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Globales
11. September 1973 in Santiago de Chile
Eine unvergessliche politische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts - Ein unsterbliches sozialistisches Ideal
Von Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait

Der 11. September ist in Chile ein Tag der Besinnung. Es geht um die Tragödie, die sich nach der Wahl zum Präsidenten, dieses bewussten großen Demokraten und visionären Staatsmannes in diesem fernen Land abspielte. Viermal seit 1952 hatte der Senator Salvador Allende versucht, zum Präsidenten der Republik gewählt zu werden, bevor er die Präsidentschaftswahl im September 1970 gewann. Sicherlich war sein Engagement für die Sache der Arbeiter und Bauern, für den Sozialismus der Beweggrund seiner Vitalität, so sehr, dass es ihm erlaubte, in den erschütternden finalen Minuten seines Lebens hellwach zu bleiben, wie seine letzte dramatische Rede bekundet. Sein Leben, seine Persönlichkeit wurden ein geschichtliches Ereignis, das über seine Zeit hinaus geht und Vorbild für die Jugend und für die Zukunft in aller Welt bleibt. Allende ging voll in der Rolle als demokratischer Präsident auf, wofür er lange mit leidenschaftlicher Beharrlichkeit gekämpft hatte. Salvador Allende ist in die Geschichte durch das hohe Tor eingegangen, und er tat es in vollem Bewusstsein. Somit widerlegte dieser große Demokrat alle diejenigen, die glaubten, ihn mit Kugeln und Bomben nicht nur aus La Moneda zu eliminieren, sondern auch aus der Erinnerung Chiles.

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist seit Allendes Wahltriumph vergangen, als er 1970 Präsident Chiles wurde. Seine Regierung war eine kurze Etappe von drei Jahren. Eine Koalition fortschrittlicher Kräfte, die Unidad Popular, begann einen tiefen Veränderungsprozess im Einklang mit der damaligen Verfassung und bestehenden Gesetzen. Die Verstaatlichung von Bergwerken und großer ausländischer Unternehmen, die Agrarreform, die Verstaatlichung von Banken und Monopol-Unternehmen und die gerechtere Verteilung des Nationaleinkommens wurden Realität, unterstützt von einer breiten sozialen Bewegung. Dass alle diese Veränderungen mit einer demokratischen Vertiefung einhergingen, provozierte ein noch größeres Interesse an diesem Prozess in verschiedenen Ländern Europas und Lateinamerikas so wie in zahlreichen fortschrittlichen Bewegungen der ganzen Welt.

Die öffentliche Aufmerksamkeit versucht bis heute, den Hintergrund dieser Zeit zu ignorieren und lediglich die schreckliche Konsequenz zu betrachten, die Diktatur General Pinochets und die Gräueltaten dieser deplatzierten, 17 Jahre langen Episode (1973-1990) in der Geschichte Chiles. Man muss das Schweigen über den Präsidenten Allende endlich brechen und ihn in den Vordergrund stellen, anstelle des verräterischen Generals.

Es ist an der Zeit für die chilenische Gesellschaft und für die Weltöffentlichkeit einzusehen, dass der terroristische, militärische Sturz von Präsident Salvador Allende schon lange vor Allendes Amtsantritt erdacht und geplant wurde. Was diesen Militärputsch betrifft, ist die Figur von General Pinochet absolut sekundär, völlig unbedeutend. Der unter der Diktatur von Augusto Pinochet ermordete ehemalige Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte, General Carlos Prats, bestätigt in seinen Memoiren, dass sich Augusto Pinochet dem lang geplanten Putsch nur in den letzten Wochen anschloss. Es ist natürlich einfach und bequem für die Hauptverantwortungsträger, einen Sündenbock für all das Unheil zu haben, um selbst außer Acht versteckt zu bleiben in einer Zeit, in der die allgemeine Verurteilung der chilenischen Diktatur weltweit unbestreitbar ist. Gegenwärtig ist es gelungen, die Streitkräfte Chiles als Institution darüber aufzuklären, dass sich niemals die Waffengewalt gegen die höchste Autorität des Landes erheben durfte, den vom Volk verfassungsmäßig demokratisch gewählten Präsidenten. Die Bomben auf das Präsidentenamt und als Folge Allendes Sturz waren der erste Terror-Akt der Militärs, die dazu von extrem reaktionären politischen Kräften im In- und Ausland angestiftet wurden. Der terroristische Sturz des vom Volk gewählten Präsidenten war nicht nur ganz und gar unverhältnismäßig, sondern auch völlig unbegründet, denn der Präsident war vorher bereit, dem Volk per Plebiszit die Entscheidung über seine weitere Regierung zu überlassen. Es war vorgesehen, der Präsident würde am jenen Dienstag, den 11. September 1973, das Plebiszit ankündigen. Die Militärgewalt und der Putsch verhinderten diesen geplanten demokratischen Ausweg aus der Regierungskrise.

Die Presse in Deutschland wiederholt ständig die offizielle Version der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet, die weit verbreitet wurde, Allende hätte im Palast Selbstmord begangen. Zu diesem Punkt ist es angebracht, die Worte vom damaligen österreichischen Kanzler Bruno Kreisky zu zitieren. Als der Botschafter des diktatorischen Regimes Chiles diese Version in seiner Anwesenheit in der Wiener Hofburg wiederholte (September 1973), reagierte Bruno Kreisky bestimmt: „Die Regierung Chiles wird immer Zweifel darüber annehmen müssen." In der Tat gibt es zahlreiche Indizien, unbestrittene Tatsachen und Zeugenaussagen, aus denen zu schließen ist, dass der Präsident Allende in La Moneda, im Regierungspalast, ermordet wurde. Allendes Töchter, weder Beatriz noch Isabel (nicht die Schriftstellerin), die ihren Vater im Palast La Moneda begleiteten, haben niemals die Selbstmord-Version bestätigt. Weder die Journalistin Verónica Ahumada, noch irgendeiner von Allendes Ministern, die bis zum Schluss an der Seite des Präsidenten in La Moneda waren. Beherzt und bestimmend wiederholte Allende in den schrecklichen Stunden des militärischen Sturms immer wieder seinen Entschluss, sich nicht zu ergeben. Mit unbezähmbarem Mut kämpfte er mit seinen Leuten stundenlang tapfer im Palast gegen die Militärs der aufständischen Generäle.

Die Absicht zum kaltblütigen Mord Allendes ist inzwischen durch die in Chile veröffentlichten Dokumente "Interferencia Secreta" belegt und offenkundig. In diesem geheim erstellten Telefon-Mitschnitt kann man General Augusto Pinochet hören: " Wir erhalten das Angebot aufrecht, ihn (Allende) aus dem Land per Flugzeug herauszubringen, aber das Flugzeug stürzt während des Fluges ab." (Augusto Pinochet in Gespräch mit Admiral Patricio Carvajal). Die mörderische Absicht des Angreifers ist somit bekundet. (Interferencia Secreta, 11 de Septiembre de 1973, Patricia Verdugo, Editorial Sudamericana, mit CD-Platte, 1998).

Außerdem wurde eine Autopsie des Körpers des Präsidenten niemals praktiziert, nicht einmal angeordnet. Der Witwe, Hortensia Bussi de Allende, wurde daran gehindert, den Korps ihres Mannes zu sehen.

Ein anderer Terror-Akt signalisierte früh die subversiven Tendenzen gegen die verfassungsmäßigen Institutionen Chiles: Der Mord am Oberbefehlshaber der Streitkräfte, General René Schneider, in den letzten Monaten der Regierung des christdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei Montalva, also bevor Salvador Allende als neuer Präsident vom Congreso Nacional (Parlament) bestätigt wurde. Der Mord an General Schneider, der sich öffentlich immer wieder für den Respekt der Verfassung und Legalität äußerte, gleich welcher Präsident, gleich welche Partei an die Macht käme, mit dem also jeder Putsch unmöglich hätte organisiert werden können, war damals der erste Versuch (Oktober 1970), Salvador Allende als Präsident zu verhindern, und zwar noch vor seinem Amtsantritt. Der hinterhältige Versuch misslang, gab aber früh zu erkennen, dass einigen Militärs nicht zu trauen war. In diesem Zusammenhang war das Vertrauen und die fehlende Vorsicht von Präsident Allende gegenüber der militärischen Institution ein tragischer Fehler.

Nicht einmal eine Vereinbarung zwischen den Christdemokraten und den Unidad-Popular-Kräften hätte den Putsch verhindern können. Die Entscheidung dafür war schon von übermächtigen nationalen wie internationalen Kräften getroffen worden. Bevor Salvador Allende die Macht übernahm, hatte die US-Regierung entschieden, „die chilenische Wirtschaft heulen zu lassen", wie der amerikanische Präsident Richard Nixon wörtlich vulgär sagte (United States Senate Document, 1975). Mitten im Jahr 1972 waren alle Dämonen gegen die Regierung Chiles losgelassen: Die politische Rechte, darunter Unternehmer, Bankiers, Großgrundbesitzer, Industrielle. Das zentrale Problem war für die Machthaber die kommunistische Partei, die sich damals anschickte, neben Kuba in einer weiteren Regierung Lateinamerikas eine wichtige Rolle zu spielen.

Es handelte sich nicht um ein chilenisches, sondern um ein weltweites Problem in der Perzeption der reichen Industriestaaten. Einerseits wollten diese Staaten unter Führung der USA kein zweites Kuba in Lateinamerika tolerieren. Andererseits hatte die internationale kommunistische Bewegung nach den Spielregeln dieser wohlhabenden Nationen keine demokratische Glaubwürdigkeit. Weder die US-Regierung noch die oppositionellen politischen Kräfte Chiles waren bereit, die großen Reformen der sozialistischen Regierung Chiles mitzutragen. Eine solche Regierung war auch nicht als Vorbild einer sozialistischen Regierung in Lateinamerika akzeptabel. Deshalb war der Dialog mit den Christdemokraten von Anfang an unmöglich und zum Scheitern verurteilt. Das ungelöste Schlüssel-Problem für die chilenische Gesellschaft in den Jahren 1972 und 1973 war die Unzulässigkeit für die US-Regierung einer „zweiten marxistisch-leninistischen Regierung“ in Lateinamerika, wie im US-amerikanischen Jargon zu hören war. In diesen Jahren spielte das Land verrückt. Die größte Tageszeitung von Santiago, El Mercurio, rief dazu auf, „Wut zu sammeln"; ein neues Jakarta wurde angekündigt, der Begleiter (Edecán) des Präsidenten Allende wurde ermordet, täglich wurden fast zehn terroristische Akte verübt. Man probierte vergeblich verschiedene legale Ausflüchte, um den Präsidenten verfassungsmäßig anzuklagen. Vergebens auch, ihn als Wahnsinnigen, Betrunkenen oder Unfähigen zu zeigen, damit die Anklage durch eine einfache Mehrheit im Congreso Nacional (chilenisches Parlament) gebilligt werden könnte.


Verfasst am 12.09.2023


Luz María de Stéfano Zuloaga de Lenkait ist chilenische Rechtsanwältin und Diplomatin (a.D.). Sie war tätig im Außenministerium und wurde unter der Militärdiktatur aus dem Auswärtigen Dienst entlassen. In Deutschland hat sie sich öffentlich engagiert für den friedlichen Übergang der chilenischen Militärdiktatur zum freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat, u.a. mit Erstellen von Gutachten für Mitglieder des Deutschen Bundestages und Pressearbeit, die Einheit beider deutschen Staaten als ein Akt der Souveränität in Selbstbestimmung der beiden UN-Mitglieder frei von fremden Truppen und Militärbündnissen, einen respektvollen rechtmäßigen Umgang mit dem vormaligen Staatsoberhaupt der Deutschen Demokratischen Republik Erich Honecker im vereinten Deutschland, für die deutsche Friedensbewegung, für bessere Kenntnis des Völkerrechts und seine Einhaltung, vor allem bei Politikern, ihren Mitarbeitern und in Redaktionen. Publikationen von ihr sind in chilenischen Tageszeitungen erschienen (El Mercurio, La Epoca), im südamerikanischen Magazin “Perfiles Liberales”, und im Internet, u.a. bei Attac, Portal Amerika 21, Palästina-Portal. Einige ihrer Gutachten (so zum Irak-Krieg 1991) befinden sich in der Bibliothek des Deutschen Bundestages.


Online-Flyer Nr. 819  vom 20.09.2023

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