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Inland
Zum 120. Geburtstag des ehemaligen Reichsvorsitzenden der „Freidenker"
Ein großer Unbekannter: Max Sievers
Von Hans-Detlev v. Kirchbach

„Freidenker ist aber nur der, wer sein ganzes Wissen und Können als Rüstzeug im Kampfe für die Erlösung der Menschheit aus geistiger Knechtschaft benutzt." Ein programmatischer Satz von Max Sievers und Leitlinie seines so tragisch geendeten Lebens. Geboren am 11.Juli 1887 in Berlin - von den Nazis ermordet im Zuchthaus Brandenburg-Görden am 17. Januar 1944 – das sind die Eckdaten der wechselvollen Biographie von Max Sievers, die hier nur in Stichworten wiedergegeben werden kann.
Im Januar 1915 wurde der nur widerwillig am Weltkrieg Kaiser Wilhelms teilnehmende Max Sievers schwer verwundet. Kriegsgegnerschaft - das war für ihn nun noch mehr als zuvor ein zentraler Punkt seines politischen Denkens. Seine weiteren Stationen: 1919 Mitgliedschaft in der USPD, 1920 Mitgliedschaft in der KPD. 1922 wurde Sievers Geschäftsführer des 1905 in Berlin gegründeten „Vereins der Freidenker für Feuerbestattung". Die kulturelle und „lebensbegleitende" Arbeit dieser im Umfeld der Arbeiterbewegung angesiedelten atheistischen Vereinigung wurde von Sievers zunehmend politisiert. Nicht nur um existenzielle Alternativen zur kirchlich geprägten „bürgerlichen" Lebenswelt sollte es gehen – deshalb auch die Bezugnahme auf die „Feuerbestattung", die von den Kirchen seit dem 19. Jahrhundert als gottloses Teufelszeugs bekämpft wurde. Über religionsferne Jugendweihe, Ehefeierlichkeiten jenseits der Kirche, Bestattungen ohne Anrufung des Herrn hinaus sollte die weltanschaulich-wissenschaftliche Schulung verstärkt werden. Sievers wollte die Freidenker als politisch agierenden Teil der Arbeiterbewegung kampffähig machen.


     Max Sievers – Freidenker und Nazigegner,
     1944 in Brandenburg hingerichtet – Foto: VVN-BdA


Lebensaufgabe: Aufklärung und Emanzipation

 
Programmatisch formulierte er in der ersten Ausgabe des Verbandsorgans „Freidenker" im Januar 1925: „Millionen unterdrückter Menschen … begreifen nicht, daß eine auf die Spitze ihrer Macht getriebene kapitalistische Wirtschaftsordnung sie in den Weltkrieg hineinschleuderte. Nur allzuschwer dringt die Erkenntnis zu ihnen, daß sie kämpfen müssen um die Befreiung von ihrem Sklavenjoch." Die nächste „Stufe der Erkenntnis" aber könne nur sein: Bewusste Beherrschung der Welt durch den Menschen, Selbst-Bestimmung, kurzum - Sozialismus.
 
Dieses – fast könnte man sagen – Credo bestimmte lebenslang das Denken und Handeln des Max Sievers, dessen Gradlinigkeit, Überzeugungsfestigkeit, Courage und Uneigennützigkeit später auch einen seiner Emigrationsgenossen beeindruckte, der mit ihm zusammen die berühmte antifaschistische Zeitschrift „Freies Deutschland" herausbrachte. Sein Name: Heinz Kühn, der spätere Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen.
 
1927 wurde Max Sievers zum Verbandsvorsitzenden gewählt und trat im gleichen Jahr noch der SPD bei. 1930 wurde der „Verein der Freidenker für Feuerbestattung" in "Deutscher Freidenker-Verband" umbenannt.
 
Höhepunkt und Niedergang des organisierten Atheismus
 
650.000 Mitglieder konnte der Deutsche Freidenkerverband unter Sievers schließlich zählen. Rechnet man die 170.000 Angehörigen des konkurrierenden KPD-nahen Verbandes Proletarischer Freidenker hinzu, so versammelte der „organisierte Atheismus" um 1930 über 800.000 Menschen. Unvorstellbar heute, da der in der BRD wieder gegründete Deutsche Freidenkerverband vielleicht grade mal 3000 Mitglieder aufbringt. Doch dieser Niedergang vollzog sich nicht etwa „naturwüchsig", sondern ist bis heute als direktes Resultat staatlicher Gewalt gegen die atheistischen Organisationen bestehen geblieben.

"Schutzhaft", Verbandsverbot, Ausbürgerung
 
Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 wurde Max Sievers in „Schutzhaft" genommen. Am 17. März 1933 stürmte die SA die Freidenkerzentrale in Berlin, verwüstete sie vollständig, der Verband wurde verboten. Im April 1933 wurde Sievers aus der „Schutzhaft" entlassen und emigrierte nach Brüssel. Am 23. August 1933 bürgerten die Nazibehörden Sievers aus.
 
Emigration und Widerstand
 
Von Max Sievers mit gegründetes Verbandsorgan – Jahrgang 2004
Foto: www.freidenker.de



Der so staatenlos Gewordene verbreitete vom Saarland aus bis zu dessen „Anschluß" ans Reich 1935 weiterhin den „Freidenker". Seit 1937 gab er zunächst in Antwerpen, dann in Paris die Wochenzeitung "Das freie Deutschland" heraus und publizierte 1939 die Schrift "Unser Kampf gegen das Dritte Reich", die in deutscher Sprache von Stockholm aus verbreitet wurde. Im Mai 1940 wurde Max Sievers im nazibesetzten Belgien verhaftet, konnte aber nach Frankreich fliehen und dort als Illegaler mit gefälschten Papieren leben. Am 3. Juni1943: Verhaftung durch die Gestapo und Deportation in das Gestapogefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße, dann in das Untersuchungsgefängnis Berlin-Plötzensee.

 
Faschistische Mordjustiz
 
"Eine andere politische Weltanschauung, noch dazu feige vom Ausland her ...  zu propagieren, uns die Welt als Feinde auf den Hals zu hetzen, ... das ist ein solcher Verrat am eigenen deutschen Volke, daß er nur mit dem Tode gesühnt werden kann." Mit diesen Hassparolen verurteilte der Volksgerichtshof unter Roland Freisler am 17. November 1943 Max Sievers zum Tode. Sievers' konsequente Nazigegnerschaft brachte Freisler so in Rage, daß er – für ein Gerichtsurteil völlig ungewöhnlich – einigen Passagen seiner Urteilsbegründung drei Ausrufezeichen hintanstellte: Sievers habe „daran gearbeitet, uns unsere nationalsozialistische Lebenshaltung zu rauben und im Kriege uns in den Rücken zu fallen und als Kriegsziel unsere Vernichtung in Europa und Amerika zu proklamieren!!!" Am 17. Januar 1944 wurde das faschistische Terrorurteil im Zuchthaus Brandenburg-Görden durch das Fallbeil vollstreckt.
 
Die Gottlosen sind an allem schuld
 
Besonders grotesk müssen vor diesem Hintergrund die unablässig propagierten Thesen aus kirchlicher und kirchennaher Quelle wirken, die Nazis seien angeblich Atheisten gewesen und deshalb seien die Atheisten die eigentlich Schuldigen an den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Namentlich der Kölner Kardinal Meisner hat sich mit dieser Sicht immer wieder hervorgetan. In Wirklichkeit war die brutale Zerschlagung der Freidenkerbewegung eine der ersten Verrichtungen des Naziregimes. Mit der Zerstörung der Berliner Freidenkerzentrale und dem Verbot des Freidenkerverbandes erfüllte das Regime des Katholiken Hitler unverzüglich eine Forderung der katholischen Kirche, allen voran des Münchener Kardinals Michael Faulhaber.
 
Der verkündete in seinem Fastenhirtenbrief vom Februar 1932: "In früheren Zeiten war es ein strafwürdiges Verbrechen, nicht an Gott zu glauben", und forderte zum aktiven Kampf gegen die „Gottlosenbewegung" sowie zu deren Verbot auf. Schon die sogenannte Demokratie von Weimar hatte dem Kardinal einen ersten Vollzug melden können. Am 3. Mai 1932 verbot die Reichsregierung des Zentrumspolitikers und Adenauer-Parteifreundes Heinrich Brüning den KP-orientierten „Verband proletarischer Freidenker Deutschlands" mit seinen 170.000 Mitgliedern. Damit sollte "der kommunistischen Gottlosen-Propaganda der Boden entzogen werden", hieß es ganz im Faulhaber-Stil.

Den nächsten und letzten Todesstoß gegen die "Gottlosenbewegung" führte dann ein Dreivierteljahr später das Naziregime. Es war auch ein Geschenk der braunen Herrscher an den Vatikan und die deutschen Bischöfe als „Gegenleistung" für das berüchtigte "Reichskonkordat", das Hitler international erst richtig „hoffähig" machte.


      Heinz Kühn – gab mit Sievers in der Emigration „Freies Deutschland“            heraus – Foto: www.nrwspd.de

Nazi-Staatsanwalt als „Gewissensprüfer"
 
Es war wohl das einzige Mal, dass Max Sievers im Deutschen Bundestag erwähnt wurde, als im Jahre 1981 der SPD-Abgeordnete Peter Conradi, ein notorischer Antifaschist, seiner sozialliberalen Bundesregierung mit einer höchst peinlichen Anfrage auf die Nerven ging. Er wollte wissen, ob die Regierung "einen ehemaligen Ankläger am NS-Volksgerichtshof, beteiligt an mindestens 50 Todesurteilen", für "geeignet" halte, "als Vorsitzender eines "Prüfungsausschusses für Kriegsdienstverweigerer über die "Gewissensgründe junger Menschen zu entscheiden". Conradis Anfrage bezog sich auf den ehemaligen Anklagevertreter beim Volksgerichtshof, Edmund Stark. Zu den über fünfzig von ihm beantragten Todesurteilen gehörte das gegen Max Sievers. Stark konnte gleichwohl nach 1945 bis zum Posten eines Landgerichtsdirektors in Ravensburg aufsteigen und anschließend als Vorsitzender eines Prüfungsausschusses gegen Wehrkraftzersetzer – pardon – für Kriegsdienstverweigerer amtieren. Selbst dem DDR-Braunbuch war dieser Fall noch entgangen.
 
Angemessen vertreten durch ihren Staatssekretär Penner, räumte die Regierung Schmidt zwar windungsreich ein, dass man einen Volksgerichtshof-Ankläger für die Gewissensprüfung in KDV-Sachen vielleicht nicht für geeignet halten könne, "wenn die in Ihrer Frage enthaltenen Tatsachen zugrunde gelegt werden". Allerdings wollten der Bundesregierung "nähere Einzelheiten" über Starks "dortige Tätigkeit" (am Volksgerichtshof) nicht bekannt sein. Penner & Co. hätten nur ihren Parteifreund Heinz Kühn zu fragen brauchen, der das Urteil des Volksgerichtshofs gegen Max Sievers angeekelt in seiner Autobiographie zitiert. Und dort steht neben dem Namen des obersten Blutrichters Freisler auch der Name des Reichsanklägers beim Volksgerichtshof, Edmund Stark, der später Gehalt und Pension von der Bundesrepublik Deutschland beziehen konnte. Anders als viele Freidenker, denen in der BRD allzu oft selbst Haftentschädigungen verweigert und Pensionen entzogen wurden.
 
Jahrhundert-Bilanz der "Gottlosenbewegung"
 
Zerschlagung der Freidenkerorganisationen, Ermordung von Max Sievers durch den Volksgerichtshof, politische Verfolgung von Freidenkern und Atheisten vor und nach 1945, Beibehaltung der Nazikonkordate nach 1949, Aufzwingen des BRD-Kirchensteuersystems im Gebiet der ehemaligen DDR, konsequente Ignorierung der Persönlichkeit Max Sievers in Geschichtsschreibung und Medien der Bundesrepublik und schließlich völliges Übergehen, gelegentlich auch offene Diffamierung des konfessionslosen Bevölkerungsdrittels durch Kirche und Politik - das ist am 120. Geburtstag von Max Sievers die ungeschönte historisch-aktuelle Jahrhundertbilanz der "Gottlosenbewegung" in Deutschland.
 
Forderungen der Freidenker wie etwa die Abschaffung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen oder der „Militärseelsorge", sind unerfüllt; religiöse Rückstände im Sexualstrafrecht (§175, §218) bewiesen hartnäckige Überlebensfähigkeit teils bis heute; eine vermeintliche Allgemeinverbindlichkeit christlicher Normvorstellungen wird letzthin wieder offen behauptet. Die konfessionslose Organisationsszene dümpelt derweil am Rande der Marginalität. Die Verbandszerschlagung und der hohe Blutzoll, gipfelnd in der Hinrichtung ihres charismatischen Reichsvorsitzenden Max Sievers, traf die Freidenkerbewegung in Deutschland ins Mark; sie hat sich davon nie mehr erholt.

Im Milieu der konservativ-christlichen Restauration unter Adenauer konnte die spezifische „Freidenkerkultur" nur mehr überwintern. Nach dem KPD-Verbot 1956 noch als „Auffangbecken" fungierend, zeitweise auf 30.000 Mitglieder anwachsend, schrumpfte der Freidenkerverband nach Gründung der DKP 1968 auf etwa ein Zehntel zusammen: von 650.000 Mitgliedern 1932 auf etwa 3000 heute.


            Jugendfeier des Freidenkerverbandes Hessen
            Foto: www.freidenker.de

Der kirchliche Mitgliederschwund, das demoskopische Anwachsen der konfessionslosen Bevölkerungsgruppe auf rund ein Drittel - in manchen Regionen der ehemaligen DDR bis weit über 90 Prozent - kommen dem „organisierten Atheismus" weniger zugute, sondern überwiegend der konsumorientierten Indifferenz, aber auch dem Nebelfeld von Esoterik und New Age. Eigentlich wäre eine schlagkräftige Organisation aus dem konfessionslosen Bereich angesagt - doch die Perspektiven dafür sehen eher bescheiden aus. Höchste Zeit, sich eines Max Sievers nicht nur an runden Feiertagen zu erinnern. (PK)
 
Links:
Deutscher Freidenkerverband: http://www.freidenker.de
Deutscher Freidenkerverband Landesverband NRW: http://www.nordrhein-westfalen.freidenker.org
Deutscher Freidenkerverband Ortsverband Köln: http://www.freidenker-koeln.de

Das Sievers-Urteil ist dokumentiert in: Institut für Zeitgeschichte München, Mikrofiche-Edition des Dokumentenwerkes - „Widerstand als Landesverrat"

Online-Flyer Nr. 103  vom 11.07.2007

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