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Kultur und Wissen
Ich suche jetzt auch meine Mitte
"Sie sagen ja jetzt..." - Teil 22
Von Ulla Lessmann

Meine Cousine hat jetzt ihre Mitte gefunden. Früher war das ja die Taille, aber die geht mit der Zeit verloren, auch wenn man auf sich achtet. Jetzt suchen alle ihre Mitte, das ist die neueste Mode, damit die Säfte fließen und die Energien.

Ich habe auch immer viel Gymnastik gemacht, das soll man ja, aber, sagt meine Cousine, wohin und wo da deine Energiesäfte fließen, das merkst du dabei gar nicht, und es kann zu Stockungen kommen, von denen man nichts ahnt, aber wo man dann was hat. Deshalb muß man seine Mitte finden und fühlt sich irgendwie angekommen. In der Mitte.

Ich sehe ein, dass viel Unsinn verschrieben wird, und sechs verschiedene Medikamente, von denen man nicht weiß, wann man sie mit oder ohne Wasser und vor oder nach dem Essen nehmen soll und sowieso meistens wegschmeißt, das ist auch nicht das Richtige. Pi La Tus oder Tai Gong heißt das, was meine Cousine da macht, aber Boxen ist das nicht, obwohl ich das schon mal im Fernsehen gesehen habe, wo sie alle ihre Mitte mit diesem langsamen Boxen fanden und alle keine Arthritis mehr hatten und freundlicher zu ihren Nachbarn wurden. Das wäre mir recht, meine Nachbarin geht mir ziemlich auf den Geist und ich will ihr mal vorschlagen, dass sie sich um ihre inneren Säfte kümmern soll, damit sie ihre Mitte findet und nicht immer das Treppeputzen vergißt.

Bestimmt haben diese neuen Methoden, die ja uralt sein sollen, auch den Effekt, dass man sich besser auf die Reihe kriegt und nicht immer alles vergißt. Mein einer Neffe macht jetzt was, wo sie ihm am Fuß rumdrücken und dann fließt was und er kann seinen Chef besser leiden oder so ähnlich. Vieles sitzt ja im Fuß, habe ich mir sagen lassen, was ich ganz vernünftig finde, denn das ist ja das erste, was einem schwerer fällt im Alter, dass man nicht mehr so gut zu Fuß ist. Die beziehen das Seelische da mit ein, denn wenn sie da rumdrücken, lösen sich die inneren Verspannungen, welche die Energien blockieren, mit denen mein Neffe seinen Chef besser würde einschätzen können, und wenn diese Energien durch das Drücken frei fließen, kommen sie ohne Blockierung in die Mitte, und diese Mitte macht es ihm dann möglich, frei und entspannt zu sein.

Die Krankenkassen bezahlen das alles nicht, sagt meine Cousine, weil sie in verkrusteten Strukturen denken, obwohl man an den Chinesen sieht, dass traditionelle Sachen das Leben verlängern und fruchtbar machen. Nun ist meine Cousine über das Fruchtbare auch schon eine Weile hinaus, und dass man das sieht in dem Sinne, also mit bloßem Auge meine ich, dass sie ihre Mitte wiedergefunden hat, kann ich nun nicht sagen. Aber sie schwört darauf, dass sie durch Ching Gong und Taipi aus dem Bauch heraus fühlt, was für sie richtig ist. Ich habe nicht genau verstanden, ob sie nun aus ihrer Mitte heraus ihren Bauch fühlt oder umgekehrt, aber aussehen tut sie eins A.

Mein Neffe ißt jetzt auch sehr kompliziert, manchmal nur heißes Wasser und manches nur abends und nie vor Vollmond oder nur grünes mit gelbem oder umgekehrt. Junge, habe ich gesagt, das ist doch anstrengend, wenn du nun eigentlich durch die unblockierten Strömungen doch ganz entspannt sein sollst, solltest du nicht immer darüber nachdenken, ob du nun was grünes nach 15.00 Uhr oder was gelbes nicht bei Vollmond essen darfst. Das verstehst du nicht, hat er sagt, weil du immer bloß Aspirin nimmst und Wirbelsäulengymnastik machst, da kann ja nichts fließen bei dir und deine Energie ist total blockiert. Wahrscheinlich hat er Recht, man darf sich neuen Dingen nicht verschließen, vor allem, wenn sie alt sind, und ich geh dann mal zu meiner Cousine und suche auch nach meiner Mitte.

Ulla Lessmanns"Lilien zur Erinnerung"
heißt Ulla Lessmanns neuer Kurzkrimi in: Radieschen von unten - Gartenkrimis vom Tatort Niederrhein mit mörderisch guten Gärtnertipps, Hrsg. Gesine Schulz und Ina Coelen,
Leporello Verlag, Oktober 2006

www.ulla-lessmann.de

Online-Flyer Nr. 72  vom 28.11.2006

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