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Aktueller Online-Flyer vom 04. Mai 2024  

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Medien
Offener Brief an Pleitgens "einstmals kritischen WDR"
"Erbärmliche Schützenhilfe"
Von Ralf J. Münzner

Über den Rechtsrutsch, den der einst von CDU und Konzernpresse gern als "Rotfunk" bezeichnete WDR unter der Intendanz von Fritz Pleitgen machte, haben wir aus verschiedenen Anlässen berichtet - beispielsweise in den NRhZ-Flyern 1, 24, 27, 33, 52. Nun erreichte uns der Offene Brief eines Zuschauers, der sich von der Aktuellen Stunde verabschiedet. Die Redaktion.
Sehr geehrte Damen und Herren,

mit Ihrer Sendung vom heutigen Donnerstag, d. 24.08.06, haben Sie mich als regelmäßigen Zuschauer der "Aktuellen Stunde" endgültig verloren.

Es ist nicht mehr länger erträglich, mitverfolgen zu müssen, wie die etablierten Medien - und nun zum wiederholten Male auch die "Aktuelle Stunde" - den katastrophalen Umwälzungsprozess, der in Deutschland in vollem Gange ist, weitestgehend ignorieren. Statt dessen wird ungeniert, sozialzynisch und faktisch falsch über "Hartz-IV-Abzocker" berichtet und erneut gezielt der Eindruck erweckt, Betrug sei dabei "üblich" und geschehe "massenhaft". Sämtliche anderslautenden (statistische und wissenschaftliche) Erkenntnisse werden hingegen von Ihnen nicht zur Kenntnis genommen und kommen in Ihrer Berichterstattung nicht vor.

Es gibt keine Belege für einen "massenhaften Missbrauch" bei "Hartz IV". Ganz im Gegenteil müsste es eigentlich Ihr journalistisches Interesse wecken, dass unfreiwillig arbeitslos gewordene Menschen in diesem Land (über die massenhaften Entlassungen berichten Sie ja oft genug) gezielt verarmt und enteignet werden, dass ihnen essenzielle Grundrechte aberkannt werden und dass beispielsweise unverheiratete Partner von Amts wegen für "gegenseitig einstandspflichtig" erklärt werden, was jeder Rechtsprechung schlicht Hohn spricht.

Es ist bezeichnend, dass Sie in derselben Sendung über eine ehemalige Unternehmerin berichten, die - vermutlich aufgrund der desaströsen Wirtschaftspolitik - nunmehr ebenfalls völlig verarmt ist und - in einem der reichsten Länder der Erde - ohne Krankenversicherungsschutz dasteht. Sollte der 400-Euro-Job jener Dame ihre einzige Einnahmequelle sein, ist auch sie "Hartz IV"-Empfängerin bzw. hat ein Anrecht auf Auszahlung von Leistungen (und ist damit gesetzlich krankenversichert). Auf diesen seltsamen Widerspruch gehen Sie jedoch nicht ein. Ebenso wie diese Frau leben aber Millionen von Menschen in diesem Land, die - oftmals trotz guter bis sehr guter, nicht zuletzt auch akademischer Ausbildungen - mit Niedrigstlöhnen oder gar Zwangsarbeit abgespeist werden. Auch dies ist Ihnen keinen Hinweis wert. Die Untersuchungen beispielsweise des Soziologen und Armutsforschers Prof. Butterwegge von der Universität zu Köln sind Ihnen offenbar nicht bekannt.

Im direkten Anschluss an die von Ihnen ausgestrahlte Missbrauchspropaganda zu "Hartz IV" scheuen Sie sich nicht, einen Beitrag über eine erhebliche Millionenspende der Wirtschaft für ein Museum zu senden - genau der Wirtschaft, der es angeblich so schlecht geht und die immer weitere Zehntausende von Menschen auf die Straßen setzt (und damit "Hartz IV"-Opfer produziert), Löhne kürzt und sich immer weiter aus der Solidargemeinschaft der Menschen zurückzieht, während sie gleichzeitig die größten Gewinne seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland einfährt. Ist Ihnen inzwischen jedwedes Gefühl für Verhältnismäßigkeit und die journalistische Kritikfähigkeit abhanden gekommen - oder werden Sie selber unter Druck gesetzt, um solche zynischen, fast schon aberwitzigen Sendungen zu produzieren?

Es ist erbärmlich, dass der einstmals kritische Sender WDR nunmehr Schützenhilfe für die Entfesselung des Raubtierkapitalismus leistet, dem der Großteil der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land zum Opfer fallen wird und der unser Grundgesetz und die Demokratie gefährlich erschüttert.

Ich jedenfalls werde Ihre Sendung, die ich früher sehr geschätzt habe, nunmehr meiden. Propaganda, Desinformation und kritikloses Wiederkäuen neoliberaler und neokonservativer Ideologismen möchte ich nicht auch noch im WDR ansehen müssen.
Mit den besten Grüßen

Ralf J. Münzner

Online-Flyer Nr. 59  vom 29.08.2006

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