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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Literatur
Charlotte Wiedemann: Den Schmerz der Anderen begreifen
Voller Gefühl und einfühlsamer Gedanken
Buchbesprechung von Evelyn Hecht-Galinski

Charlotte Wiedemann war mir lange als Publizistin und Autorin zahlreicher Bücher bekannt. Schon der Titel ihres neuen Buches machte mich neugierig, und ich wurde nicht enttäuscht. „Den Schmerz der Anderen begreifen“ ist eine Aussage, die in der heutigen Zeit immer mehr ins Abseits gelangt. Gerade angesichts des Holocaust und des jüdischen "Alleinanspruchs" auf eins der schrecklichsten Verbrechen der Menschheit ist diese Forderung nicht mehr gerechtfertigt. Angesichts der unzähligen Genozide und Kriegsverbrechen erscheint mir der alleinige Anspruch auf Mitgefühl und Schuldgefühl nicht mehr zeitgemäß, sondern instrumentalisierend und den Holocaustopfern gegenüber geradezu schändlich. Ich beziehe mich natürlich auf Palästina und die Nakba, der Katastrophe für die Palästinenser, als ewige unschuldige, ebenfalls in großem Maß Leidende.

Schon die Widmung des Buches zum Andenken an Esther Bejarano (1924-2021) - „Sie dachte mit großem Herzen zusammen, was manche trennen“ - war so treffend und richtig, ebenso wie Ihr Vorwort, voller Gefühl und einfühlsamer Gedanken, für mich so ins Schwarze traf. Nehmen wir nur diesen Satz: „Mitgefühl ist nicht gerecht, es folgt nicht dem Grundsatz von der Gleichheit aller Menschen. Den Schmerz der Anderen zu empfinden, mag unmöglich sein, aber ihn zu begreifen und zu respektieren.“

Als ich Charlotte Wiedemanns so hervorragenden Artikel “Nakba und deutsche (Un-)Schuld” in der taz vom 14. Juli 2022 las, war ich mehr als überrascht über so einen ehrlichen Artikel in der taz [https://taz.de/Erinnerungskultur/!5864163/]. Ich bewunderte die Autorin für diese Klarheit und ihre Sicht der Dinge. Wie Wiedemann ein Plädoyer für eine deutsche Erinnerungskultur, die sich palästinensischen Erzählungen öffnen sollte, schrieb, war so richtig und berührend, ohne den Holocaust mit der Nakba gleichzusetzen.

Sie schrieb also, und lassen Sie mich nur diese Sätze zitieren: “Ohne jeden Zweifel ist der Völkermord an den Juden von einer völlig anderen Dimension und einem anderen Charakter als die Nakba. Aber die Nakba hält als Entrechtung an, und viele Palästinenser sehen sich nun seit über siebzig Jahren gezwungen, den Preis für ein europäisches Verbrechen zu bezahlen.“

In ihrem neuen Buch nun, führt uns die Autorin Kapitel für Kapitel durch die Welt und die historischen und politischen Dimensionen des Gedächtnisses, der Erinnerung und der verschiedenen Empfindungen. Es ist ein Geschichtsbuch in einer so bildlichen Reportage, dass sich der Leser immer mitgenommen fühlt. Ihre Reise führt den Leser durch so viele Länder, persönliche Schicksale und Ereignisse, dass man überwältigt wird von der Fülle der Informationen.

Natürlich waren für mich persönlich die Kapitel, Reflexionen über die Einzigartigkeit, Jüdischer Dissens, Israel/Palästina und deutsche Bedürfnisse von besonderer Wichtigkeit.

In diesem Kapitel ist mir ein Satz besonders haften geblieben, da wird Dror Etkes zitiert, ein sehr bekannter israelischer Friedensaktivist, der für seine NGO „Kerem Navot“ illegale jüdische Bauvorhaben in den besetzten palästinensischen Gebieten dokumentiert. „Judentum“ - sagt er unter anderem - „definiert sich nicht durch die Bindung“ an ein bestimmtes Stück Land, und ich bin auch dafür, dass Juden einen Ort haben, um zusammenzuleben. Aber dabei den Anderen zu unterdrücken, das kann kein anständiger Mensch akzeptieren.“

Auch das Nachwort mit Assoziationen zur Ukraine war für mich von besonderem Interesse und unterstreicht die Aktualität dieses wichtigen und unbedingt empfehlenswerten Buchs.


Charlotte Wiedemann: Den Schmerz der Anderen begreifen - Holocaust und Weltgedächtnis



Propyläen Verlag, 2022, ISBN 9783549100493, Hardcover mit Schutzumschlag, 288 Seiten, 22 Euro

Orientierung und Ermutigung zum Handeln: Wege zu einer neuen Gedenkkultur: In einem Moment, in dem hitzige Feuilleton-Debatten den Eindruck erwecken, es ginge um einen kurzlebigen Positionsstreit, stellt Charlotte Wiedemann klar: Was wir erleben, ist eine Zeitenwende – wir müssen unsere Haltung zur deutschen Geschichte aus einer kosmopolitischen Perspektive neu begründen. Das heißt: nicht-europäische, nicht-westliche Sichtweisen ebenso einbeziehen wie die Ansprüche einer jungen, diversen Generation in Deutschland. Wie lässt sich in Zukunft an den Holocaust und an die kolonialen Verbrechen erinnern? Globalhistorisch fundiert und persönlich zugleich denkt Charlotte Wiedemann die Idee des Antifaschismus neu und entwirft ein empathisches Gedenkkonzept für unsere Zeit.

Online-Flyer Nr. 796  vom 10.08.2022

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