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Inland
Schreiben an Berlins Innensenator Andreas Geisel wegen dessen Aussagen zu BDS
Für Gleichberechtigung und Menschenrechte in Palästina/Israel
Von Tanya Ury

Am 25. September 2019 hat der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) der ZEIT ein Interview gegeben (1), in dem er sich auf die Seite des rassistischen Apartheid-Staates Israel stellt und das Eintreten für die Menschenrechte als antisemitisch diffamiert. Geisel macht sich zum Anwalt der kriminellen israelischen Politik und beschreibt aus dieser Perspektive BDS als wirkungsmächtige Bedrohung, die es auszuschalten gilt: "Die Hoffnung, dass das eine Randerscheinung ist, vor der man die Augen verschließen kann, trügt. Diese Bewegungen verschwinden nicht einfach wieder von alleine." Es geht ihm also darum, die Menschenrechtsbewegung BDS zum Verschwinden zu bringen. Und er beschreibt, was bereits alles im Interesse des israelischen Unterdrückungsregimes insbesondere zur grundgesetzwidrigen Beschneidung der Meinungsfreiheit unternommen wurde: "Wir haben Antisemitismusbeauftragte bei der Polizei und in der Justiz eingerichtet. Wir haben einen runden Tisch gegen antisemitische Gewalt ins Leben gerufen." Diese Maßnahmen hält er für "gut und wichtig", aber nicht für ausreichend. Er will den deutschen Inlandsgeheimdienst gegen die BDS-Menschenrechtsbewegung zum Einsatz bringen, indem er fordert, "dass sich die deutschen Verfassungsschutzbehörden stärker mit dem BDS und seinen antiisraelischen Positionen auseinandersetzen sollten... Man muss feststellen, wie sehr BDS verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt." Tanya Ury, Mitglied der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost", hat daraufhin ein Schreiben an Berlins Innensenator Andreas Geisel gerichtet, das die NRhZ nachfolgend wiedergibt.


Sehr geehrter Herr Andreas Geisel, Ihr Interview mit Holger Stark in der ZEIT vom 25. September 2019 möchte ich wie folgt kommentieren:

Sie reden von einem Antisemitismus, der durch die Zuwanderung nach Deutschland importiert worden sei und einem verwurzelten Antisemitismus, der schon immer oder noch hier existiere.

Sie denunzieren die BDS-Kampagne, sie stelle das Existenzrecht Israels in Frage. Tatsächlich tut sie das nicht, sondern sie setzt sich mutig als Sprachrohr für die Palästinenser ein, die in Palästina leben und unter einem Apartheid-Staat leiden müssen. BDS spricht sich für Gerechtigkeit für eine Minderheit aus, die sonst nicht gehört wird. In einem Land, Deutschland, das sich für demokratisch hält, sollte es wohl möglich sein, friedlich zu demonstrieren und in der Öffentlichkeit für die Gleichberechtigung und die Menschenrechte des palästinensischen Volks in Palästina/Israel einzutreten.

Ich bin betroffen, wenn man mich als Antisemitin beschreibt, nur weil ich als Mitglied der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V. zusammen mit BDS für solche Rechte meine Stimme erheben möchte. Ich bin eine Jüdin der zweiten Generation - kurz nach dem Holocaust geboren - die Verwandte verloren hat, die sie nie kennen lernen konnte, weil sie im nationalsozialistisch regierten Deutschland von realen Antisemiten vernichtet wurden. Als Künstlerin und Schriftstellerin bin ich vor über 25 Jahren aus England nach Deutschland zugewandert, um den Holocaust, vor dem Teile meiner Familie flüchten konnten, aufzuarbeiten und um herauszufinden, wie es wäre, als Jüdin in Deutschland nach dem Holocaust zu leben. Nach der Wende war ich auch beunruhigt, als der Antisemitismus in Deutschland wieder deutlicher ans Tageslicht kam.

Es gibt ein häufiges Missverständnis, wenn über eine israelische Regierung diskutiert wird, in deren Namen Unrecht gegenüber dem Palästinensischen Volk ausgeübt wird: Es ist nicht Antisemitismus, wenn über Menschenrechte gesprochen wird.

Wenn Sie von dem Mord an Walter Lübcke - von einem Rechtsextremisten begangen - sprechen, der sich für die Rechte der Flüchtlinge in Deutschland und gegen die rechten Kagida-Demonstrationen, also Pegida in Kassel, ausgesprochen hat, und Sie im gleichen Satz eine von BDS ausgehende Gefahr betonen, ist solche ein Vergleich vollkommen missraten. Lübcke bezog eindeutig Position gegen Rechtsextremismus und unterstützte die Heimatlosen und Machtlosen; ebenso macht sich BDS stark für diejenigen, die kaum Mitspracherecht in Palästina haben – was auch wir jüdischen Mitglieder der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ tun. Weder BDS noch die "Jüdische Stimme" sind Antisemiten, sondern besorgte Bürger, die unser demokratisches Recht, gegen Unrecht zu protestieren, in Deutschland friedlich - selbstverständlich friedlich - ausüben.

Sie sagen: „Wenn jemand herabgewürdigt wird, weil er Jude ist, ist das ein Angriff auf die Menschenwürde und damit gleich auf Artikel 1 unseres Grundgesetzes.“ Dazu kann ich nur sagen, dass wir (die „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“), die wir BDS unterstützen und die wir alle mit friedlichen Aussagen für die Unantastbarkeit der Menschenwürde in die Öffentlichkeit treten wollen, mit solchen Vorwürfen von Ihnen ebenfalls herabgewürdigt werden.

Und wenn Sie sagen: „Von 'Boykottiert Israel' ist es nicht mehr weit bis zu 'Kauft nicht bei Juden'. Das sollte man vor unserem historischen Hintergrund entsprechend einordnen“, dann ist dieser Vergleich verworren; eher sollte man an die erfolgreiche Boykott-Kampagne gegen das Apartheid-System und für Gleichberechtigung in Südafrika erinnern, für die sich ebenfalls viele Juden wie Joe Slovo, Ruth First, Albie Sachs und andere eingesetzt haben. Indem sie für gleiche Rechte aller Bürger Südafrikas kämpften, setzten sie sich zugleich für die Menschenwürde aller ein. Waren das auch „nicht unbedingt moralisch gute Menschen“, wie Sie die Künstler Roger Waters und Brian Eno wegen ihres Einsatzes für BDS beschreiben?


Fußnote:

1 ZEIT-Interview mit Berlins Innensenator Andreas Geisel vom 25. September 2019
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-09/andreas-geisel-innensenator-berlin-bds-bewegung-verfassungsschutz

Online-Flyer Nr. 721  vom 02.10.2019

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