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Arbeit und Soziales
Die Reform der Hartz-IV-Reform
Verfolgungsbetreuung plus – Teil 1/6
Prof. Dr. Michael Wolf

Das Manager-Magazin berichtete am 1. Oktober 2004, dass die Mehrheit der deutschen Manager von Hartz IV keine Beschäftigungseffekte erwartet haben, trotzdem waren 91 Prozent dafür. Warum? Für ihre neoliberale Sicht ist Erwerbslosigkeit selbstverschuldet und müsse bestraft werden. Inzwischen bedeutet Hartz IV ein ganzes System von Entrechtung und Enteignung, das für die derzeitige schwarz-rote Politik immer noch nicht ausgereizt scheint: Ab 1. August tritt das Hartz IV Fortentwicklungsgesetz in Kraft. Prof. Dr. Michael Wolf stellt uns die ganze Entwürdigung dar. Die Redaktion

„Die ökonomisch funktionierende Gesellschaft hat Mittel genug, den in der wirtschaftlichen Konkurrenz Unterlegenen und Erfolglosen oder gar einen 'Störer' außerhalb ihres Kreislaufs zu stellen und ihn auf eine nichtgewaltsame, 'friedliche' Art unschädlich zu machen, konkret gesprochen, ihn, wenn er sich nicht freiwillig fügt, verhungern zu lassen". (Carl Schmitt) "Würde des Menschen. Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst." (Friedrich Schiller)

I - Der 'moderne' Wohlfahrtsstaat: Entrechtung und Entsicherung

Wirft man einen Blick auf die Geschichte des Wohlfahrtsstaats, eigentlich wäre hier der Plural angezeigt, weil es wegen der nationalen Unterschiede in den politisch-sozialen Machtverhältnissen, den weltanschaulich-politischen Vorstellungen der zentralen Akteure und den jeweiligen institutionellen Arrangements 'den' Wohlfahrtsstaat nicht gibt 1), dann zeigt sich, dass dieser seit seinen Anfängen stets politisch umstritten war, sei es in seiner Entstehungsphase, sei es in seiner Expansionsphase. Den einen, seinen Gegnern, ging beziehungsweise geht er zu weit, den anderen, seinen Befürwortern, nicht weit genug. Kritik an ihm, die sich allerdings nicht nur auf die Frage seines Umfangs und die damit zusammenhängende Finanzierung konzentriert(e), sondern die sich auch um Fragen seiner Ausgestaltung oder der Effektivität und Effizienz dreht(e), ist also nichts Neues, sie gehört sozusagen naturgemäß zu seiner Entwicklung dazu. 2) Und doch kommt man nicht umhin, festzustellen, dass die erhobene Kritik sich seit einigen Jahren in einer Weise materialisiert hat, die es erlaubt, von einem Paradigmenwechsel zu reden, dem Wechsel vom keynesianischen Welfare State zum "schumpeterianischen Workfare State" (Jessop 1994).


Seit 2005 ist die Würde des Menschen wieder antastbar –
(DGB-Plakat vom 1. Mai 2006) | Bearbeitung: gesichter zei(ch/g)en

Dieser äußert sich in politisch- administrativen Maßnahmen der Entrechtung und Entsicherung der Arbeitskraftbesitzer, mit denen eine Rückkehr betrieben wird von der kollektiven materiellen Daseinsvorsorge zur eigenverantwortlichen persönlichen Selbstsorge und zum individuellen Risikomanagement. Damit nimmt Sozialpolitik Abstand von der Idee, dass die Gesellschaft für die Gefährdung der Existenz ihrer Mitglieder verantwortlich und demgemäss auch verpflichtet ist, die Sicherung der Existenz zu gewährleisten. Gewissermaßen von ihren ursprünglich solidarischen Füßen 3) auf den sozialdarwinistischen neoliberalen Kopf gestellt, erhebt sie statt dessen nunmehr subjektive Unsicherheit und Verunsicherung zur Grundlage der von ihr im Einklang mit den Verfechtern der neoliberalen Heilslehre geforderten Eigenverantwortung, um so die Arbeitskraftbesitzer verstärkt zu marktkonformen Verhalten anzuhalten.

Mit den nachfolgenden Ausführungen soll gezeigt werden, in welcher Art und Weise und mit welchen Konsequenzen der genannte Paradigmenwechsel sich in der Bundesrepublik Deutschland vollzieht. In einem ersten Schritt (Kap. II) wird es hierbei um einen knappen Aufriß der ideologischen Grundlagen der bundesdeutschen Variante des Workfare State gehen, nämlich um das Konzept des "aktivierenden Sozialstaats" und dessen Zentralmaxime des "Fördern und Fordern". Im zweiten Schritt (Kap. III) wird sodann an Hand der unter dem Etikett "Hartz IV" bekannt gewordenen Reform der Arbeits(markt)- und Sozialpolitik exemplarisch aufgezeigt werden, wie Politik und Verwaltung der Maxime des "Fördern und Fordern " organisatorisch-institutionell zu entsprechen suchen. Da die Reform, kaum ins Werk gesetzt, selbst einer Reform unterzogen wurde, sind die beiden nächsten Schritte diesem im SGB-II-Fortentwicklungsgesetz zum Ausdruck kommenden Anpassungsprozeß vorbehalten, wobei sich der dritte Schritt (Kap. IV) mit dem Fortentwicklungsgesetz allgemein und der vierte Schritt (Kap. V) sich mit einer spezifischen Regelung desselben, dem "Sofortangebot" (§ 15a SGB II), befassen wird. Im letzten und fünften Schritt (Kap. VI) werden schließlich Überlegungen anzustellen sein, die mit Rekurs auf das Theorem der "innerstaatlichen Feinderklärung" aufmerksam machen wollen auf eine mit dem sozialstaatlichen Paradigmenwechsel einhergehende unheilvolle Tendenz für eine ihrem Anspruch nach demokratisch verfasste Gesellschaft. (HDH)

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1) Im Hinblick auf die Entstehung und Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten vgl. statt anderer Alber (1982) und Flora et al. (1977), hinsichtlich des Versuches, Gruppen ähnlicher nationaler Wohlfahrtsstaaten zu systematisieren, die einflußreiche Studie von Esping-Andersen (1990), ferner Kaufmann (2003), Schmidt (1998) sowie die Beiträge in Lessenich/Ostner (1998) zur Kritik und Weiterentwicklung der von Esping -Andersen entwickelten Typologie. – Trotz unterschiedlichen Bedeutungsgehaltes wird der Begriff 'Wohlfahrtsstaat' hier synonym für 'Sozialstaat' (vgl. statt anderer Alber et al. 1998: 622 f.; Wendt 1993) verwandt; soweit ausschließlich auf die bundesdeutschen Verhältnisse abgehoben wird, ist im folgenden die Rede von 'Sozialstaat' als der deutschen Variante wohlfahrtsstaatlicher Programmatik, wie sie im Sozialstaatspostulat (Art. 20 I, 28 I) des Grundgesetzes ihren Niederschlag gefunden hat.
1) Eine synoptisch angelegte Analyse der von Gegnern wie Befürwortern vorgetragenen Argumente des Für und Wider des Wohlfahrtsstaats liefert Prisching (2000).
3) Vgl. hierzu etwa mit Bezug auf Léon Bourgeois, neben Charles Gide wichtigster Protagonist der Bewegung des Solidarismus, mit der sich in Frankreich der Wohlfahrtsstaat Bahn brach, Zoll (2000: 78 ff.) sowie ferner Ewald (1993: 462 ff.).

Online-Flyer Nr. 157  vom 30.07.2008

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