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Aktueller Online-Flyer vom 28. April 2024  

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Globales
Interview mit Giyasetin Sayan von der Berliner PDS-Fraktion
Den historischen Fehler nicht wiederholen
Von Horst Pankow

Der im kurdischen Teil der Türkei geborene Giyasetin Sayan ist Abgeordneter und migrationspolitischer Sprecher der PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Am 19. Mai wurde er in Berlin-Lichtenberg von zwei Männern überfallen und mit einer Flasche niedergeschlagen. Das Gespräch mit ihm wurde Anfang Juni in Berlin für die Zeitschrift "konkret" geführt.
Sayankonkret: Glauben Sie, daß der Überfall von deutschen Neonazis verübt wurde, oder könnten es auch nationalistische Türken gewesen sein?

Sayan: Die Herkunft der Täter konnte ich nicht erkennen. Nationalistische Türken hätten aber wohl nicht gerufen "Du Scheißtürke, wir kriegen dich!"

konkret: Hat die Polizei Hinweise auf die Täter?

Sayan: Die Polizei ist sehr aktiv. Es gibt gegen einige Personen Verdachtsmomente, und es existieren Phantombilder, so daß ich glaube, daß die Täter früher oder später gefaßt werden.

konkret: In der Berliner Lokalbeilage der "Taz" wurde darüber berichtet, daß es Gerüchte gebe, Sie hätten den Überfall selbst inszeniert, um zu verhindern, daß jemand anders, nämlich Evrim Baba, bei den nächsten Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus ihren Listenplatz bekommt.


Sayan: Die Behauptung ist schon deshalb falsch, weil Evrim Baba gar nicht gegen mich antreten kann, da sie einen der für Frauen vorgesehenen Listenplätze bekommt. Auch ist sie für Frauenpolitik zuständig, ich aber für Migration. Sie ist meine Kollegin, nicht meine Rivalin.

konkret: In Lichtenberg gibt es viele Rechtsradikale, aber gleichzeitig ist der Stadtteil auch eine Hochburg der Linkspartei/PDS.

Sayan: Ja, in meinem Wahlkreis haben die rechtsextremen Parteien bei den letzten Wahlen zusammen mehr als fünf Prozent der Stimmen bekommen. Doch 47 Prozent der Wähler haben mich direkt gewählt. Viele Lichtenberger sind in antifaschistischen Initiativen tätig. Eine Woche nach dem Angriff auf mich haben mehr als 1.000 Menschen in Lichtenberg gegen Fremdenfeindlichkeit demonstriert, Geschäftsleute haben einen antirassistischen Aufruf verfaßt. Das alles ist gut und auch notwendig, da NPD und "Kameradschaften" den Bezirk als eines ihrer Hauptaktionsfelder betrachten. Man muß verhindern, daß sie dort Sympathisanten finden.

konkret: In der Linkspartei/PDS haben Sie nicht nur Freunde, vor allem wenn es um Themen wie Israel, Islamismus oder den Mittleren Osten geht.

Sayan: Ja, besonders, nachdem ich im "Neuen Deutschland" einen Artikel über die palästinensischen bzw. libanesischen Terrororganisationen veröffentlicht habe. Ich habe ihre Finanzierung durch Saudi-Arabien sowie ihre politische Organisation und Zielsetzung beschrieben, namentlich ihren Judenhaß. Bei Hisbollah, Hamas und Al-Aksa-Brigaden handelt es sich um Fundamentalisten und Rassisten. Ich habe geschrieben, daß wir, auch wenn wir die israelische Politik für falsch halten, diese Organisationen bekämpfen müssen. Daraufhin gab es Briefe empörter Leser, manche schrieben gar, daß sie nicht mehr länger in einer Partei sein wollen, die einen solchen Abgeordneten hat.

konkret: Auch Ihre Positionen zur Situation im Irak und zur Auseinandersetzung mit dem Iran dürften nicht allen gefallen.

Sayan: Im Irak gibt es keinen "Widerstand der Bevölkerung" gegen "amerikanische Besatzer". Wenn es den gäbe, könnten sich die Amerikaner dort keine 24 Stunden mehr halten. Was es gibt, sind sunnitische Extremisten, die zum großen Teil aus dem Ausland kommen oder zu den bewaffneten, militärischen Einheiten des alten Baath-Apparats gehörten. Al-Kaida kann man nicht als den "Widerstand" der "irakischen Bevölkerung" bezeichnen. Eine moderne linke Partei darf die Welt nicht auf der Grundlage einer stalinistischen Drei-Welten-Theorie erklären. Es wäre eine Katastrophe, wenn wir die Konservativen im Iran unterstützen würden, oder gar Oskar Lafontaine ihnen einen Besuch abstatten würde - was er geplant haben soll.

konkret: Was würden Sie dann tun?

Sayan: Ich habe einen fertigen Brief an Lafontaine in der Schublade, aber ich hoffe, daß ich ihn nicht werde abschicken müssen. Der Iran führt einen bewaffneten Dschihad gegen die ganze Welt, unterstützt antisemitische Fundamentalisten und Terroristen. Jeden Tag werden auf den Straßen iranischer Städte Frauen in einen Sack gesteckt und mit Steinen beworfen, bis sie sterben. Man kann nicht dorthin reisen und den Mördern die Hand geben.

konkret: Genau das aber entspricht der europäischen Politik.

Sayan: Es gibt keine Prinzipien mehr. Napoleon ist vor zweihundert Jahren nach Osteuropa marschiert für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und hat die Fürsten verjagt. Man kann nicht heute für Frauenrechte und Demokratie sein, aber mit einem Land Wirtschaftsbeziehungen unterhalten, das die Hälfte der Bevölkerung versklavt, sie zwingt, sich zu verschleiern, sie auspeitscht und steinigt.

konkret: Viele Linke würden ihre Haltung als eurozentristisch, ja, rassistisch verurteilen.


Sayan: Die das tun, haben diese Welt nicht verstanden. Sie verstehen nicht den Islam und wissen nicht, was im Iran passiert. 1979 wurden viele Linke zu Kollaborateuren der Mullahs, weil sie gegen den Schah waren. Das Schah-Regime war eine Diktatur, aber eine bürgerliche Diktatur, die Rechte für Frauen und ein Schulsystem eingeführt hat. Das Mullah-Regime hingegen ist eine mittelalterlich-klerikale Diktatur. Den historischen Fehler, den Linke gemacht haben, indem sie 1979 die Mullahs unterstützten, dürfen sie heute nicht wiederholen, indem sie sich im jetzigen Konflikt auf die Seite des Iran stellen. Das Mullahregime muß isoliert und bekämpft werden - allerdings nicht durch einen Krieg, der in der Region zu einer Katastrophe führen würde.

Foto: www.parlament.berlin

Online-Flyer Nr. 55  vom 02.08.2006

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