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Aktueller Online-Flyer vom 19. August 2025  

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Fotogalerien
Erlebnisbericht einer Kölner Praxiteles-Stipendiatin
"Kölsch köylü" auf der türkischen Datca-Halbinsel
Von Carola Willbrand 

Mark Met, mein Freund und Kollege aus Amsterdam, beschäftigt sich mit den Typisierungen des Mannes: als Jäger, als (U-Boot-) Kapitän in Foto-Romanen. Ich lebe und arbeite in Köln. Mein Thema ist die weibliche Sozialisation. Dazu benutze ich die weibliche Technik des Nähens. Die Reise ins Praxiteles-Stipendium des Kölner KAOS Kunst- und Video-Archiv e.V. auf der türkischen Datça-Halbinsel trat ich aber ohne Arbeitsmaterial an. Ich wollte die mir begegnenden Eindrücke unvoreingenommen wirken lassen. Mark Met nahm sein aus dem Kölner Karneval entlehntes "Rosa Funkemariechen" mit, dem er schon in den Niederlanden das Meer gezeigt hatte und nun nach der langen Session einen Aufenthalt am Meer auf der Datça-Halbinsel gönnte. Unser Wunsch war, eine Arbeit gemeinsam zu entwickeln, als Paar auch ein Kunst-Paar zu werden.

2004,  während eines Stipendiums des Landes Schleswig-Holstein, hatte ich von meinen neuen Freunden in Eckernförde getragene Kleidungstücke erbeten, die ich zu Porträts formte. In dieser Zeit verwandelte sich Mark Met mit Hilfe einer fiktiven Uniform in einen U-Boot-Kapitän. In Eckernförde liefen zu dieser Zeit Proteste gegen ein geplantes U-Boot-Museum. "Wie lange kann ein U-Boot-Kapitän unter Wasser bleiben?", fragte Mark und begann seine Exkursionen mit mir - in einem geblümten Polyacryl-Sommerkleid der 70er Jahre aus meiner Eckernförder Kleidersammlung - durch die deutschen U-Boot-Standorte Eckernförde, Kiel und Hamburg. Die Leute, die uns begegneten, baten wir, uns zu fotografieren, und es entstanden Urlaubsfotos wie aus den 50er Jahren - den Jahren unserer Kindheit.

"Funkemariechen" mit türkischer Flagge

In Datca machte ich die Fotos von dem die türkische Flagge schwenkenden "Rosa Funkemariechen" auf der antiken Hafenmauer von Knidos, wo Praxiteles durch seine berühmte Aphrodite laut Herodot einen ersten Touristen-Boom ausgelöst haben soll. Marks "Rosa Funkemariechen" entwickelte sich immer mehr zu einer türkischen Barbie-Prinzessin - so wie wir in China produzierte Puppen auf dem Markt von Datca gesehen haben.

Auf meiner Suche nach der Geschichte der Kleidungsstücke der Frauen von Datca lernten wir Nihat Akkaraca, 75, kennen. Der geht seit einigen Jahren in die Bergdörfer und sammelt die dort mündlich überlieferten Geschichten, Anekdoten und Dorfgedichte. Er erzählte uns, dass dort bis in die 60er Jahre noch Seide produziert wurde. Jede Familie hatte ihre Raupen, ihre Maulbeerbäume. Nylon war auf die unwegsame Halbinsel noch nicht vorgedrungen. "Wir waren so arm, wir hatten nur Seide!"

Staunen über die Gesichter der alten Frauen

Mit Nihat Akkaraca besuchten wir die Dörfer. Und weil die Leute ihn lieben, hatten wir  herzlichen Zugang, obwohl die Frauen müde waren vom Fasten. Es war noch Ramadan. Ich brach in Staunen aus über die lebhaften Gesichter dieser alten Frauen. Auch wenn sie gezeichnet waren von einem mühseligen, harten Leben, von Rheuma und Arthrose, wirkten sie doch zufrieden und voller Würde. Noch im Auto begann ich, die Frauen zu skizzieren. Mark hatte sie fotografiert. Auch fielen mir die Kopftücher der Frauen auf, die nicht in islamischer Tradition den Kopf bedecken, sondern so, wie wir das auch aus anderen bäuerlichen Kulturen in Europa kennen - als Schutz- und Arbeitskleidung.

Porträts mit der Hand auf Papier genäht

Ich wollte diesen Frauen ein Denkmal setzen, die säend, erntend und webend eine verschwindende Kultur bezeugen. Ich begann, ihre Porträts mit der Hand auf Papier zu nähen. Üblicherweise mache ich meine Nähzeichnungen mit der Nähmaschine. Noch nie zuvor hatte ich mich in dieser Form dem Porträt gewidmet. Als erstes porträtierte ich Eylüls 84jährige Großmutter, die erste alte Frau, die mir in Resadiye begegnete, und die uns in ihr Haus einlud, uns eine Passionsfrucht aus ihrem Garten und ihre Trauben anbot. Als zweite porträtierte ich eine Frau, die auf dem Markt in Datça ihre kleinen feinen Weißstickerein verkauft. Ich musste gleich drei dieser Stickereien kaufen und in meine Zeichnung integrieren. Das zarte mitgenommene, sehr hellhäutige Gesicht der Stickerin rührte mich.

Während ich täglich immer fort die Porträts nähte, begutachtete Mark die Fotos des "Rosa Funkemariechens", das endgültig zur türkischen Plastik-Barbie geworden war. Und wir entdeckten, dass wir zwei Generationen porträtierten, deren Lebensvorstellungen sich voneinander wegbewegen. Wir beschlossen, sie in unserer Abschlussperformance "Kölsch Köylü (Dörfler)" gegenüber zu stellen: ich als lebendes Denkmal, bestückt mit den zehn genähten Porträts der alten Frauen und Mark Met als ein von seinem pinken, plärrenden Handy begleitetes Sinnbild der Sehnsüchte der heutigen Zeit. Den BesucherInnen hat das offenbar gefallen.

Alle Fotos: Peter Kleinert

Externe Links:
Näheres über das Praxiteles-Stipendium:
www.praxiteles-stipendium.de
www.gebekum.de


Carola Willbrand und Mark Met
Carola Willbrand und Mark Met


Performance mit Köylü-Porträts
Performance mit Köylü-Porträts


Rosa Funkemariechen im Publikum
Rosa Funkemariechen im Publikum


"Funkemarieche tanz!" in der Tabu-Bar
"Funkemarieche tanz!" in der Tabu-Bar


Vorstellung der genähten Porträts
Vorstellung der genähten Porträts


"Das ist unser Freund Nihat Akkaraca"
"Das ist unser Freund Nihat Akkaraca"


Eylüls Großmutter aus Resadiye
Eylüls Großmutter aus Resadiye


Die alte Frau vom Datca-Markt
Die alte Frau vom Datca-Markt

Online-Flyer Nr. 18  vom 16.11.2005

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