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Aktueller Online-Flyer vom 16. April 2024  

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Arbeit und Soziales
ARGe verursacht Obdachlosigkeit
„Höhepunkt einer Tendenz"
Von Hans-Dieter Hey

In einem offenen Brief hat sich der Bochumer Anwalt für Sozialrecht, Martin Reucher, an die Öffentlichkeit und offizielle Stellen gewandt. Anlass war eine Entscheidung der Arbeitsagentur Bonn/Rhein-Sieg, einem Erwerbslosen einer Bedarfsgemeinschaft die Übernahme der gesamten Kosten der Unterkunft streitig zu machen, nachdem dessen Mitbewohner den Freitod wählte. Der „Wohnraum sei unangemessen", behauptete die ARGe. Deshalb sei dem Erwerbslosen auch die Unterbringung im Obdachlosenheim zumutbar. Wir drucken den offenen Brief als bestürzendes Zeugnis für die verheerenden sozialen Verhältnisse in Deutschland ab. Die Redaktion.

Offener Brief
Betreff: PM: Offener Brief Aufsichtsbehörden Arge Rhein-Sieg

An

Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit
Als Fachaufsichtsbehörde der ARGE Rhein-Sieg
Bundesminister Glos
Bezirksregierung Köln
Als Fachaufsichtsbehörde der ARGE Rhein-Sieg
Regierungspräsident Lindlar
Bundesagentur für Arbeit
Als Aufsichtsbehörde der ARGE Rhein-Sieg
Vorstandsvorsitzender Dr. Weise
Agentur für Arbeit Bonn/Rhein-Sieg
Als Aufsichtsbehörde der ARGE Rhein-Sieg
Vorsitzende der Geschäftsführung Schmickler-Herriger

Sehr geehrter Herr Bundesminister Glos,
Sehr geehrter Herr Lindlar,
Sehr geehrter Herr Dr. Weise,
Sehr geehrte Frau Schmickler-Herriger,

ein Verwaltungsakt der ARGE Rhein-Sieg (ARGE) unter dem 11.08.08 durch die Sachbearbeiterin Frau P. (SB P.) gegenüber dem Kunden der ARGE Herrn Achim H. (Kunde H.) geben Anlass, mich nach reiflicher Überlegung öffentlich direkt an Sie zu wenden.

Herr H. wohnte gemeinsam mit seinem Freud - und Kunden der ARGE - Harald G. (Kunde G.) im Untermietsverhältnis in einer Wohngemeinschaft in
Niederkassel. Am 26.07.08 wurde der Kunde G., übrigens nach heftigen
Auseinandersetzungen mit der ARGE, tot aufgefunden nach Suizid. Der Kunde H..wohnt jetzt alleine in der Wohnung und hat daher bei der ARGE beantragt, dass diese vorübergehend die Kosten der nunmehr für eine Person zu teuren Wohnung vorläufig übernehmen möge, bis er eine angemessene kleinere Wohnung gefunden habe.

Mit Bescheid unter dem 11.08.08 hat die ARGE diesen Antrag ablehnend
beschieden. Der Ablehnungsbescheid ist an den Kunden H., wohnhaft beim
Kunden G., adressiert. Angenommen, ein Ihnen nahe stehender Mensch sei soeben verschieden, wie würden Sie reagieren, würde eine Behörde in Kenntnis des Todesfalles dies im Adressfeld ignorierte?

Im Ablehnungsbescheid wird ausgeführt, dass ein Untermieter den Nachteil
habe, gegenüber dem Vermieter kein Wohnrecht zu haben, wenn der Vermieter versterbe. Überdies sei nachteilig, dass bei Tod des Hauptmieters der Untermieter einen neuen Hauptmietvertrag abschließen oder den bisherigen Vertrag übernehmen müsse. Der Vorteil dieser Konstruktion sei, dass die verschiedenen Bewohner nicht als Haushaltsgemeinschaft gesehen würden.

Abgesehen davon, dass die Abgrenzung zwischen Haushaltsgemeinschaft und Wohngemeinschaft nach anderen Kriterien erfolgt, abgesehen davon, dass nach dem Tod des Vermieters der Mietvertrag bestehen bleibt, abgesehen davon, dass der Untermieter bei Tod des Hauptmieters keinen Anspruch auf einen Hauptmietvertrag oder die Übernahme des bisherigen Vertrages hat, abgesehen davon, dass diese Überlegungen nicht entscheidungserheblich sind und abgesehen davon, dass ?vergessen? worden ist, das pflichtgemäße Ermessen auszuüben, was würden Sie empfinden, wenn Ihnen nach dem Tod des nahestehenden Menschen eine abstrakte Abhandlung in Bescheidform zugeht, in der Ihnen die Vor- und Nachteile von Rechtskonstruktionen in Hinblick auf den Todesfall erläutert wird? Was, wenn Ihnen - bei Ihren sozialen Verhältnissen allerdings undenkbar - mit freundlichen Grüßen übermittelt würde, dass nunmehr eine Unterbringung in einem Obdachlosenheim statt einer Wohnung hinreichend sei? Was, wenn Ihr bisheriger Umgang mit Ihren Kindern dadurch nicht mehr möglich wäre? Was, wenn sich all dies noch vor der Beerdigung stattfände?

Sachbearbeiter, deren Kenntnisse noch nicht einmal die Grundzüge des Rechts umfassen, sollten kein Amt innehaben, welches ihnen Macht über Kunden verleiht; dies gilt um so mehr, wenn sie das Recht bewusst falsch anwenden. Auch Sachbearbeiter, die ? ohne es zu merken ? Kunden verhöhnen und ihnen Missachtung entgegenbringen, sollten kein Amt innehaben, welches ihr Macht über Kunden verleiht; dies gilt um so mehr, wenn sie sich bewusst so verhalten.

Als Rechtsanwalt beschäftige ich mich ausschließlich mit den Problemen der
Kunden bei verschiedenen ARGEn. Ich beobachte mit Sorge, dass es sich bei dem geschilderten Fall um den bisherigen Höhepunkt einer Tendenz handelt. Aber auch Tendenzen hinterlassen Fakten, nämlich die zunehmende Verbitterung der Kunden.

Die Weimarer Republik ist letztendlich an einer Sanierung der Solidarkassen
auf Kosten der Versicherten gescheitert, ein Punkt, den wir schon hinter uns
haben. Am Ende wollte niemand mehr für den Staat eine Hand rühren, um ihn zu retten.

Ich lade Sie ein, mit mir die Sorgen um den Rechtsstaat zu teilen und der
unheilvollen Tendenz entgegenzuwirken.

Ich verbleibe
mit freundlichen Grüssen

Martin Reucher
Rechtsanwalt (HDH)


Online-Flyer Nr. 161  vom 27.08.2008

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