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Aktueller Online-Flyer vom 25. April 2024  

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Globales
Schulden höher als das Bruttoinlandsprodukt
Großbritannien versinkt im Schuldenmeer
Von Jack Williamson

Wie bekannt wurde, beläuft sich die Verschuldung der britischen Haushalte auf insgesamt 1363 Milliarden Pfund. (1 £ =1,43 €) Diese fast unvorstellbare Zahl bedeutet, dass die Briten mit Darlehen und Kreditkarten so viel Schulden angehäuft haben, dass deren Summe das gesamte Bruttoinlandsprodukt des Landes übersteigt. Für dieses Jahr wird es auf 1330 Milliarden Pfund geschätzt. Diese Orgie des Geldleihens hat eine Situation geschaffen hat, in der die Schulden der Bürger Großbritanniens den Wert seiner Wirtschaft übersteigen.
Großbritannien ertrinken Schulden
         
Quelle: imageafter

Leben mit Schulden

Zieht man die Hypothekenschulden, also jene Beträge ab, die bei Banken oder Bausparkassen für den Bau von Immobilien aufgenommen wurden, entfallen auf jeden britischen Haushalt Schulden in Höhe von 8.873 £. Diese Zahl steigt jedoch auf 20.635 £, wenn der Durchschnitt nur auf Grundlage jener Haushalte ermittelt wird, die Darlehen ohne Sicherheit aufgenommen haben – z.B. durch die Verwendung von Kreditkarten beim Einkauf oder Abheben von Bargeld. Im westeuropäischen Vergleich ist die Verschuldung der Bürger Großbritanniens im Durchschnitt doppelt so hoch wie die der Bürger anderer westeuropäischer Staaten.

Der Finanzberater Grant Thornton führt dieses Kreditniveau auf eine „Kauf-jetzt-zahl-später“-Kultur zurück, in der man sich seine iPods, DVD-Spieler, Fernseher, Waschmaschinen und anderen Konsumartikel kauft und dann mit den Schulden lebt. Er warnt, dass, sollten die Darlehenszinsen steigen, dies für Familien wie Singles erhebliche Probleme aufwerfen wird.

Explosion auf dem Immobilienmarkt

Eine Ursache für die Explosion der Privatdarlehen in Großbritannien war der Immobilienmarkt. Um mit dem Anstieg der Immobilienpreise mithalten zu können, müssen die Menschen immer höhere Hypotheken aufnehmen. Schätzungen zufolge steigt der Wert eines durchschnittlichen Hauses in Großbritannien täglich um 42 £, und heute sind die Immobilienpreise so hoch, dass die meisten jungen Leute, die ohnehin meist bereits mit ihren Studiendarlehen und –gebühren belastet sind, von einem eigenen Haus nicht einmal träumen können – dies gilt insbesondere, wenn sie aus der Arbeiterklasse stammen.

Der Regierung Brown zufolge betrug im Juli 2007 der Durchschnittspreis für Immobilien in Großbritannien 218.479 englische Pfund bei einer Preisinflation von bis zu 12,4 Prozent jährlich. Dies hat zur Folge, dass Einzelpersonen und Familien, um im Königreich Immobilien kaufen zu können, höhere Kredite aufnehmen, als sie je zurückzuzahlen hoffen können. Steigen die Zinsen und damit auch die monatlichen Darlehensraten, werden sie nicht mehr in der Lage sein, ihre Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen und laufen Gefahr, ihre Wohnungen zu verlieren. Die Schulden jedoch werden sie weiter zu Boden ziehen.
 
       Kauf jetzt, zahl später
       Foto: Paul Georg Meister | Quelle: pixelio

Die Zahl der Immobilienpfändungen durch die Kreditgeber – meist Banken, Hypothekengeber und Bausparkassen – ist im vergangenen Jahr um ein Drittel gestiegen, ebenso die Zahl der Privatinsolvenzen, Pleiten und gerichtlichen Insolvenzverfahren. Dies war die Folge fünf relativ geringer Zinssteigerungen während der vergangenen zwölf Monate. Heute jedoch ist die Lage so labil, dass sich, so wird geschätzt, zweieinhalb Millionen Menschen große Sorgen um ihre unmittelbare finanzielle Lage machen müssen.

„Nehmen Sie nur …“

Darlehensgeber scheinen in einer Fantasiewelt zu leben, in der sie bereit sind, jedem, der sich an sie wendet, Geld nachzuwerfen, unabhängig von seiner Fähigkeit oder Unfähigkeit, die geliehenen Beträge auch zurückzuzahlen.

In den Vereinigten Staaten hat im August die dramatische Unfähigkeit einer großen Zahl mittelloser Leute, ihre Hypothekenschulden zurückzuzahlen, zu einer schweren Krise geführt. Dies hat international Schockwellen ausgelöst, die noch nicht verhallt sind, und die Schuldenkrise in Großbritannien ins Rampenlicht gerückt. Die US-amerikanische Gepflogenheit, den ärmsten, ,ninjas’ [1] genannten Bevölkerungsschichten zu anstößigen Bedingungen das Geld nachzuwerfen, hatte für diese katastrophale Folgen.

Auch in Großbritannien ist keine Gesellschaftsschicht oder soziale Klasse von den Schwindel erregenden Schulden unberührt geblieben. Selbstzufrieden sitzt die gesamte britische Gesellschaft auf einer Schuldenbombe. Je höher das Einkommen, desto höher sind die Darlehen, die jemand aufnehmen kann und desto mehr wird er oder sie dazu ermutigt, In der Vergangenheit konnten sich Familien häufig darauf verlassen, dass die Inflation den Realwert ihrer Schulden zunichte machen würde, doch wenn die Preisinflation (außer auf dem Immobilienmarkt) allgemein gering ist, hat wer in den Strudel der Privatdarlehen geraten sind, wenig Chancen, diesem wieder zu entkommen.

Siege des Thatcherismus

Was heute Grund zur Sorge gibt, ist das Resultat des vollständigen Siegs der Politik des Thatcherismus, 1997 von New Labour unter Tony Blair fortgeführt. Den Grundideen des Thatcherismus zufolge sind staatliche Regulierungsmaßnahmen überflüssig und Privatisierung unabdingbar, man vertraut völlig darauf, dass letztlich der Markt selbst der beste Regulator sei.

England Schulden Ratten Darlehen

Zuviel Schulden?
Foto: beatnic

Die Folgen liegen offen auf dem Tisch: das Kreditwesen ist total außer Kontrolle geraten; was öffentliche Dienstleistungen sein sollten, unterliegt den anarchischen Gesetzen des Markts und soll Profit abwerfen; lebenswichtige Bestandteile des öffentlichen Sektors wurden privatisiert, ohne dass die Regierung irgendeine Kontrollfunktion ausgeübt hätte. Nichts darf die freie Marktwirtschaft behindern. Frei ist sie, sozial ganz sicher nicht.

In all dem liegt eine tiefe Ironie. Die Ehrfurcht gebietende Summe, die zur Verfügung gestellt wurde, um Millionen von Menschen in den Schuldturm zu sperren, verhilft zugleich dazu, die Fiktion aufrecht zu erhalten, die britische Wirtschaft sei die – je nach Bericht – viert- oder fünftstärkste der Welt. Im Oktober z.B. hat die rechte, Tory-treue Daily Mail einen Bericht veröffentlicht, demzufolge leben in der angeblich so mächtigen britischen Wirtschaft fast acht Millionen „wirtschaftlich nicht aktive“ Bürger im arbeitsfähigen Alter. . In Wirklichkeit ist die Zahl der Arbeitslosen also erheblich höher als jene 1,65 Millionen, von denen offiziell die Rede ist. Und wenn die Wirtschaft so stark ist, wie uns die Politiker weismachen wollen, warum finden dann in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Transport grausame Einsparungen statt?

Auf der Schuldenbombe

Niemand weiß, wann uns die Konsequenzen all dessen in voller Härte treffen werden, aber dass Großbritannien in der Patsche sitzt, steht außer Diskussion. Oder was bedeutet es, wenn britische Kinder auf der Rangliste der physischen und psychischen Gesundheit Jugendlicher aus den reichsten Ländern der Welt an letzter Stelle stehen? Unicef hat festgestellt, dass sie sich als unglücklicher betrachten, mehr Alkohol trinken, mehr Drogen nehmen, häufiger als Minderjährige Sex haben, öfter in der Schule scheitern und mehr Gewalt und Mobbing erleben als ihre Altersgenossen in den 21 reichsten Nationen der Welt.

Wenn die Schuldenbombe hochgeht, wird die gegenwärtige Situation, in der ein Viertel der britischen Kinder in Armut leben und vermutlich ihr gesamtes Erwachsenenleben in Armut verbringen werden, unüberschaubare Ausmaße annehmen.

Großbritannien Schulden Armut
Ein ganzes Leben in Armut
Foto: Clive Power

Das muss etwas zu bedeuten haben

In Ländern wie Deutschland finden es die Möchte-Gern-Thatcheristen und -Blairs schick, neidisch auf die angeblich lebhaft pulsierende britische Ökonomie zu schielen. Doch das ist eine Illusion und, was schlimmer ist, eine Illusion, mit der sich immer weniger Meinungsmacher, Politiker und sogar große Teile der britischen Bevölkerung bereit sind auseinanderzusetzen.

Die allgemeine Weigerung, in den Abgrund zu schauen, ist so groß, dass Geld das unbeliebteste Gesprächsthema der Nation geworden ist. Eine Untersuchung der großen Scottish Widows-Versicherung hat ergeben, dass die Mehrheit der sonst sehr verklemmten Briten jetzt lieber über Sex als über Geld reden würde.

Das muss doch etwas zu bedeuten haben ... (YH)

[1] no income no jobs and assets – kein Einkommen, keine Arbeit und Vermögen

Aus dem Englischen von Endy  Hagen



Online-Flyer Nr. 120  vom 07.11.2007

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