NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

zurück  
Druckversion

Literatur
Egbert Scheunemann: "Über uns wird die Kellerwohnung frei – Erzählungen, Kurzgeschichten, Anekdoten"
SCHARF GEWÜRZTES
Buchtipp von Harry Popow

Liest man den Titel, muss man unwillkürlich stutzen und lächeln. Wer wohnt denn unter einem Keller? So tief unten? So tief gesunken? Wer aber den Autor kennt und Bücher von ihm bereits gelesen hat, zum Beispiel sein Buch „Vom Anfang und vom Ende“, der versteht ihn, durchschaut ihn, zumal er in jenem Buch die Globalisierung der Kapitalherrschaft geißelt als eine Weltgesellschaft, die Gefahr laufe, „eine finale Degenerationsphase“ zu erreichen – und quasi im Keller der Sozialentwicklung zu landen.

Nun ahnt es der Leser: Der Autor kommt nicht daher mit billigen politischen Phrasen und Sprüchen, sondern bettet seine Anliegen ein in Texte voller Humor, Ironie und Doppelsinn. Sein großes Thema sind die Widersprüche, die kleinen und die großen, die jeder im Leben zu bewältigen hat. Im Prolog erwähnt der Autor zum Beispiel „reale Anlässe, Anstöße, Motive“, die nicht nur seine Fantasie anregten, sondern „auch Ängste, Befürchtungen, düstere Ahnungen“. „Bis hin zum kollektiven Wahn, der im 20. Jahrhundert Millionen von Menschen das Leben kostete.“ So findet der Leser oft unbekannte oder wenig beachtete Dinge beschrieben, die durch die spezielle erzählerische Beleuchtung einen ganz neuen oder auch erstmaligen Sinn erhalten. Dabei blitzen immer wieder Erkenntnisse auf, die zum Lächeln oder eben auch zum Nachdenken anregen. Welche Erkenntnisse das sind, soll hier natürlich nicht verraten werden.

Es sind fünfzehn kleine und etwas größere Begebenheiten, die der Autor dem Leser schildert, erzählt, unterbreitet und ihn nicht nur ein Mal dazu zwingt, das eigene Ich und das oft gepriesene Wir einfach mal in Frage zu stellen. Wobei ich jene, die äußerste Spannung und Lacher am laufenden Band erwarten, verstehen kann, wenn sie bereits in der ersten Geschichte „Neulich auf dem Rad“ verdutzt dreinschauen mögen und sich fragen, wo denn der Sinn der Erzählung eines eben überstandenen Sturzes mit dem Fahrrad bestehen soll. Siehe an, er gibt seine eigene Schuld für den unter reichlich Bier im Kopf vollzogenen Sturz in abendlicher Dunkelheit zu und schiebt sie nicht auf einen nicht mit „illuminiertem Halsband geschmückten“ kleinen Hund, der ihm in den Weg rannte. Hier möge der Leser erstmalig richtig stutzig werden – hier schreibt einer, dem Scheitern nicht fremd ist und das offen und gleich zu Anfang zugibt. Und darüber sogar noch lachen kann.

Auch bei manch anderen Kurzgeschichten fragt man zunächst nach dem Sinn der Erzählung von Alltagsbanalitäten – um ihn dann doch, hoffentlich, nachdenklich zu erfassen: Der Autor erzählt von der Bekanntschaft mit einer Fliege, die er nicht abfällig als Schmeißfliege bezeichnet, obwohl sie eine ist, sondern sie gewähren lässt in seinem Haushalt, bis sie eines Tages für immer verschwindet. Oder von einem Loch in einem Treppengeländer, das als Aschenbecher genutzt wird. Oder von der Neugier eines BWL-Studenten, der den Autor in einer lauten, überfüllten Kneipe fragt, wie er denn in diesem Trubel in aller Ruhe lesen kann. Der Autor antwortet und schildert freimütig, warum er blödsinnigem Geplauder lieber aus dem Weg geht – und lässt dabei den jungen Studenten in die Tiefen philosophischer Erkundungen tauchen, auch indem der Autor seine Lebensphilosophie bekundet: Es gehe ihm um die „Ekstase des aufrechten Ganges“. Um die „universelle Entfaltung der Persönlichkeit“, von der auch Marx sprach. Und er klärt ganz nüchtern auf: Er arbeite im Schnitt zwei Tage in der Woche als Lektor. So habe er fünf Tage Zeit für besagten aufrechten Gang, für ein Leben für die Wissenschaften, die Musik, die Liebe und Freundschaft, für alles, was das Leben schön macht und einen Sinn verleiht.

Und so nimmt der geneigte Leser auch gerne so manche Stichelei entgegen, ohne dabei das Lächeln zu verlieren, das man bei der Lektüre des Büchleins so oft auf den Lippen hat: Man solle Abschied nehmen vom Lebensmodell „Konsum und Karriere“, vom vermeintlichen Spaß, mit einem SUV, besser: „Citypanzer, der fast drei Tonnen wiegt, im Stop-and-go von roter Ampel zu roter Ampel zu kriechen“. Statt Fitnessstudios aufzusuchen, plädiert er für Reckstange und Hanteln zu Hause. Und der Autor hätte dem BWL-Studenten noch viele andere Beispiele erzählen können, wie man, um wieder mit Marx zusprechen, das Reich der Notwendigkeit so weit wie nur möglich reduzieren kann und sollte, um das Reich der Freiheit und freier Persönlichkeitsentfaltung so weit wie möglich zu erweitern – doch der junge Student musste dann irgendwann los. Die Kurzgeschichte bricht ab und hinterlässt, mal wieder, Nachdenklichkeit. Viel Anlass zum Weiterdenken.

Auch in anderen Geschichten geht es zunächst um vermeintlich Banales, um einen Impftermin, um die Müllabfuhr – aber plötzlich um etwas überhaupt nicht mehr Banales: Als der Autor nach langem Warten endlich einen Impftermin ergattert, ist er froh, „wieder ein beglaubigter vollwertiger Mensch“ sein zu dürfen. Einem Müllmann auf der Straße bescheinigt der Autor, dass seine Arbeit viel wichtiger sei als die „fast aller Politiker“, die vor allem „viel Müll reden und produzieren“.

Der Autor kann aber auch sehr direkt sein, etwa in jener Geschichte, in der er nicht die Banalität des Bösen thematisiert, sondern das Böse schlechthin. Beeindruckend, wie Egbert Scheunemann mit starker innerer Bewegung den Besuch einer Aufführung der dreizehnten, auch „Babi Jar“ genannten Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch schildert, einem musikalischen „Mahnmal aus Anlass eines der schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts. In der Schlucht von Babi Jar, nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew, damals noch sowjetisch, fielen am 29. und 30. September 1941 über 33.000 Juden den nazistischen Mördern aus Deutschland zum Opfer.“ Man wohnt in der Erzählung dieser Aufführung post festum nahezu bei, ist so erstarrt und den Tränen nahe wie so viele der Zuhörer damals.

Die Geschichte „Der Fahrgast“ erzählt von einem Kontakt mit einem dem Autor in einem Zugabteil gegenübersitzenden Mann, der krampfartig einen kleinen Koffer in der Hand hält. Sie beäugen sich gegenseitig, offensichtlich mehr als üblich, als vielleicht auch schicklich. Aus purer Neugier ergibt sich ein politischer Disput über Gott und die Welt, über die Ursachen von Kriegen, über Terror, über den militärisch-industriellen Komplex in den USA. Ein anfänglich gehegter furchtbarer Verdacht verfliegt schließlich in einer völlig unerwarteten Weise. Und wieder zeigt sich, dass Neugier, Erkenntnishunger der Auslöser eines tiefsinnigen Gesprächs ist, das jenseits des Argwohns die Wahrheit offenbart.

Was sagen diese kleinen Geschichten und Begebenheiten dem Leser? So einfach lässt sich diese Frage nicht beantworten. Vor allem gibt es keine allgemeinen, für alle zutreffenden Antworten. Der Autor regt immer wieder zum Nachdenken an, versteckt noch in scheinbar inhaltsfreier Anekdotik eine zu ergründende Botschaft. Festzuhalten ist: Der Autor provoziert seine Leser immer wieder, er lenkt deren Blicke auf scheinbar Nebensächliches, das bei näherem Hinsehen plötzlich Erstaunen auslöst: Ach, das hast du doch selbst schon gesehen oder erlebt – ohne gründlicher darüber nachzudenken. Der Autor hat es aber getan. Nachzudenken. Und dazu anzuregen.

Stil und Sprache des Autors erwecken Vertrautheit, schon nach wenigen Sätzen ist man drin in den Geschichten, in der Sprache, die sie erzählen. Es geht nicht selten salopp zu, dennoch ist alles wohlformuliert. Gehobene, nicht abgehobene Sprachkultur. In einer Rezension zu einem wissenschaftlichen Sachbuch, einer philosophischen Abhandlung würde man sagen: Der Autor versteht es, selbst komplexeste Zusammenhänge und tiefgründige Gedanken verständlich darzustellen. Und das immer wieder mit viel Humor – und hier und da auch einer Emotionalität, die Tränen provoziert.

Resümee

Das locker geschriebene Buch mit oft sehr ernsten Hintergründen, feinsinnigen und spöttischen Sticheleien fällt in eine Zeit des geistigen und materiellen Umbruchs. Da mache man sich nichts vor: Seit Jahrzehnten steht die ausbeuterische und immer wieder Krieg stiftende Kapitalherrschaft im Feuer der Kritik aller friedliebenden Menschen. Und nun passieren Dinge, die auf einen Atavismus hinweisen, der die Brutalität kapitalistischer Ausbeutung und Gewalt noch zu steigern droht – und es schon tut. Umso nötiger ist es, unter dem Druck der Geschehnisse einen kühlen und sehr nachdenklichen Kopf zu bewahren, sich jetzt erst recht in der „Ekstase des aufrechten Ganges“ zu üben.

Ein Wunschtraum des Autors? Wer sein neues Buch liest, wird sich diesen Themen stellen müssen. Der Autor wird deutlich – mit Fragen, die ironisch gestellt sind, aber auf Ernstes hinweisen. Er gibt Anstöße, bringt Unruhe in Herz und Hirn, weckt Sehnsüchte. Vor allem eine tiefe Liebe zum Menschen scheint ihn zu treiben, eine Nähe zum Leben, mitunter ausgelotet bis auf den Grund. Im Klappentext drückt der Autor die Hoffnung aus, der Leser möge herausfinden, was hätte passieren können, wenn ... Er bietet keine fertigen Lösungen an, um Widersprüche und Konflikte zu lösen. Im Grunde geht es darum, gegen die Verführungen zur Bequemlichkeit, zum gedankenlosen Hinnehmen des aktuellen zerstörerischen Geschehens, den inneren Widerstand zu mobilisieren. Was dazu nötig ist? Neugier und vor allem der Drang, hinter die Kulissen des Geschehens zu schauen, das Wort URSACHEN aus der Tiefe des Gedächtnisses hervorzuholen. Noch im scheinbar Banalen die Wirkungsmacht der Herrschenden zu entdecken, es als Manifestation der Gedanken der Herrschenden zu dechiffrieren, die in jeder Epoche noch immer die herrschenden Gedanken sind – wie Marx es zu formulieren beliebte.

Die Ekstase des aufrechten Ganges – die scharf gewürzte Kost in diesem kleinen Büchlein von Egbert Scheunemann möge mancher menschlichen Seele gut tun, sie nähren, sie wachsen lassen.


Zur Person des Autors: Egbert Scheunemann, geboren am 1. März 1958, ist ein deutscher Politikwissenschaftler, Naturphilosoph und Buchautor. Er lebt in Hamburg.


Egbert Scheunemann: „Über uns wird die Kellerwohnung frei. Erzählungen, Kurzgeschichten, Anekdoten“




www.egbertscheunemann.de, Herstellung und Verlag: BoD-Books on Demand, Norderstedt, ISBN: 9783755768-463

Online-Flyer Nr. 788  vom 30.03.2022

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE