vorfinanzierung von Investitionen, Warenproduktion und Konsum am Laufen zu halten, mussten die Finanzmärkte exzessiv dereguliert werden. Massenarbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Prekarisierung und Verarmung bildeten die Kehrseite. Dass das "finanzgetriebene" Wachstum zu einer Minderheitsveranstaltung wurde, verweist auf seinen fiktiven Charakter. Der Staat mutierte zur antisozialen Krisenverwaltung. Statt die dabei aufscheinenden Grenzen der Verwertung zu erkennen, glaubte man den Kapitalismus in voller Blüte und auf dem Weg zu einem „ Normalzustand", den es nicht gibt. Die so genannte neoliberale Revolution war kein äußerlicher Eingriff, sondern die gesellschaftspolitische Ratifizierung der Finanzblasen-Ökonomie. Deshalb ging sie nicht nur mit Deregulierung und Sozialabbau einher. Alle Lebensbereiche wurden vom aufgeblähten virtuellen Kapital abhängig gemacht. Die Welle der Privatisierung von staatlichen Diensten und Infrastrukturen diente diesem Zweck ebenso wie die zunehmende Individualisierung der Daseinsvorsorge, nicht zuletzt in Gestalt einer „ kapitalgestützten" privaten Alterssicherung. Auch der Kultur wurden die öffentlichen Zuschüsse zusammengestrichen und ihre Träger auf die Jagd nach "Sponsoring" hauptsächlich aus der vermeintlich unerschöpflichen Finanzindustrie vergattert.


Kapitalistische Daseinsvorsorge...
Bild: UZ-Pressefest 2005 – gesichter zei(ch/g)en


Verinnerlichter Neoliberalismus ...

Der Neoliberalismus war nicht bloß eine von „ oben" durchgesetzte Politik, sondern er wurde auch von „unten" in vieler Hinsicht aufgenommen, weil es sich um eine historische Veränderung der verinnerlichten kapitalistischen Existenzbedingungen handelte. Der von Ulrich Beck in den achtziger Jahren noch optimistisch beschriebene Prozess der Individualisierung hat längst das Massenbewusstsein erfasst. Es ging dabei natürlich nie um eine Anerkennung menschlicher Individualität, sondern um deren bedingungslose Selbstauslieferung an die berüchtigten Marktkräfte in Form eines strukturell verselbstständigten Finanzsystems. Die Formeln von der "Ich-AG" und den "Selbstunternehmern ihrer Arbeitskraft" sind im entsolidarisierten Alltag angekommen.


...und Individualisierung sozialer Sicherung
Foto: gesichter zei(ch/g)en

Trotz aller Kritik versuchten auch große Teile der Linken, sich in diesem Zustand einzurichten. Gewerkschaftliche Diskurse liebäugelten mit einer Beteiligung der Lohnabhängigen an den Finanzblasen-Erträgen. Und für Antonio Negris Multitude sollte das Paradigma der organisierten Selbstverwertung ( „ Autovalorisazzione") gelten. Die gesamte postmoderne Ideologie der Virtualität konnte sich nur vor dem gesellschaftlichen Hintergrund der Finanzblasen-Ökonomie und der abstrakten Individualisierung ausbreiten. Dabeisein war alles.

Jetzt bricht das globale Kartenhaus unter unseren Augen zusammen. Der Rückschlag auf die Weltkonjunktur kann angesichts der über Jahrzehnte aufgebauten Abhängigkeit von substanzlosem Geldkapital gar nicht so moderat ausfallen, wie immer noch gehofft wird. In den Finanzzentren lösen sich bereits das Kultursponsoring ebenso wie die privaten Dienstleistungen auf (von der Gastronomie bis zu Fitness-Clubs), und es erweist sich, dass die damit verbundenen Billiglohn-Sektoren keinerlei eigenständige Basis von Kapitalakkumulation darstellen. In den USA bricht für Millionen die "kapitalgestützte" individuelle Altersvorsorge weg. Auch wenn die Kapitaldeckung der Riester-Rente hierzulande nicht in die Hochrisiko-Sektoren gehen durfte, ist sie keineswegs gegen weitergehende Bankenpleiten gefeit. Der Finanzkrach zerstört die „ private Daseinsvorsorge" auf allen Ebenen. „ Historisch" ist diese Krise, weil sie sich durch den gesamten Lebenszusammenhang hindurchfrisst.

Plötzlich wollen es die geradezu in Schockstarre gefallenen Akteure nicht gewesen sein, um bei der Suche nach Schuldigen das Problem auf die "Gier" von Investment-Haien zu reduzieren und jenseits des Atlantik zu verorten. Dieses Gestammel von Merkel, Steinbrück und anderen kann nur antiamerikanische und antisemitische Stimmungen bedienen.

... und repressive Krisenverwaltung

Es zeugt von völliger Verkennung der Tatsachen, wenn bis in die Linke hinein geglaubt wird, durch ein bisschen „ rheinische" Re-Regulierung könne der Kapitalismus in die Verfassung ehrbarer Buddenbrook-Kaufleute zurückgezaubert werden. Weil die Krise ihren Ursprung in der mangelnden realen Verwertungsbasis hat, ist sie nicht auf den Bankensektor zu begrenzen. Der allseits gehätschelte „ arbeitsplatzschaffende" Mittelstand vom Maschinenbau bis zu den Halsabschneider-Klitschen des Billiglohns kann das Ende der Finanzblasen-Ökonomie ebenso wenig aussitzen wie die Medienindustrie oder die "digitale Bohème", ganz zu schweigen von den Staatsfinanzen. In dieser Lage auf einen wieder ehrbar werdenden Staat zu setzen, heißt den Bock zum Gärtner machen. Stattdessen wird sich die repressive Krisenverwaltung drastisch verschärfen. (HDH)

Der Artikel von Robert Kurz erschien zuerst in der Wochenzeitung „Freitag" vom 10. Oktober 2008.


          

Online-Flyer Nr. 168  vom 15.10.2008

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