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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Kultur und Wissen
Sollen Erzieher Heranwachsenden Grenzen setzen?
Unsicherheit der Erzieher führt bei Jugend zu Desorientierung und Haltlosigkeit
Von Rudolf Hänsel

Aufgrund von Angriffen auf andere Menschen (Amoktaten) in den USA, Deutschland und Serbien werde ich aus der Perspektive der personalen Psychologie Antworten auf wichtige Fragen geben, die in der Vergangenheit von der gesamten Gesellschaft nicht zu Ende gedacht worden sind. Dabei beziehe ich einen Diskussionsbeitrag mit ein, den ich bereits vor 21 Jahren als Leiter der „Staatlichen Schulberatungsstelle für die bayerische Landeshauptstadt München“ anlässlich eines Amoklaufs in Deutschland verfasste und den ich immer noch für zeitgemäß halte. Der Beitrag hatte den Titel „Für eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung“ (1). Beantworten werde ich zunächst nur die Frage: Sollen Erzieher Heranwachsenden Grenzen setzen?

Wichtige Fragen zu Ende denken!
  1. Sollen den Heranwachsenden Werte vermittelt werden und wenn ja, welche und durch wen? Oder müssen Kinder und Jugendliche selbst herausfinden, was gut für sie ist?
  2. Sind Anstand, Rücksichtnahme, Zuverlässigkeit, Leistungsbereitschaft, Fleiß, Verantwortungs- und Gemeinschaftssinn noch erstrebenswerte Tugenden, die wir der Jugend vermitteln sollten? Oder stehen sie im Widerspruch zum Ziel der „Selbstverwirklichung“ und führen nur zu blinder Unterordnung unter autoritäre Strukturen?
  3. Soll man Kindern und Jugendlichen Grenzen setzen? Oder sollen sie durch Ausprobieren selbst an ihre Grenzen stoßen? Sollten also Erzieher einschreiten, wenn Kinder und Jugendliche ihre Konflikte mit Gewalt „lösen“ wollen? Oder sollte man auf „Selbstregulierung“ vertrauen?
  4. Tut es jungen Menschen gut, den ganzen Tag über auf allen Kanälen Gewalttaten in sämtlichen Variationen anzuschauen? Oder wirkt sich dieser Einfluss schädlich auf ihre Entwicklung aus und sollte deshalb unterbunden werden?
Sollen Erzieher Heranwachsenden Grenzen setzen?

Es gehört selbstverständlich zur Aufgabe des Erziehers, dem Heranwachsenden Grenzen zu setzen. Durch die Befunde der Forschungen zu den Entwicklungsbedingungen positiven Sozialverhaltens – insbesondere die Ergebnisse der Erziehungsstilforschung – wissen wir heute, welcher Erziehungsstil einen hohen Grad an Kooperationsfähigkeit, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Sicherheit beim Kind hervorbringen kann.

Diesen Erziehungsstil nennt die US-amerikanische Entwicklungspsychologin und führende Forscherin auf dem Gebiet der Kindererziehung Diana Baumrind (1927-2018) „autoritativ“ (2). Gemeint sind elterliche Erziehungspraktiken, die durch Wärme und Zuneigung, aber auch durch wirksame Kontrollmechanismen gekennzeichnet sind, die auf Härte und körperliche Strafen verzichten, aber konsequent argumentative Durchsetzungsstrategien einsetzen, die Einhaltung von vereinbarten Regeln kontrollieren, bei Fehlverhalten einschreiten sowie das Kind durch Vorbild und Einbeziehung in positive soziale Aktivitäten anleiten.

Zur Überraschung mancher Anhänger der so genannt antiautoritären Erziehung wurde festgestellt, dass der permissive, gewähren-lassende Erziehungsstil bei Kindern zum gleichen unkameradschaftlichen, unkooperativen und aggressiven Verhalten führte wie der vernachlässigende und autoritäre Erziehungsstil.

Der Erwachsene, der Zeuge eines gewalttätigen Verhaltens eines Kindes oder Jugendlichen wird, muss daher unter allen Umständen dagegen Stellung beziehen und Wiedergutmachung fordern, denn die fehlende Stellungnahme und ein Maßnahmenverzicht werden vom jungen Menschen als Zustimmung zu seiner Tat interpretiert.

Ein Erzieher, der Gewalt zulässt, missachtet ein grundlegendes Menschenrecht. Auch muss das Opfer einer Gewalttat durch das entschiedene Einschreiten des Erziehers erleben, dass die Tat verurteilt, es selbst geschützt wird und Genugtuung erfährt.

Ein Gewalttäter, der „ungeschoren“ davonkommt, also erfolgreich Gewalt angewandt hat, lernt außerdem durch diese Verstärkung, dass Gewalt sich lohnt und wird sie wieder anwenden. Muss er sich dagegen mit seiner Tat auseinandersetzen, einen echten Weg zur Wiedergutmachung entwickeln, so fühlt er sich in sein Opfer ein und baut eine Hemmschwelle gegen erneute Gewaltanwendung auf.


Fussnoten:

!1) Dr. Hänsel Rudolf (2002). Für eine bewusste ethisch-moralische Wertevermittlung. Ein Diskussionsbeitrag zu Erfurt. Zentrale pädagogisch-psychologische Beratungsstelle für die Schulen in der Landeshauptstadt und im Landkreis München
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Diana_Baumrind



English version:
Should educators set limits for adolescents?
Insecurity of educators leads to disorientation and lack of support among young people

By Dr Rudolf Hänsel

On the basis of attacks on other people (amoktats) in the USA, Germany and Serbia, I will provide answers from the perspective of personal psychology to important questions that have not been thought through by society as a whole in the past. In doing so, I will include a contribution to the discussion that I already wrote 21 years ago as head of the "State School Counselling Office for the Bavarian capital Munich" on the occasion of a rampage in Germany and which I still consider to be timely. The article was entitled "For a conscious ethical-moral values education" (1). For the time being, I will only answer the question: Should educators set limits for adolescents?

Important questions to think through!
  1. Should values be taught to adolescents and if so, which ones and by whom? Or do children and adolescents have to find out for themselves what is good for them?
  2. Are decency, consideration, reliability, motivation, diligence, a sense of responsibility and community still worthwhile virtues that we should teach young people? Or do they contradict the goal of "self-realisation" and only lead to blind subordination to authoritarian structures?
  3. Should we set limits for children and young people? Or should they reach their limits themselves by trying things out? Should educators intervene when children and youths want to "solve" their conflicts with violence? Or should we trust in "self-regulation"?
  4. Is it good for young people to watch all kinds of violence on all channels all day long? Or does this influence have a harmful effect on their development and should therefore be stopped?
Should educators set limits for adolescents?

It is of course part of the educator's task to set limits for the adolescent. Through the findings of research on the developmental conditions of positive social behaviour – especially the results of parenting style research – we now know which parenting style can produce a high degree of cooperativeness, helpfulness, friendliness and security in the child.

The US developmental psychologist and leading researcher in the field of child rearing Diana Baumrind (1927-2018) calls this parenting style "authoritative" (2). This refers to parenting practices that are characterised by warmth and affection, but also by effective control mechanisms that refrain from harshness and corporal punishment, but consistently use argumentative enforcement strategies, monitor compliance with agreed rules, intervene in cases of misbehaviour, and guide the child by example and involvement in positive social activities.

To the surprise of some supporters of so-called anti-authoritarian parenting, it has been found that the permissive, allow-it style of parenting resulted in the same uncompanionable, uncooperative and aggressive behaviour in children as the neglectful and authoritarian style of parenting.

The adult who witnesses a child's or young person's violent behaviour must therefore take a stand against it under all circumstances and demand redress, because the lack of a stand and a refraining from taking action will be interpreted by the young person as approval of his or her act.

An educator who permits violence disregards a fundamental human right. Also, the victim of a violent act must experience through the decisive intervention of the educator that the act is condemned, that he himself is protected and that he receives satisfaction.

A perpetrator of violence who gets away "scot-free", i.e. who has successfully used violence, also learns through this reinforcement that violence is worthwhile and will use it again. If, on the other hand, he has to come to terms with his crime, develop a genuine way to make amends, he empathises with his victim and builds up an inhibition threshold against using violence again.


Footnotes:

!1) Dr. Hänsel Rudolf (2002). For a conscious ethical-moral teaching of values. A contribution to the discussion on Erfurt. Central pedagogical-psychological counselling centre for schools in the state capital and the district of Munich.
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Diana_Baumrind



Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Schul-Rektor, Erziehungswissenschaftler und Diplom-Psychologe. Nach seinen Universitätsstudien wurde er wissenschaftlicher Lehrer in der Erwachsenenbildung. Als Pensionär arbeitete er als Psychotherapeut in eigener Praxis. In seinen Büchern und Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung sowie eine Erziehung zu Gemeinsinn und Frieden. Für seine Verdienste um Serbien bekam er 2021 von den Universitäten Belgrad und Novi Sad den Republik-Preis „Kapitän Misa Anastasijevic“ verliehen.

Dr Rudolf Lothar Hänsel is a school rector, educational scientist and qualified psychologist. After his university studies, he became an academic teacher in adult education. As a retiree, he worked as a psychotherapist in his own practice. In his books and professional articles, he calls for a conscious ethical-moral education in values as well as an education for public spirit and peace. For his services to Serbia, he was awarded the Republic Prize "Captain Misa Anastasijevic" by the Universities of Belgrade and Novi Sad in 2021.




Online-Flyer Nr. 811  vom 17.05.2023

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