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Literatur
Rezension: Kiplings „Dschungelbuch“ – mit Illustrationen von Robert Ingpen
Mowgli lebt weiter!
Von Uli Klinger

Nun, die Geschichte von Mowgli, Baloo dem Bär und dem Panter Bagheera setzte ich einfach mal als bekannt voraus. Schlimmstenfalls sind wir mit den Figuren aus Walt Disneys Filmproduktion aufgewachsen, bestenfalls haben wir das Werk in einer der schier unerschöpflichen Jugendbuchklassikerreihen gelesen. Meist verkürzt, die Übersetzungen weichen in der Qualität oft voneinander ab. Aber da muss man/frau sich nicht aufregen. Das ging schon mit jedem Klassiker der Weltliteratur so, warum sollte es also hier anders sein?!


Alte Originalausgabe des „Dschungelbuchs"
Bild:
Sanjay Tiwari




Mich auf jeden Fall hat diese Geschichte geprägt (und ich habe heute keine Ahnung mehr, welche Ausgabe ich genossen habe). Aber ich weiß noch genau, dass ich dieses Buch nicht nur einmal verschlungen, dass ich mit meiner Großmutter darüber diskutiert habe und es damals nie romantisierend, sondern äußerst real betrachtet habe. Denn ich habe die Geschichte immer so verstanden, dass Freund- und Feindschaft zwischen sich eigentlich fremden Wesen möglich ist. Und dass Solidarität (diesen Begriff habe ich damals garantiert noch nicht benutzt) lebbar ist, aber auch oft nach außen durchgesetzt werden muss.

Der Tiger Shere Khan, sein Anspruch auf Herrschaft und sein Hass waren echt, eine Übertragung auf das tatsächliche Leben zum Ende der 1950er Jahre leicht. Denn obwohl Krieg und Nazibarbarei noch außerhalb meiner Wahrnehmung waren, die Folgen davon waren natürlich sichtbar. „Rucksackdeutsche“ (Flüchtlinge) in der eigenen Familie, Kriegsversehrte, Wohnungsnot. Über die Ursache von all dem wurde zuhause natürlich nie gesprochen, aber trotzdem war es schon mir als Kind klar, dass da irgendetwas gewesen sein musste, über das die Erwachsenen nicht sprechen wollten. All dies Unbegreifbare interpretierte ich ebenso in „mein“ Dschungelbuch hinein und zog daraus meine kindlichen Schlüsse.

An Illustrationen in diesem magischen Buch erinnere ich mich nicht. Sie waren wohl vorhanden, hinterließen aber keine bleibenden Spuren, hatten offensichtlich keinerlei Erinnerungswert.

Als junger Erwachsener (und Vater), geprägt von dem Misstrauen der 68er gegenüber tradierten Erziehungsmustern, spielte das Buch dann keine große Rolle mehr. Es stand zwar bei meiner Tochter im Bücherschrank, aber ich erinnere mich an keine diesbezügliche Vorleseaktion oder Diskussion darüber. Dann schlug Walt Disney zu, und mit dieser Art der Infantilisierung konnte ich mich nie anfreunden – mit dem Film ja, aber der hatte mit meinem Lesestoff nun absolut nichts mehr zu tun.



Illustration von Robert Ingpen | Illustration von Walt Disney
Bilder: Ingpen und Disney-DVD

Und dann spielte dieses Buch jahrzehntelang keine Rolle mehr für mich. Auch in meinem Beruf als Buchhändler nicht. Diese Art der Klassiker waren nicht mehr gefragt. Es stand im Verkaufsregal und wurde weder von mir noch der werten Kundschaft beachtet.

Und dann fiel mir vor einiger Zeit eine Neuausgabe in die Hände. Großformat, schwer, unhandlich! Eine herrliche Abbildung von Mowgli und Bagheera auf dem Titelbild, sehr preisgünstig vom Arena-Verlag herausgebracht. Zuerst begeisterten mich nur die Illustration: herrlich realistische Bilder, und trotzdem geheimnisvoll – ganz dem Inhalt des Buches entsprechend. Und ich begann die ersten Sätze zu lesen. Es war wie eine Wiedergeburt, ein Eintauchen in eine längst vergessen gewähnte Welt. Alles war plötzlich wieder da.

Die Spannung und der Trost, den mir dieser Text einst geschenkt hatte und der Teil von dem ist, was ich heute bin. Aber jetzt mit den richtigen Bildern versehen, die zum Betrachten anregen, zum Gespräch zwischen Kind und Erwachsenen auffordern. Dafür kann man/frau sich nur bei Robert Ingpen bedanken. Wie viel Arbeit, wie viel Herzblut und einfühlsame Gedanken hat er hier investiert! Ingpen ist Australier, einer der bedeutsamsten Buchgestalter und mit der Hans-Christian-Andersen-Medaille ausgezeichnet. Ein Dank an ihn und natürlich auch posthum an Rudyard Kipling für dieses Buch! In gegenseitiger Ergänzung der Fähigkeiten beider ist ein Meisterwerk gelungen, das ich nur empfehlen kann. Schenken Sie es sich, ihren Kindern oder wem auch immer. Dieses Buch ist einfach wunderschön, ein wahrer Klassiker der Weltliteratur!


Illustration: Robert Ingpen, 1963

Was Mowgli heute in den Köpfen und Herzen der Kinder auslöst, weiß ich nicht. Aber es kann eigentlich nur zu unserem aller Wohl sein, denn Toleranz und Einfühlvermögen können wir in unserer Gesellschaft brauchen, nackte Ellenbogen haben wir genug!

Ulrich Klinger sucht für Sie Literatur aus, gerne auch vor Ort.

Online-Flyer Nr. 116  vom 10.10.2007

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