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Aktueller Online-Flyer vom 23. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Ausgestorbene Spezies
„Loser" Mittelstand
Von Harald Wozniewski

In unserem Flyer 125  vom 12.12.2007 hatten wir unter dem Titel „Die Armut ist sicher" darüber berichtet, dass die Mehrheit der Bundesbürger in spätestens 15 Jahren Armutsrenten erhalten werden. In unserer Ausgabe 128  vom 09.01.2008 hatten wir zum Thema, dass mindestens ein Viertel der Menschen derzeit von Konsum und einem guten Leben ausgegrenzt wird. Heute berichtet Christoph Butterwegge über Kinderarmut. Und der Rest? Er bezeichnet sich wohl noch als Mittelstand und hat nicht gemerkt, dass er ebenfalls seit Jahren Verlierer ist, während Kanzlerin Angela Merkel dies als Aufschwung bezeichnet. – Die Redaktion.

Gehören Sie zur Mittelschicht? Wahrscheinlich nicht. Denn nach Untersuchungen über die zu versteuernden Bruttoeinkommen in Deutschland ist die so genannte Mittelschicht so gut wie ausgestorben. Doch das kann jeder leicht selbst überprüfen. Wir gehen aber jetzt schon davon aus, dass auch sie Verlierer sein werden. Wenn Sie zur Mittelschicht gehören, dann verfügen Sie über eine mittlere Kaufkraft. Kaufkraft ist nichts anderes als Geld, also das, was alle zur Verfügung haben, um ihren Konsum zu befriedigen. Geld in diesem Sinne sind also Bargeld und Girokontenguthaben, Geld- und Kreditkarten. Also ist eine mittlere Kaufkraft eine mittlere Menge an Bargeld oder Geld von ihrem Girokonto.

Sinkende Geldpegel in der Privatschatulle


Dr. Harald Wozniewski ist Rechtsanwalt, 
beschäftigt sich aber mit Gerechtigkeit
Quelle: Dr. Harald Wozniewski
Wie hoch ist nun aber eine mittlere Kaufkraft? Die Deutsche Bundesbank weiß ziemlich genau, wie viel Geld in Deutschland insgesamt vorhanden ist. Sie nennt die Menge des Geldes, das hier angesprochen ist, die Geldmenge M1. Bei der so genannten Geldmenge M2 sind außerdem Termingelder und bei der Geldmenge M3 zusätzlich Spargelder hinzugerechnet, die lassen wir bei unserer Betrachtung mal außen vor und bleiben bei M1 – Ihrem Geld. Die Deutsche Bundesbank sammelt die ständigen Meldungen der Kreditinstitute hierzu und veröffentlicht ihr Wissen jeden Monat in ihren „Monatsberichten". Nach dem neuesten „Monatsbericht Dezember 2007" betrug die Geldmenge M1 im Oktober 2007 ca. 940,0 Milliarden Euro.
 
Man könnte zur Ermittlung der mittleren Kaufkraft – also das Geld, dass sie ausgeben können – jetzt zwar durch die Bevölkerungszahl von 82.314.900 Menschen teilen. Es  macht aber wenig Sinn, Säuglinge und Kinder mitzurechnen. Rechnen wir daher lieber mit der Zahl der Haushalte in Deutschland. Die liegt nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland bei 39.178.000. Die Geldmenge geteilt durch die Zahl der Haushalte ergibt somit die durchschnittliche Kaufkraft pro Haushalt, sie beträgt danach 23.993 Euro.

Bei diesem Betrag handelt es sich auch nicht um ein Monats- oder Jahreseinkommen, sondern um das in dieser Sekunde vorhandene Geld. Wie Sie wissen, verbrennt Geld nicht, wenn man es ausgibt, sondern es wechselt lediglich den Besitzer. Die mittlere Geldmenge ist deshalb wie ein Wasserpegel eines Flusses. Das Einkommen ist das auf den Pegel zufließende Geld, die Ausgaben sind das vom Pegel weg fließende Geld. Das Geld ist aber — wenn man die Volkswirtschaft insgesamt betrachtet — stets vorhanden. Statistisch gesehen verfügt also in dieser Sekunde (Stand: Ende Oktober 2007) jeder Haushalt über 23.993 Euro. Wie gesagt: Im Durchschnitt.
Nun werden Sie einwenden, dass es ja auch den Staat, Kommunen und eine Unzahl von Unternehmen gibt, die man nicht einfach unterschlagen könne. Doch auch sie gehören letztlich irgendwelchen natürlichen Personen, sodass auch das Geld der juristischen Personen am Ende den jeweiligen natürlichen Personen gehört, also auch das Geld von Staat und Kommunen. Bei der gigantischen staatlichen Verschuldung ist allerdings zu bedenken, dass sich dort ohnehin keine nennenswerten Geldbestände finden lassen dürften.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de


95 Prozent der Bevölkerung gehört zu den Verlierern

Zählen Sie also einmal in Ihrem Haushalt alles zusammen: Ihr aktuelles Bargeld und Ihr aktuelles Guthaben auf Ihrem Girokonto. Kein Sparkonto, kein Tagesgeld oder Ähnliches. Wenn Sie ein Unternehmen besitzen, dann zählen Sie auch das Geld dieses Unternehmens oder ihren Anteil daran hinzu. Wenn Sie also zur Mittelschicht gehören, dann verfügt Ihr Haushalt in dieser Sekunde ungefähr über 23.993 Euro in Form von Bargeld und Girokontoguthaben. Wenn Sie weniger als diesen Betrag haben, dann gehören Sie zu den 95 Prozent der Verlierer in dieser Gesellschaft. Wenn Sie mehr haben, dann gehören Sie zu den Gewinnern. In Anlehnung an eine gängige Definition gehören Sie zu den Armen in Deutschland, wenn Ihr Haushalt im Durchschnitt weniger als 12.000 € Geld insgesamt hat. Natürlich muss so viel Geld nicht unbedingt in dieser Sekunde in ihrem Besitz sein. Es sollte aber zumindest im Monats- oder Jahresdurchschnitt zur Verfügung stehen. Dann gehören Sie – unter dem Gesichtspunkt der Kaufkraft – tatsächlich zur Mittelschicht.


Arm und Reich – diese Information war dem KStA am 3. Dezember wichtig
Foto: gesichter zei(ch/g)en


Seit Ende der 1960er Jahre haben aber mindestens 95% der Bevölkerung permanent an absoluter Kaufkraft verloren. Gemessen an der zur Verfügung stehenden gesamten Geldmenge ist ihr Bruttoeinkommen von 1974 bis 1998 um fast 70% gefallen! Nur wenige Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben mit dem Geldmengenwachstum als „echte Mittelschicht” mitgehalten, während lediglich ein paar Tausend Menschen in Deutschland, die zur „Oberschicht” gehören, sich vor Geld kaum noch retten können und gar nicht mehr wissen, wie sie es noch ausgeben sollen.

Und wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel wider besseres Wissen den Menschen vorgaukelt, dass der Aufschwung bei ihnen angekommen sei, sollte sie zur gegenwärtigen Entwicklung lesen, was Ludwig Erhard 1957 gesagt hat: "So wollte ich jeden Zweifel beseitigt wissen, dass ich die Verwirklichung einer Wirtschaftsverfassung anstrebe, die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen vermag. Am Ausgangspunkt stand da der Wunsch, über eine breit geschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden. Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet. Die Neugestaltung unserer Wirtschaftsordnung musste also die Voraussetzungen dafür schaffen, dass dieser einer fortschrittlichen Entwicklung entgegenstehende Zustand und damit zugleich auch endlich das Ressentiment zwischen 'arm' und 'reich' überwunden werden konnten."

Doch offensichtlich hat diese Wirtschaftsverfassung des ungehemmten Kapitalismus – in Schulbüchern noch soziale Marktwirtschaft genannt – die alte Hierarchie des 'oben und unten' wieder hergestellt und eine neue Spaltung der Menschen zwischen einer dünnen Oberschicht und einer „quantitativen sehr breiten Unterschicht” hervorgerufen, die sie vorgab, abzuschaffen. (HDH)

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Dr. Harald Wozniewski ist Rechtsanwalt in Karlsruhe. Er beschäftigt sich u.a. mit dem Banken-, Börsen-, und Kapitalmarktrecht. Besonders gut findet er einen Satz aus der Schweizer Bundesverfassung: „...und dass sich die Stärke des Volkes misst am Wohle der Schwachen".



Wozniewski, H., Wie der Nil in der Wüste
Der moderne Feudalismus in Deutschland - Meudalismus
Eine gesellschaftskritische Studie
Verlag Books on Demand GmbH, Norderstedt, 2007
ISBN 978-3-8334-9717-9, PB, 208 Seiten, 62 Farbgrafiken auf 40 Seiten,
Preis € 24,00, und als Hardcover: ISBN 978-3-8370-0887-6, HC, 208 Seiten, 62 Farbgrafiken auf 40 Seiten, Preis € 34,00

Online-Flyer Nr. 129  vom 16.01.2008

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