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Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

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Glossen
Diese Glosse hat mich psychisch außerordentlich entlastet.
Kratzige Zeiten
Von Wolfgang Bittner

Die Staatskasse ist leer: Kein Geld für Soziales, kein Geld für Kultur, nicht für Bildung, Forschung, Gesundheitswesen... Post und Bahn wurden privatisiert, in vielen Städten auch Wasserversorgung, Müllabfuhr, Kanalisation, Nahverkehrswesen. Deswegen gibt es den Briefkasten an der Ecke nicht mehr, und der Postzusteller kommt statt um neun Uhr erst um zwei. Deswegen wird bei der Wartung von Zügen geschlampt, und dass die deutsche Bahn die pünktlichste der Welt sei, behauptet nicht einmal sie selber mehr.

Die direkte Straßenbahnverbindung zum Hauptbahnhof wurde kürzlich eingestellt, eine Fahrt in die Stadt kostet inzwischen ein kleines Vermögen. Die Abgaben für Wasser und Müllentsorgung steigen und steigen. Wie zufällig bekannt wurde, ist die Kanalisation einiger Großstädte über Briefkastenfirmen auf den Kaiman-Inseln an Geldanlage-Fonds in den USA verkauft und anschließend von den Kommunen zurückgeleast worden - Bereicherung durch Steuermanipulation. Die von hoch bezahlten städtischen Beamten zu diesem Zweck abgeschlossenen Verträge sind eine juristische Katastrophe. Für den Schaden werden die Bürger mit weiter wachsenden Abwassergebühren aufkommen müssen.

In meinem Portemonnaie kratzt es, und das hat noch viel mehr Gründe. Die Zweigstelle der Sparkasse, die in letzter Zeit zweimal aufwendig umgebaut wurde, wird geschlossen und zugleich werden die Gebühren erhöht; ein Brötchen, das noch vor wenigen Jahren für zwanzig Pfennig zu haben war, kostet jetzt fünfundzwanzig Cent; der Hausbesitzer, der zwei Häuser geerbt hat, erhöht alle drei Jahre die Miete; die zu erwartende Altersversorgung hat sich innerhalb weniger Jahre um mehrere hundert Euro verringert. Währenddessen genießen Scharen von Edelrentnern vorzeitige Staatspensionen; Abfindungen an unfähige oder korrupte Manager belaufen sich auf zig Millionen; die großen Firmen zahlen kaum Steuern.

Und die Weltpolitik? Sie kratzt jeden Morgen an meiner Laune, wenn ich die Radio-Nachrichten höre: Bomben statt Diplomatie, Kriege, Selbstmordanschläge, Tote über Tote. Was die Supermächte und ihre kulturfernen und kapitalorientierten Regierungen falsch gemacht haben, wird mit ungeheurer Gewalt noch falscher gemacht. Millionen mästen sich auf Kosten von Milliarden, die immer weiter ins globale Abseits geraten. Habgier und Egoismus, wohin man schaut.

Über positive Entwicklungen in Ländern wie Brasilien und Venezuela berichten die Medien kaum, dafür wochenlang in aller Ausführlichkeit über Erdbeben, Schneekatastrophen, Überschwemmungen oder Entführungen. Wo es nicht ins Konzept passt, werden Widerstandsbewegungen gegen verbrecherische Regierungen ignoriert oder als terroristisch abgetan. Ursachen und Hintergründe bleiben zumeist im Dunkeln. Was für eine Journalistengeneration wächst da heran? Und was ist mit unseren Medien los?

Früher war zwar nicht alles besser - wie manchmal gesagt wird -, aber heute ist vieles schlechter als früher. Obwohl vieles besser sein könnte. Alles zu negativ? Zu wenig Positives? Der Satiriker Erich Kästner soll auf diesen Vorwurf geantwortet haben: "Ja, wo ist es denn, das Positive?" In dem Zusammenhang ist vielleicht noch daran zu erinnern, dass der Mensch von Natur aus weder gut noch schlecht ist, dass ihm also sämtliche Möglichkeiten einer humanen Lebensgestaltung - theoretisch - offen stehen.

Wolfgang BittnerWas mich übrigens in letzter Zeit am meisten ärgert - und ich glaube, da bin ich nicht der einzige -, sind die kratzigen Etiketts, die praxisferne Designer hinten in meine Hemden und sogar in die Pyjamas hinein nähen lassen. Quälend. Womöglich ist das der tiefere Grund, weswegen ich diese Glosse geschrieben habe. Sie hat mich psychisch außerordentlich entlastet.

Foto: Wolfgang Bittner - NRhZ-Archiv

Online-Flyer Nr. 29  vom 31.01.2006

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