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Inland
Anmerkungen zu einem jüngst „aufgetauchten" Video
„Bild“ und der Tod des Jürgen W. Möllemann
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Am 5. Juni 2003 kam der 1945 in Augsburg geborene FDP-Politiker und Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, Jürgen W. Möllemann, beim Fallschirmspringen ums Leben. Ob es sich dabei um Mord, Selbstmord oder Unfall gehandelt hat, ist nicht geklärt. Mehr als vier Jahre später schaltet sich die Bildzeitung ein.

Am 29.6.2007 bringt 'Bild' einen groß aufgemachten Artikel über ein Video, das angeblich die Selbstmord-These belegt. Das Video zeige (mittels einer Aufnahme nach dem Todessturz), daß das Gerät, mit dem das automatische Öffnen des Reservefallschirms auslöst wird, ausgeschaltet gewesen sei.


J. W. Möllemann: Von 18 auf 0 Prozent nach Todessturz im Jahr 2003
Foto: Ingo Kramer/wikipedia

In der Bild-Zeitung heißt es wörtlich: „Es muß Selbstmord gewesen sein! Nur diesen einen Rückschluss lässt ein Video zu, dass jetzt bekannt geworden ist. Dave L., einer der mitgesprungenen Fallschirm-Kameraden, filmte Möllemanns Todessprung mit einer Kamera. Das Video, dass auch Bestandteil der Ermittlungsakte war, liegt BILD vor. Es dauert 15 Minuten und 41 Sekunden [...] Einer der Fallschirmspringer nestelt an seinem Rücken, will das Notsystem kontrollieren: 'Es ist aus!' Ein anderer ruft: 'Film!' Die Kamera richtet sich auf das Gerät (das den Reserveschirm automatisch bei einer bestimmten Höhe auslöst) – 'alles klar, er hat es ausgelassen. Boah ...' Ein Kamerad: 'Deshalb hat der vorhin an der Theke so gekichert, als er das letzte Glas Wasser geholt hat.' Eine weitere Stimme: 'Der hat es ausgelassen ... Neeeein!' Den entsetzten Springern wird schlagartig klar, warum sich Möllemann im Clubraum des Sportflugplatzes noch ein Glas Wasser holen wollte: Bevor die Fallschirmspringer an Bord der Maschine gingen, hatten sie zur Sicherheit gegenseitig ihre 'Airtec'-Notsysteme kontrolliert. Möllemann entzog sich der Kontrolle. Sonst wäre ja aufgefallen, dass sein Notfallschirm deaktiviert war! Jetzt endlich, nach vier Jahren, findet die Akte Möllemann ihren Frieden."


'Bild', 29.6.2007: „Kameraden untersuchten am Boden seinen Rucksack: Die rote Kontroll-Leuchte für den Notfallschirm ist aus –- im Display rechts erscheint keine Anzeige" | Foto: A. Fikentscher, arbeiterfotografie.com

Die 'taz' greift die Geschichte auf und schreibt auf ihrer website am Tag, an dem die Bildzeitung mit dem Möllemann-Artikel erscheint, folgendes: „Aus dem Video eines Team-Gefährten ergeben sich laut 'Bild' jedoch 'klare Hinweise', dass Möllemann sich selbst das Leben nahm. Die Schlüsselszene dafür ist laut 'Bild' die Reaktion von Möllemanns Fallschirmspringer- Kameraden am Schluss des Videos. Zu sehen ist der Rucksack des Toten mit dem nicht aktivierten Notsystem, das automatisch den Reserve- Fallschirm ausgelöst hätte. Die Kameraden Möllemanns diskutieren darüber, dass der FDP-Politiker vor dem Einsteigen in die Maschine auf dem Sportflugplatz Marl/Lohmühle in Nordrhein-Westfalen die gegenseitige Kontrolle dieses Notsystems ausgelassen habe, als er noch ein Glas Wasser trinken gegangen sei." (www.taz.de) Das ist exakt der Wortlaut einer DPA-Meldung vom gleichen Tag. Lediglich der Einstieg vor der zitierten Passage ist leicht verändert und auf die taz-Leserschaft zugeschnitten.

Zurück zum Bild-Artikel: Dort lesen wir von einem Dave L.. Was verbirgt sich hinter dieser Abkürzung? Bereits am 16.6.2003 ist im 'Focus' die Rede von dem Video, das vier Jahre später bei 'Bild' 'aufgetaucht': „Die Tragödie filmt Sprungkamerad Dave Littlewood."

'Bild' gibt mehrere Äußerungen wieder, die den Eindruck erwecken, als seien sie Zitate von 'Kameraden' an der Absturzstelle. Das Video - so wie es von 'Bild' auf deren website abrufbar ist, enthält diese Äußerungen bis auf eine ('alles klar, er hat es ausgelassen') aber nicht.

'Bild' behauptet: „Möllemann entzog sich der Kontrolle. Sonst wäre ja aufgefallen, dass sein Notfallschirm deaktiviert war!" Das widerspricht Augenzeugendarstellungen, wie sie am Tag des Todessturzes oder kurz danach veröffentlicht worden sind. Das 'Hamburger Abendblatt' gibt am 6.6.2003 einen Augenzeugen wie folgt wieder: „Wie alle anderen habe er vorschriftsmäßig alle Sicherheitssysteme am Fallschirm eingeschaltet." (www2.abendblatt.de) Und die 'FAZ' am 5.6.2003: "Der Zeuge berichtete unmittelbar nach dem tödlichen Sprung am Donnerstag, Möllemann sei am Mittag gemeinsam mit neun weiteren Fallschirmspringern auf dem Flugplatz Marl-Loemühle in ein Kleinflugzeug des Typs 'Pilatus Porter' gestiegen. 'Wie alle anderen hat er der Vorschrift entsprechend alle Sicherheitssysteme am Fallschirm eingeschaltet.'" (www.faz.net) Und an anderer Stelle im gleichen Artikel heißt es (gemäß einer Reuters-Meldung): „Der Notschirm sei nicht ausgelöst worden und ein automatisches Rettungssystem, das sich selbst bei Bewußtlosigkeit des Springers aktiviere, habe den Rettungsschirm nicht gezündet, berichtete der Zeuge weiter. 'Das Rettungssystem war aber vor dem Abflug eingeschaltet worden.'" (www.faz.net)


'Bild'-Werbung für Wahrheit
Foto: H.-D. Hey, arbeiterfotografie.com

Damit bricht die Argumentation der Bildzeitung in sich zusammen. Selbst wenn das Video in allen Teilen echt ist, tatsächlich den Sprung Möllemanns wiedergibt, tatsächlich seinen und nicht einen anderen Rucksack zeigt oder in Teilen zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort aufgenommen ist, ist das Video somit keinerlei Beweis für die Selbstmord-These.

Die Argumentation der Bildzeitung:
  • Das Video zeigt: das Notsystem war ausgeschaltet - nach dem Sprung
  • Es wird suggeriert, daß das Notsystem auch vor dem Sprung ausgeschaltet war
  • Es wird (im Widerspruch zu den zitierten Augenzeugen) behauptet, Möllemann habe sich vor dem Sprung der Kontrolle entzogen
  • Über die angebliche Nicht-Kontrolle soll zusätzlich suggeriert werden, das Notsystem sei vor dem Sprung ausgeschaltet gewesen
Es wird also geschlossen: wenn das Notsystem nicht kontrolliert wurde (was zweifelhaft ist), war es ausgeschaltet. Diese Schlußfolgerung entbehrt jeder Grundlage. Und der generelle Schluß, daß wenn das Notsystem nach dem Sprung ausgeschaltet war, dies auch vor dem Sprung so gewesen sein muß, ist ebenso absolut unzulässig.

Wenn das Notsystem vor dem Sprung ein- und nach dem Sprung ausgeschaltet war und es für den Springer im angelegten Zustand nicht erreichbar war und damit von ihm selber nicht ausgeschaltet werden konnte, dann ist in jedem Fall zu berücksichtigen, daß das Ausschalten auf andere Weise herbeigeführt wurde: es kann sich durch einen Defekt selber ausgeschaltet haben. Es kann durch den Aufprall so beschädigt worden sein, daß die Stromzufuhr zum Display unterbrochen worden ist. Oder es kann durch einen Fremdeingriff ausgeschaltet worden sein. Dies kann während des Sprungs per Ferngesteuerung erfolgt sein oder durch Eingriff in die Software in der Weise, daß es sich während des Sprungs unter bestimmten Bedingungen selber ausgeschaltet hat. Es gibt keine Begründung dafür, derartige Gedanken auszuschließen. Im Gegenteil: sie liegen sehr nahe!

Nochmal 'Bild' vom 7.6.2003: „Seine [Möllemanns] Fallschirmausrüstung könnte - von wem auch immer - manipuliert gewesen sein." Und weiter 'Bild' vom 7.6.2003: „In Möllemanns Verein ('Fallschirmsportclub Münster') gab es vor vier Jahren einen aufsehen erregenden Fallschirm-Mord." Der Krankenschwester Andrea U. (31) sei der „Hauptschirm verdreht und die Sicherheitsautomatik für den Reserveschirm zerstort" worden."

Eine weitere Frage: wo ist das Gerät des Notsystems zum automatischen Auslösen des Reserveschirms geblieben, das gemäß Video und 'Bild' unmittelbar nach dem Sturz noch vorhanden gewesen sein soll - wenn auch angeblich ausgeschaltet? Kurz nach Möllemanns Tod war berichtet worden, daß es zwei Tage nach dem Sturz noch nicht gefunden war. So heißt es z.B. in der 20-Uhr-Tagesschau vom 7.6.2003: „Zwei Tage nach dem Fallschirm-Absturz des früheren FDP-Politikers Möllemann, hat die Polizei die Untersuchung des Unfallortes beendet. Nach ihren Angaben fehlt weiter der Teil der Ausrüstung, der üblicherweise den Reservefallschirm auslöst." (www.tagesschau.de) Und in einer DDP-Meldung vom 7.6.2003 heißt es ähnlich: "...ein elektronisches Gerät, das üblicherweise den Reservefallschirm auslöst, konnte nicht gefunden werden." Wo war das Gerät nach dem Sturz? Wer hat es verschwinden lassen? Und welches Gerät ist von der GSG9 untersucht worden? (HDH)

Film und Text
sind abrufbar unter: www.bild.t-online.de

Online-Flyer Nr. 104  vom 18.07.2007

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