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Literatur
Der neue Roman "Kaisergabel" von Olaf Arndt
Verdrängungskultur im Zeichen von Aufstieg und Niedergang
Von Rudolph Bauer

Wer in einer Buchhandlung auf den Romantitel „Kaisergabel“ von Olaf Arndt stößt, assoziiert spontan ein antiquarisches Essbesteck, ein Museums- oder Erbstück aus der Zeit der Monarchie. Wer indessen „Kaisergabel“ googelt, erfährt, dass es sich dabei um ein Straßenbauwerk handelt, das vom Hannoveraner Stadtbaumeisters Rudolf Hillebrecht in den 1950er Jahren als Teil eines Schnellwegnetzes nach den (Wahn-)Vorstellungen der autogerechten Stadt entwickelt wurde. Der Schnellweg verbindet Hannovers Stadtteil Ricklingen mit der Innenstadt und dem Stadtteil Linden-Süd. Die Bauwerk-Bezeichnung „Kaisergabel“ geht zurück auf die in unmittelbarer Nähe gelegene Kaiser-Brauerei, die in den 1980er Jahren geschlossen wurde. Ihre Gebäude wurden bis zum Abriss im vorigen Jahr 2021 als Fitnesscenter genutzt.

Familienchronik mit grotesk-surrealen Elementen

Aus der kaiserzeitlichen Assoziation und den Vorkenntnissen über die topografischen,  städtebaulichen und stadthistorischen Details, ergibt sich das räumliche und zeitliche Rahmengerüst des Romans „Kaisergabel“. Im Verlauf einer Stück um Stück spannend sich entfaltenden Familienchronik mit grotesk-surrealen Elementen beleben die handelnden Personen das zeitgeschichtliche Panorama des westdeutschen 20. Jahrhunderts mit ihren Kleine-Leute- und Kleinbürger-Biografien.

Aus der Perspektive des Ich-Erzählers namens Mike Mandt dokumentiert der Autor die Vorgeschichte der heutigen Gegenwart, deren chiffrierte Dramatik Arndt in seinem zuvor veröffentlichten Erstlings-Roman „Unterdeutschland“ genial entfesselt hatte. In „Kaisergabel“ erleben wir am Beispiel des Scheiterns, der Schäden und Leerstellen sowie der wohlverborgenen Abgründe im Leben der Handelnden die düstere, im vorigen Jahrhundert angesiedelte Vorgeschichte des unterirdischen Heute. 

Zu den Personen der Handlung gehören –  außer dem Erzähler – dessen Vater, ein verbeamteter Ingenieur, der die „Kaisergabel“ erdacht hatte, ursprünglich gelernter Mauerer, Boxer, Rugbyspieler und Jazzfan, ferner seine Arbeitskollegen, der Großvater Friedrich, dessen bäuerliche Verwandtschaft, die Mutter Erika und deren Vorfahren aus dem Osten – kurz: Der Roman versammelt die Mitglieder einer komplexen Verdrängungskultur im Zeichen von Aufstieg und Niedergang. Eine besondere Rolle spielt dabei das Porträt der ihre Herkunft verleugnenden Mutter, die terrorisierende Verkörperung des hart und krank machenden „Klassenaufstiegs“ in der Nachkriegszeit des so genannten Wirtschaftswunders.

Die Statussymbole der Shoppinggesellschaft

Der Roman beginnt mit dem erzählerischen Kunstgriff, dass Mike Mandt und seine imaginierte Schwester Katharina Verena, genannt Q, auf abenteuerliche Weise zunächst die biografischen Wurzeln ihrer Eltern und des familiären Umfeldes erforschen. Dies geschieht sowohl unmittelbar in Gesprächen mit den Erwachsenen als auch mit Hilfe von gefundenen Aufzeichnungen, archivierten Zeitungsausschnitten, Foto-Ordnern und Dias. Die Dokumentation erfolgt teils mittels schriftlicher Aufzeichnungen, teils in Form von Tonbandaufnahmen, die im Roman transkribiert sind.

Jenseits der Elterngeneration werden rückblickend sowohl schuldhafte Familiengeheimnisse als auch das soziale und politische Schicksal der Arbeiter in der Weimarer Zeit und während der Hitlerei offenbar. Genossenschaftlich und in Selbsthilfe entstehen die ersten Eigenheime. Zusätzlich zu den generationenübergreifenden Zusammenhängen werden Querverbindungen in der Verwandtschaft, im Wohnumfeld und unter den Arbeitskollegen erkennbar. Die Kinder der Nachbarschaft organisieren sich als Straßengang, genannt die „Schlangenbande“: „Alle Mitglieder waren Kinder aus SPD-Umfeld und kommunistischen Familien. Eine Meute von manischen Hassern der HaJott.“

Die Existenz der Haupt- und Nebenfiguren ist – eine der vielen kurios erscheinenden Besonderheiten des Romans – historisierend eingebettet in ein Bezugs-Netz von Konsumgütern und Statussymbolen, die den Romanablauf als Stationen des wachsenden Wohlstands begleiten. Sie ‚erden‘ das Handlungsgeschehen in der bundesrepublikanischen Konsum- und Shoppinggesellschaft mit Hilfe von Kassettenrekordern Marke „Telefunken“ und „Uher“, „Wanderer“-Fahrrädern, Diaprojektoren, „Philips“-Geräten und „Ikea“-Möbeln bis hin zu „Diazepam“, bekannt auch als Valium.

Große Literatur mit Pop, Punk und Anarchismus

Auf der letzten Seite der streng komponierten, zugleich aber locker erzählten, höchst authentisch wirkenden und fesselnd-faszinierenden Romankonstruktion überrascht der Autor die Leser mit der lakonischen Feststellung: „Kaisergabel enthält keine Erinnerungen, die einer sorgfältigen Überprüfung standhalten. … Die Figuren sind reines Flechtwerk, Zöpfe aus mehreren echten und frei erfundenen Personen. … Gebt Euch keine Mühe, irgendetwas zu entschlüsseln. Nicht einmal ich hatte so eine Mutter. Erika ist aus allen möglichen und unmöglichen Müttern zusammengeschraubt.“

Das Zitat vermittelt einen nur schwachen Eindruck vom ironisierenden Sprach- und Handlungsduktus des Romans. Wir werden Zeugen der alles andere als verstaubten Chronik eines Familienverbandes und seiner letztendlichen Auflösung. In der dramatischen Verflochtenheit der beschriebenen Charaktere tritt die Familiengeschichte stellenweise zwar wie eine nüchterne Dokumentation auf, welche sich aber immer wieder poetisch und literarisch aus der entfremdeten Banalität des Alltags befreit. Eine Art historischer Roman also, dessen eigenwilliger Stil es zulässt, dass sich beim Lesen überraschende literaturgeschichtliche Assoziationen einstellen. Andererseits entdecken wir auch kräftige Spuren des literarischen Anarchismus, der Popkultur und des Punk.

Wie schon „Unterdeutschland“, so hat der Bremer Verlag mox & maritz auch Arndts neues Werk meisterlich gestaltet. Für einen Roman äußerst ungewöhnlich, ist das Buch mit zwei verschiedenfarbigen Merkbändchen ausgestattet. Der Roman – mein heimlicher Kandidat für das literarische Bestseller-Ranking – vermittelt nicht nur einen literarisch-erzählerischen Genuss, sondern es bereitet aufgrund seiner Gestaltung auch haptisch-ästhetisches Vergnügen.


Olaf Arndt: Kaisergabel



Roman. Bremen: mox & maritz Verlag Stefan Ehlert 2022. 244 Seiten. ISBN 978-3-934790-22-3. 19,80 Euro

Online-Flyer Nr. 785  vom 28.01.2022

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