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Arbeit und Soziales
Wie Beschäftigte das Unternehmerrisiko tragen
Heuschreckenalarm
Von Manfred Kriegeskorte

Am 22.01.2007 meldete die Geschäftsführung von Innomotive Systems Europe ISE – ein Zulieferer für die Automobilindustrie für das Werk Bergneustadt und von ISE Industries GmbH für die Werke Duisburg und Witten – Insolvenz an. Für über 2.400 Beschäftigte stand die Arbeitslosigkeit auf der Agenda. Die Geschichte ist ein Lehrbeispiel, wie das Unternehmerrisiko auf Beschäftigte abgewälzt wird.

Heuschreckenplage in Duisburg, Witten und Bergneustadt


Im März 2008 wurden die Betriebe Duisburg und Witten von der Nordwind Capital Erste Industriebeteiligungen GmbH mit Sitz in München übernommen. Nordwind Capital zählt zu den Private Equity Fonds. Und was man sich dort wünscht, kann man auf ihrer Webseite nachlesen: „Das Engagement eines Private Equity Fonds ist in der Regel auf ca. drei bis fünf Jahre limitiert und soll den Investoren in diesem Zeitraum eine über dem Aktienmarkt liegende Rendite erwirtschaften.”

Für die Standorte Duisburg und Witten sah der auf fünf Jahre abgeschossene Standortvertrag vor, dass von den 740 Beschäftigten in Duisburg und Witten 620 übernommen, aber 120 über Sozialplan in die Arbeitslosigkeit abgeschoben werden sollten. Für die Weiterarbeitenden gab es Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich und Kürzung von Weihnachts- und Urlaubsgeld um die Hälfte. Aus anderen „Standortsicherungsvereinbarungen” hätte das aber allen im vornherein klar sein können und niemand konnte dies wirklich überraschen.


Beschäftigte wurden enttäuscht, obwohl sie...

Durch Presseerklärungen des Insolvenzverwalters und der örtlichen IG Metall in Gummersbach war bekannt, dass Nordwind Capital auch für das Werk in Bergneustadt der Wunschkandidat sei. Doch für die Beschäftigten dort sollte sich dieser „Wunschkandidat" bald als Desaster herausstellen. Der Investor wollte nämlich nur den Maschinenpark und die Immobilien übernehmen. Offensichtlich stellten die Beschäftigten für die von ihm gewünschte „über dem Aktienmarkt liegenden Rendite" eine Behinderung dar. Von ihnen wollte sich der Investor trennen und sie getrost nach dem Motto „der Gewinn liegt im Einkauf" nach Übergang in eine Transfergesellschaft neu eindecken – aber zu anderen Bedingungen. Auch zu dem Zweck wurde ein enormer Druck auf die Belegschaft aufgebaut, um die gesetzlichen Bestimmungen für einen Betriebsübergang zu unterlaufen. Wenn das bei ISE ein Testfall für Betriebsübernahmen war, dann droht zukünftig noch schärferer Klassenkampf von oben.

Insgesamt fünf verschiedene Verträge sollten die Beschäftigten dafür unterzeichnen: Der erste Vertrag war ein Aufhebungsvertrag des Beschäftigungsverhältnisses. Der zweite Vertrag war ein Überleitungsvertrag in eine Transfergesellschaft. Der dritte Vertrag war ein unbefristeter Arbeitsvertrag mit der neuen Firma ISE nach Übernahme durch Nordwind Capital, der vierte ein befristeter Arbeitsvertrag für 6 Monate und der fünfte ein befristeter Arbeitsvertrag für 12 Monate.

Aus den 1.700 zunächst in die Transfergesellschaft abgedrängten Beschäftigten wollte die neue Unternehmensführung dann etwa 1.200 mit unbefristetem Arbeitsvertrag und 400 befristet einstellen, die restlichen 100 sollten in der Transfergesellschaft bleiben, was letztlich das Aus in die Arbeitslosigkeit bedeutet hätte. Die Unterschriften aller Beschäftigten erwartete der Investor bis zum 14. Mai 2007, sonst wäre er von seiner Kaufabsicht zurückgetreten, hieß es. Für die Betroffenen ein ungeheurer Druck. Denn wer die Unterschrift verweigerte, musste damit rechnen, als Schuldiger an der Schließung des Betriebes gebrandmarkt und für den Wegfall von 1.700 Arbeitsplätzen verantwortlich gemacht zu werden. Trotzdem wurde wenige Tage vor dem 14. Mai bekannt, dass etwa 100 Mutige die Unterschriften verweigern.


... mit ganzem Herzen an ihrer Firma hingen
Fotos: Michael Kleinjung/Oberberg aktuell


„aufklärende" Gespräche

Die Verweigerer wurden nach Angaben von Betroffenen nun sprichwörtlich in die Mangel genommen. Insolvenzverwalterund Betriebsratsmitglieder führten „aufklärende Gespräche”, bisweilen sogar zu Hause. Auch öffentlich wurde ordentlich Druck aufgebaut. Eine Demonstration, die offenbar wenig mit dem Widerstand einer kämpfenden Belegschaft oder Solidaritätskundgebungen zu tun hatte, steigerte den Druck auf die letzten Verweigerer. Trotzdem blieben bis kurz vor dem Übernahmetermin am 31. Mai 2008 noch 78 KollegInnen standhaft. Ihnen kündigte der Insolvenzverwalter am 29. Mai kurzerhand fristlos und ließ sie nach Augenzeugen wie Gesetzesbrecher von Bodyguards aus dem Betrieb führen.

 
Nach der fristlosen Kündigung der Rebellen unterzeichnete Nordwind Capital und übernahm Anfang Juni den Betrieb. Aus der Transfergesellschaft wurden 1.135 Beschäftigte in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis und 400 in ein befristetes Beschäftigungsverhältnis übernommen. 79 blieben in der Transfergesellschaft – und letztlich damit auf der Strecke, wie die 120 in Duisburg und Witten.

Wer nun glaubt, dass die neu eingestellten Beschäftigten mit ihrer Situation glücklich gewesen wären, sieht sich getäuscht. Unbehangen, Wut und Zorn herrscht bei den meisten vor, wie mit ihnen und besonders den Gekündigten umgegangen wurde. Denn zu spät wurde registriert, dass junge Beschäftigte nur einen befristeten Arbeitsvertrag, ältere mit nur noch wenigen Beschäftigungsjahren oder einigen Monaten zur Rente dagegen einen unbefristeten Vertrag bekommen hatten. Überraschend ist, dass sich auch die IG-Metall darüber gewundert hatte, ist es doch eine durchaus übliche Methode, weiter Personal abzubauen, in dem frei werdende Arbeitsplätze nicht ersetzt werden.

Trotzdem zeigt sich die örtliche Führung der IG Metall zufrieden. „Mit Nordwind haben wir die besten Bedingungen bekommen, die möglich waren”, wehrte sich der oberbergische IG Metall-Bevollmächtigte Norbert Kemper gegen den Vorwurf, schlecht verhandelt zu haben. Und auf der Webseite der örtlichen IG Metall wird verkündet, dass „von den zuletzt übriggebliebenen Kaufinteressenten nur Nordwind bereit gewesen sei, so viele Arbeitsplätze zu erhalten."

Im Machtspiel mit der „Heuschrecke" blieb IG Metall und den Betriebsräten offenbar kein Spielraum. Was die mutigen Verweigerer angeht, hätten die sich mehr Unterstützung gewünscht. Zumindest hätten Gewerkschaft und Betriebsrat alle Beschäftigten über die Machtverhältnisse aufklären und sich solidarisch hinter die Unterschriftenverweigerer stellen müssen. Doch diese Solidarität kam allein von einem Infoblatt der DKP-Gruppe Oberberg für die Belegschaft der ISE in Bergneustadt, das von Beschäftigten mit positiver Resonanz aufgenommen wurde. Immerhin scheint es für Nordwind Capital mit den fristlos Gekündigten nicht ganz nach Wunsch zu laufen. Der größte Teil der Gekündigten hat Kündigungsschutzklage eingereicht – mit Aussicht auf Erfolg oder zumindest einer Abfindung. (HDH)

Online-Flyer Nr. 158  vom 06.08.2008

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