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Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

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Krieg und Frieden
Ukraine – Kritik an den Thesen von Winfried Wolf
Faktenwidriges, demagogisches, lügenhaftes Konstrukt
Von Werner Rügemer

Ich halte die Erklärung von Winfried Wolf (1) für ein faktenwidriges, demagogisches, ja lügenhaftes Konstrukt. Dieses harte Urteil scheint mir gerechtfertigt, denn Winfried Wolf als promovierter Wissenschaftler, Ex-Bundestagsabgeordneter und jahrelanger Chefredakteur einer anspruchsvollen Zeitschrift verfügt über ein weit überdurchschnittlich hohes Potential, seine Aussagen einem Wahrheits-Check zu unterwerfen. Diese harte kritische Beurteilung gilt allerdings nicht für alle Darstellungen, sondern für die entscheidende Diagnose im ersten Teil der Erklärung; der zweite Teil zur Vorgeschichte des Konflikts und der Verhältnisse in der Ukraine enthält viele wichtige und zutreffende Punkte. Dieser zweite Teil wird aber durch den ersten Teil entwertet. Die Erklärung hat zudem dieselbe Struktur wie die von Winfried Wolf mitinitiierte Erklärung „Zero Covid“: Zu Beginn wird die herrschende Pandemie-Diagnose der Bundesregierung, der EU usw. vollständig übernommen, dann folgen im 2. Teil hochkritische antikapitalistische Aussagen. So auch in der Erklärung zur Ukraine.

Einige Kritikpunkte zu Wolfs Diagnose des Ukraine-Konflikts:

1. „Die Ukraine ist ein souveräner Staat“

Die Ukraine ist kein souveräner Staat, sondern ist im Gegenteil mehrdimensional von ausländischen Akteuren abhängig:
  • die „Farben-Revolution“ von 2014/Maidan war ein typisch westlich mit-organisierter Umsturz: Westliche Subventionierung und Finanzierung von politischen Aktivisten, Journalisten, Gründung von Medien. Der dann installierte Ministerpräsident Jazeniuk und sein Umkreis waren jahrelang von der Privatstiftung des US-Milliardärs Soros, von der Kommunikationsabteilung der NATO usw. finanziert worden.

  • Hauptsponsor des jetzigen Präsidenten Selensky ist der Groß-Oligarch Ihor Kolomoisky, der auch die Staatsbürgerschaft Zyperns und Israels hat und in Tel Aviv wohnt.

  • Aus dem Westen – insbesondere USA, Kanada, Deutschland/München – kamen die dort seit 1945 staatlich geförderten NS-Kollaborateure nach 1990 schrittweise in die Ukraine zurück. Sie waren die bestorganisierten Kräfte des Maidan 2014. Sie bildeten danach in der Ukraine eigene militärische Formationen, die inzwischen teilweise in das reguläre ukrainische Militär integriert sind und Führungsfunktionen ausüben. Der führende NS-Komplize, Vorsitzender der Partei OUN, beteiligt an zahlreichen Judenmorden während des Weltkriegs, Bandera, agierte nach 1945 von München aus im Kontakt mit CIA, BND und MI6. Sein Grab auf dem Münchener Waldfriedhof ist seit Jahren eine Pilgerstätte der ukrainischen Nationalisten. Auch der langjährige ukrainische Botschafter in Deutschland, Melnyk, fand sich zum ehrenden Gedenken an Banderas Grab ein.

  • Die USA haben schon vor dem Maidan eine Allianz NATO-Ukraine aufgebaut. Solche Allianzen mit Nicht-Mitgliedern und „prinzipiell“ neutralen Staaten wurden von der NATO verstärkt aufgebaut, auch etwa mit der Schweiz und Österreich, aus denen dann Militär an US- und NATO-Kriegen teilnehmen, so in Afghanistan. Seit dem Maidan sind die USA zudem mit Militärberatern in der Ukraine präsent, lieferten immer schwerere Waffen, auch Raketen, für die Beschießung der unabhängigen beiden Republiken im Donbas. Mit Zustimmung der USA und der EU haben die ukrainische Regierungen das Minsker Abkommen verletzt und die vereinbarten Autonomien der beiden Donbas-Republiken verhindert, sie im Gegenteil militärisch bekämpft, mit ca. 14.000 Getöteten.

  • Die Weltbank vergab an die überschuldete und verarmte Ukraine Kredite, die zu diesen Konditionen keinem normalen Schuldner gewährt werden.

  • Ein großer Teil der besonders fruchtbaren, wichtigen und wertvollen Böden („Schwarzerde“) gehören insbesondere US-Agrarkonzernen, ebenfalls sind alle wichtigen US-Agrarausrüster wie Cargill in der Ukraine vertreten.

  • Die Ukraine ist auch deshalb kein souveräner Staat, weil er viele Millionen seiner Bürger nicht ernähren kann, sondern zur Emigration bzw. zur wiederholten migrantischen Arbeit in anderen Staaten zwingt. Etwa 1,5 Millionen Ukrainer arbeiten seit Jahren, teilweise als Pendler, in Niedriglohnsektoren Polens. Ukrainerinnen arbeiten als Niedriglohn-Prostituierte und -Privatpflegerinnen in Westeuropa, vermittelt v.a durch polnische Agenturen. Etwa 3 Millionen sind in die Sowjetunion und andere Staaten ausgewandert. Mit dem Ukraine-Konflikt zeigte sich, einzelnes Beispiel: Den LkW-Speditionen in der EU, z.B. mit Sitz in Litauen, fehlen plötzlich etwa 50.000 LkW-Fahrer: Ukrainer.
2. „Nach dem Staatssozialismus der Sowjetunion wurde in Russland eine neuer Kapitalismus eingerichtet. Er ist auch eine Ursache für die Aggressivität Putins.“

Wolf überspielt hier eine eigentlich weltbekannte, einfache Tatsache: Nach 1990 wurde mit massiver westlicher „Hilfe“ in Russland der Kapitalismus eingeführt, ein Oligarchen-Kapitalismus, wie standardmäßig auch in den meisten anderen ex-sozialistischen Staaten. Am bekanntesten ist der Oligarch Chodorkowski. Sie plünderten zusammen mit westlichen Investoren und auch mithilfe von Briefkastenfirmen in Finanzoasen die Volkswirtschaft aus, verarmten die Mehrheit der Bevölkerung. Die bekannte Führungsfigur war Jelzin: Mit Familienmitgliedern besaß er zahlreiche Schmiergeldkonten in der Schweiz, die westliche Berater einrichten halfen. Der Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs gab „wissenschaftlichen“ Beistand. US-Präsident Clinton platzierte seine eigene Wahlkampftruppe in Moskau, um Jelzins zweiten Wahlkampf zu organisieren.

Dann aber kam der Bruch: Dieser korruptive Ausverkauf wurde durch Putin beendet, auch wenn er wegen deren wirtschaftlicher Machtstellung nicht alle Oligarchen loswerden konnte. Der Kapitalismus blieb, aber der wesentliche Bruch war: Putin stoppte den Ausverkauf. Gerade deshalb wird er seitdem immer mehr als Feind, Diktator, Irrationaler, Machtbesessener angeprangert.

3. „Russland wird autoritär regiert“

Das kann sein. Es gibt viele Varianten autoritären Regierens. Auch das korrupte Zwei-Parteiensystem der USA mit dem „tiefen Staat“ ist eine bekannte Variante autoritären Regierens. Auch die EU ist eine autoritäre Variante, die ausdrücklich prioritär die Interessen von Privatunternehmen vertritt, während das Parlament keine Haushaltshoheit hat und keine Regierung wählen darf. Die Golf-Staaten sind eine andere Variante. Die EU-Oligarchen-Staaten Ungarn, Polen, Litauen, Tschechien usw. werden autoritär regiert. Auch die Pandemie-Politik in Deutschland, die für Wolfs „Zero-Covid“-Erklärung aber noch nicht autoritär genug ist (weil z.B. die Unternehmen nicht geschlossen werden), ist eine Variante autoritären Regierens.

Davon abgesehen, wäre in bestimmten existenziellen Fragen das autoritäre Auftreten demokratischer Staaten etwa gegen die systemische Groß-Steuerflucht der Superreichen und Großkonzerne, beim Verbot der Nutzung von Finanzoasen, bei der Bestrafung der Nichtbezahlung des Mindestlohns, beim Verbot rechtsradikaler bis neofaschistischer Bewegungen usw. sehr sinnvoll.

Auch Jelzin war autoritär, zudem besoffen und korrupt – aber diese Form des autoritären Regierens war offensichtlich (für den US-geführten) Westen gut.

Insofern ist die Charakterisierung Putins als autoritär, selbst wenn sie irgendwie zutrifft, erstens kein wesentliches Unterscheidungsmerkmal und zweitens hier vor allem keine Erklärung für das Verhalten gegenüber der Ukraine.

4. „Putin = irrational, der Westen = rational“


Wolf bezeichnet Putin als „irrational“, den US-geführten Westen dagegen als „rational“. Natürlich ist das wirtschaftliche, politische, militärische, geheimdienstliche, mediale Vorgehen der USA in vieler, formaler Hinsicht rational, sehr rational. Z.B. haben die bekannten privaten US-Elite-Universitäten wie Stanford, Yale, Johns Hopkins und Harvard hochprofessionelle, rationale Methoden des Regierens, auch des gewinnbringenden privaten Investierens, des Schwächens und Bekämpfens und Vernichtens von Feinden entwickelt. Auch so wurden die USA zur „einzigen Supermacht“ auf- und ausgebaut. Zu dieser Rationalität gehören aber bekanntlich die tiefe Verarmung, Erkrankung und Verdummung der Mehrheit der eigenen US-Bevölkerung, die Aufrechterhaltung von Rassismus, völkerrechtswidrige Kriege, regime changes, Einsetzung von Diktatoren, failed states usw.

5. „Putin droht mit Atomkrieg“

Selbst der in den ARD-Extras zur Ukraine mehrfach interviewte Militärexperte der Bundeswehrhochschule München, Prof. Casals, bezeichnet die von Putin charakterisierte Sicherheitsstufe als die 2. in einer Vierer-Skala.

6. „Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine verursacht eine weltweite Aufrüstung“

Nein, die Aufrüstung begann mit der Gründungslüge der NATO 1949 – gut, das können wir „vergessen“. Aber seit 1990 expandiert die NATO in Richtung Russland, obwohl die Gründungs-Begründung weggefallen ist („kommunistische Gefahr“). Zudem wurden in Richtung Russland mehr als ein Dutzend neue Staaten a) in die NATO aufgenommen, b) mit zusätzlichen US-Militärstützpunkten versehen (Polen, Litauen, Rumänien, Kosovo und mit Offensivwaffen (Kurzstrecken-Raketen) ausgestattet; c) bildeten die USA mit den besonders rechtsradikalen und regional Russland-nahen Staaten Kroatien, Ungarn, Polen, Litauen, Lettland, Estland die besonders aggressive „Ost-NATO“.

Seit Obama, von Trump und Biden forciert, verlangen die USA die zusätzliche Aufrüstung mit der 2-Prozent-Forderung. Seit einigen Jahren werden jährlich mit nach Europa zusätzlich verlegten US-Truppen an der Grenze zu Russland die „Defender“-Manöver durchgeführt. Wie im SIPRI-Bericht vom März 2022 ausgeführt: von 2015 bis 2020 hat keine Region der Erde die Waffenimporte (aus den USA) so gesteigert wie die EU.


Fußnote:

1 Stoppt den Kreml-Krieg gegen die Ukraine! - 15 Thesen zum Krieg des Kreml gegen die Ukraine von Winfried Wolf   
https://winfriedwolf.de/?p=1777


Zu den internationalen systemischen Konfliktverhältnissen siehe das Buch von Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts, 365 Seiten, 3. erweiterte Auflage Köln 2021


Online-Flyer Nr. 787  vom 18.03.2022

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