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Medien
Interview mit Annette und Michael Schiffmann zum neuen Mumia Abu-Jamal-Film:
„Politischer Gegendruck notwendig“ – Teil I
Von Peter Kleinert

Dr. Michael Schiffmann und seine Schwester Annette engagieren sich seit 1999 in der Mumia-Solidaritätsbewegung. Er ist Autor und Lehrbeauftragter für Linguistik und Cultural Studies am Anglistischen Seminar der Universität Heidelberg und hat das Buch „Wettlauf gegen den Tod“ geschrieben. Beide haben durch Recherche, Ideen, Überprüfung der Fakten und Kontakte zu Interviewpartnern zu dem Film "In Prison my Whole Life" beigetragen. Sie ist Co-Autorin von "free mumia - Dokumente, Analysen, Hintergrundberichte" und hat den Film ins Deutsche übersetzt.
PK: Wenn ich es richtig verstanden habe, wurde durch das Urteil eines der höchsten Gerichte der USA am 27. März zwar die Todesstrafe für Mumia Abu-Jamal aufgehoben, er soll aber keinen neuen Prozess bekommen. Warum nicht?
 
MS: Ja, genauso ist es. Dass Mumia ein neuer Prozess verweigert wurde, kam als großer Schock. Viele Beobachter, so auch der Autor eines neuen Buchs, „The Framing of Mumia Abu-Jamal“, J. Patrick O’Connor, waren überzeigt, dass das Gericht Mumia in einem der drei Punkte, die es Mumia zur Berufung zugestanden hatte, Recht geben würde. Auch ich hatte am 17. Mai 2007, als Mumias Antrag zweieinhalb Stunden lang mündlich vor dem Gericht verhandelt wurde, den Eindruck, dass die Richter den Argumenten der Verteidigung gegenüber durchaus aufgeschlossen waren. Andere Leute, die ebenso wie ich im Gerichtssaal waren, hatten einen ähnlichen Eindruck. Aber dieses Gericht stand unter enormem politischen Druck, Mumia kein neues Verfahren zu gewähren, und wie wir sehen, hat es diesem Druck nachgegeben.
 
Michael Schiffmann
Dr. Michael Schiffmann
Foto: Annette Schiffmann
Dass das Gericht die bereits 2001 durch die nächst untere Gerichtsebene gefällte Entscheidung zur Aufhebung des Todesurteils bestätigt hat, ist zwar gut und außerordentlich wichtig, vor allem wenn man es mit Fällen wie dem von Troy Davis in Georgia vergleicht, der aller Wahrscheinlichkeit wie Mumia unschuldig ist, dem ein Gericht aber dennoch, ebenfalls im März, nicht nur einen neuen Prozess, sondern auch die Aufhebung seines Todesurteils verweigerte. Andererseits kam der Gerichtsbeschluss zu Mumias Todesurteil nicht überraschend. Und ich würde sagen, er war ebenfalls nicht zuletzt politisch motiviert. Hätte das Gericht das Todesurteil gegen Mumia wieder in Kraft gesetzt, wären ein internationaler Aufschrei und eine internationale Massenmobilisierung die Folge gewesen, die leider bisher weitgehend ausgeblieben sind.
 
So hat die Anklage also ihre Berufung gegen die 2001 erfolgte Aufhebung des Todesurteils verloren, und es sieht so aus, als würde es dabei auch bleiben.
 
PK: Ist das nicht dennoch auch ein Sieg?
 
MS: Zweifellos, und nicht zuletzt einer der Solidaritätsbewegung für Mumia, aber ein bitterer Sieg, da auch die Verteidigung in all ihren drei Punkten verloren hat. Dabei handelt es sich um die rassistische Praxis des Staatsanwalts, der bei der Juryauswahl für Mumias Prozess systematisch schwarze Geschworene ausschloss, um die Aufforderung desselben Staatsanwalts an die Jury, doch im Zweifelsfall zugunsten der Anklage zu irren, da der Angeklagte ja noch „eine Berufung nach der anderen“ haben würde, und um das unfaire Verhalten von Mumias Verfahrensrichter Albert F. Sabo, der 1995 bis 97 auch über Anhörungen zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens präsidierte und dabei so grotesk unfair gegenüber der Verteidigung agierte, dass es selbst in der Mumia-feindlichen Presse Philadelphias hieß: „Sabo muss gehen.“
 
In ihrem Beschluss vom 27. März 2008 fanden die drei Richter des 3. Bundesberufungsgerichts an all dem nichts auszusetzen – mit der wichtigen Ausnahme von Richter Ambro, der im ersten Punkt gegen seine Kollegen stimmte und das mit einer ausführlichen „Abweichenden Meinung“ begründete.  Die andern beiden Richter sagen zum ersten Punkt, Mumias Verteidiger hätte bereits beim Prozess 1982 Einspruch gegen die fraglichen Praktiken des Staatsanwalts erheben müssen, jetzt sei es zu spät. Das ist das erste Mal, dass dieses Gericht so etwas von der Verteidigung eines Angeklagten verlangt, und das liegt offenbar daran, dass dieser Angeklagte Mumia ist.

Wenn dieses Argument Substanz hätte, würde es außerdem auch auf ein schwerwiegendes Versagen von Mumias damaligem Anwalt hinweisen. Mumias spätere Verteidiger haben immer wieder darauf hingewiesen, dass dieser Mann seiner Aufgabe nicht gewachsen war, und sie hatten beim jetzigen Gericht den Antrag gestellt, dass auch dieser Punkt als potentieller Grund für einen neuen Prozess zugelassen wird – aber das Gericht hat abgelehnt!
 
Wenn Mumia also einen neuen Prozess fordert, weil sein Verteidiger nicht effektiv war, befindet das Gericht, das der Verteidiger fähig war. Wenn aber Mumia einen neuen Prozess fordert, weil der Staatsanwalt systematisch schwarze Geschworene ausschloss, befindet die Mehrheit des Gerichts plötzlich implizit, dass er unfähig war und eine so schwere Unterlassungssünde begangen hat, dass Mumia auch im Punkt Rassismus bei der Juryauswahl ein neuer Prozess verweigert werden muss.
 
Außerdem sagen die beiden Mehrheitsrichter, die Verteidigung habe nicht genug aussagekräftige Daten vorgelegt, eine Behauptung, die man angesichts der umfangreichen Zahlen und Argumente, die die Verteidigung tatsächlich eingereicht hat, nur als grotesk bezeichnen kann. Ich habe darüber einen langen Artikel, „The Distortion of Statistics for Political Goals“, geschrieben, indem ich zeige, wie absurd die Argumentation der Mehrheit des Richtergremiums in diesem Punkt tatsächlich ist.
 
PK: Was ist mit der Aufforderung desselben Staatsanwalts an die Jury, doch im Zweifelsfall zugunsten der Anklage zu irren, da der Angeklagte ja noch „eine Berufung nach der anderen“ haben würde? Das ist doch eindeutig, oder nicht?
 
MS: Diesen Punkt fanden alle drei Richter nicht wichtig genug, um ein neues Verfahren anzuordnen, obwohl entsprechende Bemerkungen desselben Staatsanwalts während der Strafphase des Verfahrens in einem anderen Fall zur Aufhebung des Todesurteils gegen den Angeklagten geführt hatten. Todesstrafenprozesse in den USA bestehen aus zwei Phasen: erstens der Schuldphase, in der es darum geht, ob der Angeklagte das Verbrechen begangen hat, und zweitens, der Strafphase, in der es um die Höhe des Strafmaßes geht, wobei bei Mord praktisch nur Tod oder Lebenslänglich ohne Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung zur Debatte steht. In Mumias Fall hatte der Staatsanwalt die entsprechende Bemerkung in beiden Phasen gemacht, weshalb die Verteidigung auch deswegen nicht nur die Aufhebung des Todesurteils, sondern auch des Schuldspruchs gegen Mumia fordert. Aber trotz des gerade erwähnten Präzedenzfalles, wo ein Todesurteil wegen dieser Bemerkung aufgehoben wurde, wollen die Richter nun nicht anerkennen, dass dasselbe auch für die Schuldphase gelten sollte. Damit haben sie das Prinzip „Im Zweifel für den Angeklagten“ effektiv außer Kraft gesetzt.
 
PK: Und das geradezu abenteuerlich unfaire Verhaltendes Richters Sabo?
 
Tja - in diesem dritten Punkt schließlich erklärten sich die Richter für nicht zuständig – Bundesgerichte wie ihres hätten nicht über einzelstaatliche Anhörungen zur Wiederaufnahme von Verfahren wie die Mumias 1995 bis 97 zu befinden. Sie verweisen dabei auf eine Entscheidung ihres eigenen Gerichts von 2004 – warum sie dann aber Mumia diesen Punkt überhaupt zur Berufung zugestanden haben (das taten sie nämlich erst im Dezember 2005), bleibt ihr Geheimnis. Auch der Sache nach ist diese Entscheidung katastrophal, weil sie im Endeffekt bedeutet, dass sich Richter bei solchen Anhörungen zur Wiederaufnahme von Verfahren aufführen können, wie sie wollen, ohne dass das je von einem Bundesgericht überprüft werden kann. Damit werden solche Anhörungen zur Farce degradiert.
 
Aus dem ganzen Gerichtsbeschluss geht klar hervor, dass hier das Recht gebeugt und teilweise neues Recht geschrieben wurde, nur um Mumia einen neuen Prozess zu verweigern. Das Establishment in Philadelphia und Pennsylvania will diesen Prozess nicht, und es werden starke Kräfte erforderlich sein, um ihn dennoch zu erzwingen.
 
PK: Wird Mumia nun Ihrer Meinung nach tatsächlich sein Leben lang im Gefängnis bleiben müssen, oder sehen Sie eine Chance für einen neuen Prozess? Wenn ja welche?
 
MS: Wer noch lebt, sage nicht niemals! Es gibt immer Möglichkeiten, und im Fall Mumias stehen auch noch ganz normale rechtliche Möglichkeiten zur Verfügung. Die Verteidigung wird bis zum 10. Juni einen Antrag auf erneute Anhörung und Anhörung vor dem gesamten Gericht stellen. Die Entscheidung vom 27. März wurde nur von einer Auswahl von drei Richtern getroffen, und die Verteidigung möchte jetzt erreichen, dass sich das gesamte Gericht mit Mumias Fall befasst. Wir können nur hoffen, dass das Gericht den Antrag annimmt, was bedeuten würde, dass der Fall erneut vor allen Richtern des Gerichts aufgerollt wird. Falls der Antrag abgelehnt wird, werden Mumias Anwälte beantragen, dass sich der US Supreme Court mit dem Fall befasst.
 
Ich persönlich bin der Meinung, dass der Druck des „Gerichts der öffentlichen Meinung“ noch nie so wichtig war wie heute. Angesichts dieser eindeutig politisch motivierten Entscheidung, die auf den Druck des Establishments in Philadelphia hin zustande kam, muss es nun politischen Gegendruck geben, und genau das versucht die Solidaritätsbewegung für Mumia im Augenblick.


Demo in Paris
2003 zum Ehrenbürger von Paris ernannt
Foto: NRhZ-Archiv


PK: Was kann man denn da jetzt noch machen? Gibt es Ideen?

MS: Ich habe oben schon gesagt, dass hier noch einiges – in Wirklichkeit sehr, sehr viel – zu tun ist, aber erste Anfänge sind da, es hat von Berlin über Luzern und Mexico City bis Philadelphia teilweise recht ansehnliche Demonstrationen gegen diese Entscheidung gegeben, und gerade in Philadelphia versuchen die Unterstützerinnen und Unterstützer Mumias derzeit zu mobilisieren, so gut sie können. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Zeitung „Abu-Jamal News“ hinweisen, deren Mitherausgeber ich bin, die eine große Internetplattform mit interessantem und wichtigem Material hat und deren erste beide Nummern in Philadelphia in Massenauflage verbreitet wurden. Die dritte Nummer wird zum amerikanischen Unabhängigkeitstag am 4. Juli erscheinen, und da wird es mit Sicherheit auch wieder Solidaritätsaktivitäten für Mumia in Philadelphia geben.

Mumia in Weimar
Solidarität mit Mumia in Weimar
Foto: Annette Schiffmann


Gerade gestern gab es in Hamburg eine Solidaritätskundgebung für Mumia vor dem US-Konsulat, und weitere, größere Aktionen werden dort für September vorbereitet – was Mumia betrifft, kann es im Augenblick kaum etwas wichtigeres geben als das.
 
An dieser Stelle ist natürlich auch der Film wichtig. Der Film könnte ein enorm wirkungsvolles Instrument der Kampagne für Gerechtigkeit für Mumia werden, wenn er denn endlich an einen Verleih verkauft werden könnte und dann ein größeres Publikum finden würde.
 
Annette Schiffmann
Annette Schiffmann
Foto: Jan Oberg
AS: Außerdem spinnen wir an der Idee einer „Öffentlichen Anhörung“ – mit Prominenten, Richtern, allen Zeuginnen und Zeugen, der Präsentation der neuen Beweise. Wenn ich es mir arbeitsmäßig leisten könnte, würde ich am liebsten für 3 Monate nach Philadelphia gehen und das Ganze organisieren!

PK: Sie haben an diesem Film als Autor mitgewirkt? Wie und wann sind Sie – Sie sind ja eigentlich kein Filmautor, sondern haben ein Buch über Mumia („Wettlauf gegen den Tod“) geschrieben – auf diese Idee gekommen?
 
MS: Mich als Mitautor des Films zu bezeichnen, wäre stark übertrieben. Skript und Konzeption des Films sind von Will Francome und Marc Evans; ich habe am Skript selber nur marginal und in „fachlichen“ Fragen mitgearbeitet. Was stimmt, ist, dass die Filmemacher mein Buch sozusagen zur „ideologischen“ Grundlage des Films gemacht haben, vor allem das erste Kapitel, wo ich darlege, dass es um „Rasse, Klasse und Politik geht. Und natürlich hatten wir intensivste Diskussionen um alles, was mit Mumias Biografie und mit dem unmittelbaren Tatgeschehen zusammenhängt, außerdem Fragen wie Polizeikorruption und -brutalität, die Black Panther Party, die Ermordung des Chicagoer Black-Panther-Führers Fred Hampton, über die Mumia für die Parteizeitung berichtet hatte und über die Noam Chomsky im Film spricht, und vieles andere mehr.
 
PK: Wie kam es zum Kontakt mit William Francome, Regisseur Marc Evans und der Filmproduktion?
 
MS: Das kam über den Vorsitzenden der San Francisco Mobilization to Free Mumia Abu-Jamal, Jeff Mackler, mit dem ich seit 2002 befreundet bin. Er schrieb mir eine Mail, in der er sagte, ein junger Mann namens William Francome habe sich mit der Bitte an ihn gewendet, ihm bei seinem Filmprojekt zu helfen. Da Jeff zum einen sehr beschäftigt ist und zum andern wusste, dass ich zu dieser Zeit – April/Mai 2006 – an der Fertigstellung meines Buchs „Wettlauf gegen den Tod“ arbeitete und daher all die vielen Fakten des Falls besonders präsent hatte, verwies Jeff William an mich, und kurze Zeit darauf kreuzten Will Francome, Livia Giuggioli und ihr Bruder Nicola, der Kameramann ist, auch schon für ein Fünfstunden-Non-Stop-Gespräch in der gemeinsamen Dachwohnung von Annette und mir in Heidelberg auf. Auf dieses Gespräch folgten viele, viele weitere Gespräche, Telefonate, Briefe, zwei Besuche in London und unzählige E-Mails, bis der Film schließlich fertig war.
 
Ich habe also mit meinem Buch den Hintergrund und den „großen Rahmen“ für den Film geliefert und ansonsten als Berater fungiert. Eine kleine Rolle habe ich bei dem Interview mit Noam Chomsky gespielt, den ich seit Jahren kenne und von dem ich wusste, dass er eine Menge zur Ermordung von Fred Hampton in Chicago und zu dem mörderischen Antisubversionsprogramm des FBI COINTELPRO zu sagen haben würde, in dessen Rahmen dieser kaltblütige staatliche Mord stattfand. (Wie es der Zufall will, kommt Chomsky übrigens genau wie Mumia selbst aus Philadelphia.) Aber abgesehen davon sind Ästhetik, Musik, Komposition und Konzeption des Films das Werk der Filmcrew selbst, die Annette, mich, meine Freundin Monika und andere zwar als Versuchskaninchen für ihre verschiedenen Versionen benutzt, ansonsten aber von uns unabhängige Entscheidungen getroffen haben. (PK)
 
Den zweiten Teil dieses Interviews zur Filmrezension in dieser NRhZ-Ausgabe bringen wir in der nächsten NRhZ.

25 Jahre in der Todeszelle
„Wettlauf gegen den Tod“


Michael Schiffmanns Buch „Wettlauf gegen den Tod - Mumia Abu-Jamal: ein schwarzer Revolutionär im weißen Amerika“, ist 2006 bei Promedia, Wien, erschienen. Siehe www.StimmenFuerMumia.de Außerdem hat er Übersetzungen von Texten von Noam Chomsky, Angela Davis, Edward Said u.a. sowie Essays über Politik und Linguistik geschrieben. Mehr dazu auf seiner Webseite  www.AgainstTheCrimeOfSilence.de.

Annette Schiffmann ist Fundraiserin und PR-Beraterin für gemeinnützige Organisationen Leitungsmitglied bei TFF - Transnational Foundation for Future&Peace Research und Co-Autorin von "free mumia - Dokumente, Analysen, Hintergrundberichte". Mehr dazu auf
www.internationalpeaceandconflict.org/profile/AnnetteSchiffmann


Online-Flyer Nr. 149  vom 04.06.2008

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