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Globales
Interview mit Şengül Şenol über „Kurdenfragen“ und militärische Antworten
„Wenn die Demokratie nicht richtig sitzt...“
Von Christian Heinrici

Şengül Şenol ist Journalistin und Moderatorin der Sendung „Bakış Açısı“ (übertragen „Blickwinkel“) im türkischsprachigen Europasender Kanal Avrupa. Christian Heinrici unterhielt sich mit ihr über den aktuellen Konflikt im Osten Anatoliens, über die Hintergründe des Kampfes, der oft auf eine Auseinandersetzung zwischen „Türken“ und „Kurden“ reduziert wird, sowie über Minderheitenrechte und den Demokratisierungsprozess in der Türkei. Die Redaktion.

Frau Şenol, die Türkei hat sich aus dem Osmanischen Reich, einem Vielvölkerstaat, entwickelt. Warum tut man sich dort im Umgang mit nationalen Minderheiten so schwer? 

sengül senol bei kanal avrupa
Şengül Şenol als Moderatorin        
bei Kanal Avrupa
Dazu müssen wir einen kurzen Blick in die Geschichte werfen: 1923 wurde die Republik gegründet, damals hat Atatürk „das Türkische“ quasi als „Leitkultur“ durchgesetzt. Dann regierte bis 1950 die Einheitspartei – seit 1960 wurde fast im Zehnjahresrhythmus immer wieder – bekanntlich von den USA unterstützt – in der Türkei geputscht. Selbstverständlich gibt es ein parlamentarisches System, aber genauer hingeschaut eben auch sehr viele Probleme mit mangelnder Demokratie. Eines dieser Probleme ist auch die sogenannte „Kurdenfrage“, aber wenn die Demokratie „nicht richtig sitzt“, leidet die gesamte Bevölkerung und alle Kulturen darunter – ob nun Kurden oder Aleviten oder andere.

Was ja zuletzt noch einmal zu starken bewaffneten Auseinandersetzungen führte ... Frau Şenol, wie hat der Konflikt im Osten Anatoliens begonnen?

Die Auseinandersetzungen fingen 1984 an, ausgehend von Gewaltakten der PKK, der „Arbeiterpartei Kurdistans“, und seitdem schwelt dieser Konflikt, zuweilen auch mit starken Ausbrüchen von Gewalt. Die Forderungen nach Anerkennung und Gleichberechtigung der Kurden sind deren Meinung nach bisher nicht ausreichend erfüllt worden ... Seitdem die AKP nun in der Türkei an der Regierung ist, sind einige Schritte in die richtige Richtung unternommen worden: Die kurdische Sprache ist nicht mehr verboten, das türkische Staatsfernsehen TRT bietet Sendungen auf Kurdisch, auf Zaza und anderen Sprachen an. Das reicht noch nicht aus, aber mittlerweile redet man auch in der Türkei wenigstens öffentlich davon, dass es eine „Kurdenfrage“ gibt – genauso appellierte Ministerpräsident Erdoğan für die friedliche Lösung des Konfliktes.

Türkisch nationalistische Demo in Köln Wolfgang Geissler
Türkisch patriotistische Demo in Köln – mit dabei Atatürk (aus Pappe)
Foto: Wolfgang Geissler

Natürlich gehen in dieser Frage die Absichten der Regierung und die Absichten des Militärs sowie auch die Absichten einiger kurdischer Vertreter auseinander – so kann es natürlich auch schnell zu Zusammenstößen kommen: Die kurdische Partei DTP sitzt im Parlament, und nach den letzten Angriffen und der Entführung dreier türkischer Soldaten hatten sich Vertreter der DTP für deren Freilassung eingesetzt. Das wiederum hatte aber zu einem mittleren Eklat geführt, weil im Zuge dessen die (verbotene) PKK-Fahne gezeigt wurde. Seitdem läuft ein Parteiverbotsverfahren gegen die DTP. Ich hoffe nicht, dass es dazu kommt, denn genau das hat sich in der Vergangenheit nicht positiv ausgewirkt: Es ist nicht gut für die Türkei, für die Demokratie in der Türkei und auch nicht für die Kurden.

Sie sagten, die Absichten der türkischen Regierung und die des Militärs gingen auseinander ... könnten Sie das bitte genauer erklären?

Den letzten Militärputsch gab es in den 80er Jahren, dennoch ist der Einfluss des Militärs auf die Politik nach wie vor sehr groß – zuletzt gab es Einmischungsversuche bei der Wahl von Abdullah Gül zum Staatspräsidenten. Auch der Haushalt des türkischen Militärs ist mit etwa 5,7 Mrd. Euro (im Jahre 2006) nach wie vor überproportional hoch. Der Demokratisierungsprozess geht wie gesagt in die richtige Richtung, aber in Bezug auf die „Kurdenfrage“ vertritt die Armeeführung eine andere Ansicht als die Regierung. Positiv bewerte ich allerdings, dass mittlerweile sogar ehemalige Putschisten, wie der General Kenan Evren, sagen: „Wir müssen die ‚Kurdenfrage’ lösen – das kann so nicht weitergehen... wir haben in der Vergangenheit Fehler gemacht...“ Also im Endeffekt ist es sehr erfreulich, dass auch die Generäle einsehen, dass man den Konflikt nur auf friedlichem Wege lösen kann. Nun müssen auch die Kurden von der Gewalt Abschied nehmen.

Ein weiterer positiver Faktor ist der Dialog mit der EU und die sogenannten Europäisierungsreformen, die die Türkei eingeleitet hat, die auch zur Folge hatten, dass man seitdem öffentlich über die „Kurdenfrage“ redet. Ministerpräsident Erdoğan versucht diese für die Demokratisierung wichtigen Schritte zu unternehmen, was ich vorher von ihm nicht unbedingt erwartet hätte. 

Recep Tayyip Erdogan
Recep Tayyip
Erdoğan im Wahlkampf
Quelle: wikipedia.de

Wie kam es denn in den letzten Wochen zu der Eskalation des Konflikts, wenn doch alles in die richtige Richtung geht?

Das hat verschiedene Gründe: Eine sehr eigenartige Sache – wie es mir erscheint – ist, dass immer etwas Schlimmes passiert, wenn die Türkei versucht, dieses Problem zu lösen... Unmittelbar nachdem Abdullah Gül sein Amt angetreten hatte, reiste er zur ersten Visite als Staatspräsident in den Osten der Türkei, um die kurdischen Gebiete zu besuchen. Auch Erdoğan  hatte schon vor zwei Jahren angekündigt, dass er die „Kurdenfrage“ lösen wolle. Außerdem hat die AKP dort einen beträchtlichen Wählerstamm. Derweil greifen auch einige der Demokratiereformen: Mittlerweile sind in der Türkei Referenden möglich, und der Staatspräsident wird nun alle vier Jahr direkt vom Volk gewählt. Man redete sogar schon von „Basisdemokratie“, die kurdische Partei DTP wurde im türkischen Parlament mit Handschlag, sogar auch von den Nationalisten, begrüßt – und dann, kurz danach, flammte der Konflikt im Osten der Türkei wieder auf: Das Militär wurde angegriffen, dreizehn Soldaten ermordet, dann sieht man überall in der Türkei propagandistisch aufgewertete Trauerzüge, dann wurden noch einmal Soldaten entführt...

So schafft man ein politisches Klima der Gewalt. Das erinnert an 1993, als man auch an der Lösung des Konfliktes arbeitete und dann plötzlich zwanzig Soldaten getötet wurden. Aber wer diesmal genau dahinter steckt, ist nicht eindeutig.

Welche Kräfte hätten denn ein Interesse an einem Aufflammen des Konfliktes?

Bei den letzten Wahlen im Juli hat die DTP weniger Stimmen als erwartet bekommen. Es gibt Beobachter, die behaupten, dass diese Tatsache die PKK beunruhigt habe, da viele Stimmen an die AKP gingen. Da die DTP aber mit 22 Mitgliedern als Fraktion im Parlament sitzt, hätte sie dort ja jede Möglichkeit – auch über die Verhandlungen mit der EU – die vorhandenen Probleme friedlich zu lösen, was sicher auch dem Wunsch der meisten Kurden entspricht. Gewalt verhindert eine Lösung des Konflikts.


Türkisch nationalistische Demo in Köln Wolfgang Geissler
Türkisches Fahnenmeer in rot-weiß – im Hintergrund „Supertürk"
Foto: Wolfgang Geissler


Natürlich gibt es Kräfte innerhalb und außerhalb der Türkei, die ein Interesse daran haben, dass sich das Land stetig in Gewaltsituationen befindet. Denn es ist klar, diejenigen die Gewalt ausüben, brauchen in gewisser Weise auch die Gewalt – dadurch können sie sich beweisen und an Popularität gewinnen.

Sehen Sie Möglichkeiten für eine friedliche Lösung des Konfliktes, Frau Şenol ?

Für mich war Mahatma Gandhi immer ein Vorbild. Alle Menschen – selbstverständlich auch die Kurden – sollten sich einmal vor Augen halten, wie er durch friedliche Mittel die Unabhängigkeit seines Landes erreicht hat. Die Türkei ist nicht mehr das gleiche Land wie vor zwanzig Jahren, sie ist nicht mehr das gleiche Land wie vor zehn Jahren und auch nicht mehr das gleiche Land wie vor zwei Jahren! Das Land hat sich längst durch die Globalisierung verändert. Viele Themen, die noch vor wenigen Monaten nicht in der Öffentlichkeit angesprochen wurden – als Journalistin erlebe ich das ja tagtäglich – werden heute öffentlich diskutiert.

Dieser Konflikt ist durchaus lösbar, und zwar durch demokratische Mittel. Wenn die „Kurdenfrage“ auf friedlichem Wege gelöst wird, haben wir die wichtigste Kurve genommen. Ich hoffe, dass die DTP nicht verboten wird, denn dann hätten die Kurden keine politische Vertretung mehr im Parlament... Ich wünsche mir mehr Klugheit und mehr Geduld im Umgang mit diesen Dingen.

Frau Şenol, vielen Dank für dieses Interview!
(CH)



Online-Flyer Nr. 123  vom 28.11.2007

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