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Literatur
Clivia von Dewitz: Gerechtigkeit durch Wiedergutmachung? Zur südafrikanischen Wahrheitskommission und deren Übertragbarkeit auf den Ukraine-Konflikt
Von Südafrika lernen
Von Rudolph Bauer

Seit dem Ende der Apartheid und den Parlamentswahlen 1994 überrascht die Republik Südafrika durch die zunehmende Bedeutung, die das Land im weltpolitischen Maßstab in Anspruch nimmt. Südafrika gehört seit 2010 zur Vereinigung der 2006 von Brasilien, Russland, Indien und China gegründeten BRICS-Staaten, die mit Jahresbeginn 2024 um Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate erweitert wurde. Angesichts der Indizien eines Völkermordes durch die israelischen Truppen an den Palästinensern im Gaza-Territorium hat das Land am 29. Dezember 2023 vor dem Internationalen Gerichtshof Anklage erhoben und sofortige Schutzmaßnahmen gefordert. Mit Blick auf denjenigen Krieg, der seit 2014 („Euromaidan“) die Ukraine erschüttert und schließlich das Eingreifen Russlands herausgefordert hat, steht aktuell der Vorschlag zur Diskussion, jene Erfahrungen, die in Südafrika mit den sog. Wahrheitskommissionen gemacht wurden, auf den russisch-ukrainischen Konflikt zu übertragen.

Ein friedenspolitischer Lichtblick

Der Vorschlag, das Konzept der südafrikanischen Wahrheitskommissionen in der Ukraine zur Geltung zu bringen, geht auf Clivia von Drewitz zurück. Sie hat darüber eine brandaktuelle, im Westend-Verlag erschienene Buchveröffentlichung vorgelegt. Diese stellt einen friedenspolitischen Lichtblick dar, nicht zuletzt angesichts der dumpfen Kriegstrommeln, die seit einem Jahr in Europa und Deutschland mit US-Unterstützung geschlagen werden.

In der gegenwärtigen, durch militaristische Racheengel aufgeheizten Vor-Weltkriegs-Situation einen möglichen Ausweg bzw. die entsprechende Ergänzung notwendiger diplomatischen Verhandlungen aufzuzeigen, ist schon allein ein sehr großes Verdienst: Claudia von Dewitz entwirft ein – zunächst ungewöhnlich erscheinendes – Gegenbild zur wahnwitzigen Fortsetzung des Krieges durch die Lieferung von Waffen und noch mehr Waffen und Kriegsgeräten, deren zerstörerischer Einsatzradius bis Moskau reichen würde.

Ihr Buch konzentriert sich auf die Frage, ob es angesichts der Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten des Ukraine-Konflikts so etwas wie einen gerechten Umgang damit geben kann. Oder anders formuliert: Gibt es Alternativen zu einer strafrechtlichen Verfolgung, wie sie u. a. von deutschen Regierungsmitgliedern wie der Außenministerin gegenüber Präsident Putin gefordert wird?

Eine Friedenskommission etablieren

Clivia von Dewitz skizziert in ihren Ausführungen, wie eine Friedens(!)kommission ins Leben gerufen werden könnte – eine, welche die Aufklärung des Geschehenen und Geschehenden in den Vordergrund rückt. Ziel dürfe es nicht sein, eine der involvierten Nationen zu benachteiligen. Vielmehr sei darauf hinzuarbeiten, dass die beteiligten Nationen auf diese Weise einen wesentlichen Beitrag für Frieden und Versöhnung leisten.

1997 hospitierte Clivia von Dewitz zwei Monate lang in Südafrika, um die Arbeit der dortigen Truth and Reconciliation Commission (Wahrheits- und Versöhnungskommission) kennenzulernen und darüber zu promovieren. Veröffentlicht wurde ihre Studie in Teilband 8 („Südafrika“) der Reihe „Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse“. Ihre aktuelle Veröffentlichung zum Ukraine-Konflikt ist von einem besonderen Optimismus geprägt, der sich darauf gründet, dass in Südafrika „das Undenkbare … Realität wurde“, wie John Allen bemerkte, der Autor der Biografie von Desmond Tutu. Warum also nicht auch in Europa?

Das vorliegende Buch überzeugt und begeistert durch seine informative Einführung in die Ziele, Aufgaben und Praxis der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen einerseits und die überzeugend durchdachte Skizzierung einer Friedenskommission für den Ukraine-Konflikt zum anderen. Ergänzt werden die Ausführungen durch drei Anhänge, die –übersetzt – einen unmittelbaren Zugang zur gesetzlichen Grundlage und zu den Fragebogen bzw. Formularen der kommissionsrelevanten Dokumente erschließt.

Für einen Prozess des Friedens und der Versöhnung


Ergänzt wird der Band durch ein Geleitwort von Mary Burton, einer der 17 Kommissare der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission, sowie durch einen Epilog des ehemaligen Richters am Verfassungsgericht Südafrikas, Albei Sachs.

Durch das einführende Geleitwort und den Epilog wird deutlich, wie sehr (und wie leidenschaftlich!) den Verantwortlichen der Republik Südafrika daran gelegen ist, auch angesichts des Ukraine-Konflikts in Europa einen Prozess des Friedens und der Versöhnung anzuregen.

Gewiss, das Konzept der Wahrheits- und Versöhnungskommissionen hat seine kulturellen Wurzeln nicht in Europa, sondern in der Tradition der indigenen Stämme Südafrikas. Doch warum sollte Europa nicht lernen von Südafrika? Denn eine ähnliche Herangehensweise wie die südafrikanische kennen auch die indigenen Stämme Nordamerikas. Ich zitiere Abby Abinanti, Oberste Richterin des Yurok-Stammes in Kalifornien, USA:

„Unsere Vorfahren kannten die Antwort: Wenn du jemand anderen verletzt hast, musst du dafür die Verantwortung übernehmen. Dann, wenn die Wahrheit gesagt wird, wird ein Heilungsprozess in Gang gesetzt, der zurück zu Frieden führt.“

Mehr als das Schweigen der Waffen

Das Buch von Clivia von Dewitz stellt eine Provokation dar. Es fordert dazu heraus, über die Notwendigkeit eines solchen Heilungsprozesses nachzudenken –  bzw. diese Notwendigkeit sich erst einmal bewusst zu machen! Nicht zuletzt deshalb lege ich diese Schrift all denjenigen ans Herz, die Frieden und Versöhnung wollen – gegen die herrschenden (!) Interessen der kapitalistischen Finanzindustrie und des Militärisch-industriellen Komplexes!

Eine Friedensbewegung, die ‚nur‘ das Kriegsende fordert, ohne sich über die Zeit danach Gedanken zu machen, ist das Pulver nicht wert, das von den  Kriegstreibern angeblich für die Ideale des Wertewestens verschossen wird. Alle Friedensaktivisten und -aktivistinnen sollten die Schrift von Clivia von Dewitz kennen … und sich bewusst machen, dass der Frieden mehr voraussetzt als das Bertha-von-Suttner’sche Schweigen der Waffen.


Clivia von Dewitz: Gerechtigkeit durch Wiedergutmachung? Zur südafrikanischen Wahrheitskommission und deren Übertragbarkeit auf den Ukraine-Konflikt



Westend-Verlag, Neu-Isenburg 2024, 176 Seiten, ISBN 978-3-86489-441-1, 24 Euro

Online-Flyer Nr. 828  vom 27.03.2024

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