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Literatur
Thomas Metscher: Sein und Bewusstsein - Ontologische Reflexionen
In Erinnerung an Hans Heinz Holz zur Dialektik von Sein und Bewusstsein
Von Rudolph Bauer

Beim titelgebenden Beitrag der neuesten Veröffentlichung des marxistischen Philosophen Thomas Metscher handelt es sich um den Ersten Teil des Haupttextes seiner „Ontologische(n) Reflexionen im Anschluss an Holz‘ Denken“. Dieser Teil der Untersuchung analysiert das Verhältnis von Sein und Bewusstsein. Hans Heinz Holz (1927-2011) und Metscher (*1934) waren befreundete Wissenschaftler. Beide lehrten in der Tradition eines Marxismus der Aufklärung und in der kritischen Auseinandersetzung mit einem sich zu Unrecht auf Marx und Engels berufenden 'linken' Dogmatismus und Revisionismus. Metscher unterrichtete 1961 bis 1971 deutsche Literaturwissenschaft an der Queens University in Belfast/Irland, 1971 bis 1999 war er Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik an der Universität Bremen. Holz lehrte als Universitätsprofessor für Philosophie ab 1971 in Marburg und von 1978 bis zu seiner Emeritierung in Groningen/Niederlande.

Studien, Entwürfe, Reflexionen

In jüngster Zeit, frei von der Bürde der Verpflichtungen eines Hochschullehrers, hat Thomas Metscher zahlreiche bedeutende Schriften veröffentlicht – darunter die Bücher „Logos und Wirklichkeit. Ein Beitrag zu einer Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins“ (2010), „Kunst. Ein geschichtlicher Entwurf“ (2012), „Ästhetik, Kunst und Kunstprozess. Theoretische Studien“ (2013), „Integrativer Marxismus. Dialektische Studien“ (2017) und „Pariser Meditationen. Zu einer Ästhetik der Befreiung“ (2019).

Wie die Titel und Untertitel dieser Publikationen zu erkennen geben, bearbeitet das philosophische Denken des Autors insbesondere gesellschaftliche und historische Fragen der Ästhetik, der Philosophie und der Gesellschaftswissenschaften, und das im Stil von Entwürfen, Meditationen und Studien – also fern des Anspruchs, ein in sich geschlossenes philosophisches System vorlegen zu wollen. So ist auch in der vorliegenden Schrift von „Reflexionen“ die Rede bzw. im abschließenden letzten Beitrag bescheiden von einem „Versuch (!) zum Denken von Hans Heinz Holz“.

Im einleitenden Beitrag präsentiert Metscher eine „lyrische Montage“ unter dem Titel „Babij Jar“. Der Text weist einen aktuellen Bezug zum Krieg in der Ukraine auf. Er bezieht sich auf den Ort des dortigen Massakers, das 1941 durch Einheiten der deutschen Wehrmacht und der SS mit Unterstützung ukrainischer Bandera-Faschisten an Juden verübt worden ist. Bei diesem Text handelt es sich der Form nach um „eine Montage, ein Stück philosophischer Literatur, das sich der poetischen Collage bedient“ und „sich dem (entzieht), was im Bereich wissenschaftlichen Denkens noch als zulässig gilt“ (S. 22).
Wie hier macht die Offenheit der Sprache und des sprechenden Denkens die Philosophie Metschers auf beeindruckende Weise durchlässig, anti-dogmatisch und der Zukunft zugewandt-revolutionär. Die „Ontologische(n) Reflexionen“ verpflichten den Leser nämlich nicht darauf, sich den Standpunkten des Autors unterzuordnen. Vielmehr erlauben es Metschers diskursive Denkbewegungen, mit ihm in eine Art Gespräch einzutreten, seine Ausführungen aufzugreifen, sie zu drehen und zu wenden, ihnen gegebenenfalls auch zu widersprechen oder sie weiterzuführen.

Der analytische Irrweg des Dogmatismus

Beispielsweise ist dies der Fall bei der Deutung des berühmten Satzes aus dem Vorwort der Marx-Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“. Dort lesen wir: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ In apodiktischer Form lässt dieser Satz sich solcherart interpretieren, dass sich daraus der analytische Irrweg eines historisch folgenreichen Dogmatismus ableiten lässt: Der Mensch, sein Denken und Handeln, seien zur Gänze vorbestimmt, einseitig und ausweglos determiniert durch das gesellschaftliche Sein.

Der so verstandene ‚Marxismus‘ beinhaltet im Kern den Rückfall auf eine mechanische Matrix, die den „Maschinenmenschen“ wie Prometheus fesselt und gefangen hält. Für die dichotome Betrachtungsweise gibt es dann nur noch ein Entweder/Oder: Entweder das Sein als Basis bestimmt das Bewusstsein, oder das Bewusstsein und der Überbau bestimmen das Sein; entweder kruder Materialismus oder blinder Idealismus; entweder die materiellen Verhältnisse sind alles bestimmend, oder der ‚Geist‘, die Idee, wirkt und dominiert; entweder die (ökonomischen) Strukturen sind entscheidend, oder allein die (wirtschaftlich) handelnden Akteure sind es.

Folgen der nicht dialektischen Rezeption

Die Rede, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt, hat ein strukturdeterministisches Denken zur Folge, welches den Menschen als in Freiheit handelndes Subjekt negiert. Diese Art der Rezeption der Theorie von Marx wurde sowohl bei den meisten seiner Anhänger wie auch bei den Gegnern des Marxismus und der kommunistischen Idee vulgarisiert. Sie unterschlägt jedoch die Dialektik des widersprüchlichen Verhältnisses von Sein und Bewusstsein.

Es bleibt dahingestellt, ob diese beschränkte Sichtweise dem Verfasser des Vorworts der Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ anzulasten sei – wie Metscher es andeutet – oder nicht vielmehr seinen wortgläubigen Rezipienten. Letztere reflektieren nicht zureichend den theoretischen Gesamtzusammenhang (ein Holz’scher Zentralbegriff, den Metscher im letzten Beitrag des Bandes abhandelt).

Metscher zufolge trägt Marx durch die Art seiner Formulierung eine Mitschuld an der dogmatischen Deutung. Meines Erachtens allerdings handelt es sich bei dem Satz, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt, nicht um eine finale Erkenntnis, sondern um die stationäre Conclusio der vorausgehenden Ableitung des gesamttheoretischen Kontextes von gesellschaftlicher Produktion zum einen und den Produktionsverhältnissen zum anderen (nachzulesen in Marx-Engels-Werke, Band 13, S. 8 f.). Mir scheint das Missverständnis eher auf Seiten der Rezipienten zu liegen. Diese Sicht ist nicht zuletzt gerade dann vertretbar, wenn man sich Metschers (und Marx‘!) Grundgedanken der Dialektik ernstlich zu eigen macht.

Die gesamte, dem Gedenken an Hans Heinz Holz gewidmete Schrift Thomas Metschers enthält viele weitere, hier aus Platzgründen nicht referierte Passagen, die beim Lesen das Mit- und Nachdenken beflügeln – ob es sich dabei um Fragen der Ontologie handelt, um den Logos als dialektischen Begriff, um Ideologie oder um die Bedeutung der Sprache. Die im Kasseler Mangroven-Verlag erschienene Schrift enthält ein Meer von Gedanken, in dem sich das dialektische Universum von Mensch, Gesellschaft und Natur facettenreich spiegelt. Die Lektüre fordert an vielen Stellen aber auch dazu heraus, sich der Tatsache zu vergewissern, dass die Herrschenden in der Klassengesellschaft alles daran setzen, die Dialektik von Sein und Bewusstsein als Denk-, Erkenntnis und Handlungsmöglichkeit abzuwürgen oder wenigstens abzuschwächen.

Zur Dialektik von handlungs- und systemtheoretischem Ansatz

Westlich-kapitalistische Politik, Justiz, Militär, Medien und Wissenschaft sind bestrebt, das gesellschaftliche Sein ausschließlich aus handlungstheoretischer Sicht zu begründen und darzustellen: Es seien benennbare Akteure (nämlich Putin, seine Generäle, die Oligarchen und die russischen Soldaten), die in der Ukraine ‚unsere Freiheit‘ angreifen und gegen die  „wir“ uns militärisch verteidigen. Von den geo- und militärpolitischen Strukturveränderungen – z.B. im Verlauf der Nato-Osterweiterung – ist indessen bei einer solchen Betrachtung keine Rede!

Es waren menschliche Akteure, die gemäß der Hygienepropaganda einerseits – als Vulnerable oder als positiv Getestete und z. T.  symptomlos Infizierte – durch Covid-19 bedroht waren oder die andere Menschen durch Ansteckung bedrohten. Ebenso waren es handelnde Menschen (Virologen, „Impfstoff“-Entwickler, Ärzte, Politiker und Journalisten), die das Corona-Virus ‚bekämpften‘. Vom geschwächten Immunsystem der Bevölkerung, von den maroden Strukturen des Gesundheitswesens, vom Pharmazeutisch-Industriellen Komplex und vom systematischen Diktat der Profitmaximierung war indes keine Rede.

Die unterdrückte Masse der Menschen weltweit soll ein Doppeltes nicht erkennen und entsprechend nicht danach handeln: Erstens soll ihr verborgen bleiben, dass das gesellschaftliche Sein ein ständig neu sich konstituierendes Ergebnis der Dialektik der Interessensstrukturen von herrschenden und unterdrückten Klassen ist. Zweitens soll sie sich nicht bewusst werden, dass der Systemwiderspruch zwischen kapitalistischem Imperialismus in der Krise einerseits und der Notwendigkeit eines sozialistischen Aufbruchs im nationalen und internationalen Maßstab andererseits entweder in die endgültige, als Transhumanismus bezeichnete kollektive Barbarei führt oder die revolutionäre Befreiung der Menschheit erzwingt. Einen herausragenden marxistischen Beitrag zur philosophischen Begründung der Menschheits-Befreiung im Sinne von Hans Heinz Holz leistet das Werk von Thomas Metscher.


Thomas Metscher: Sein und Bewusstsein. Ontologische Reflexionen



Mangrove Verlag, Kassel 2023, ISBN: 978-3-946-94632-8, 338 Seiten, 25 Euro

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