SUCHE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Druckversion
Literatur
Aus dem Roman "Bitten der Vögel im Winter" (Auszug 1)
Kinderheim Mulfingen, 1942
Von Ute Bales
„Nun iss endlich! Nun mal los, iss doch. Und sitz gerade!“ Diese Worte genügen. Er stößt den Teller zurück, die Suppe schwappt über, gelbliche Brühe bildet eine Pfütze, die langsam in den Ritzen der Tischplatte versickert. Mit erhobener Hand steht die Schwester vor ihm, die weiße Flügelhaube zittert. „Was für ein Tölpel!“ Er schrammt den Stuhl zurück: „Ich will nach Hause!“ Die Schwester reißt an seinem Haar, droht mit Arrest. Er hält die Hände vors Gesicht, erwartet, dass sie zuschlägt. Aber sie schreit nur. „An Regeln halten musst du dich! Sonst wird es nichts mit dir!“ Ihre Stimme wird grell, türmt sich vor ihm auf. Ob er das verstanden hat. Er sitzt da, sieht den aufgerissenen Mund mit den schadhaften Zähnen, die roten Flecken, die sich in ihrem Gesicht gebildet haben und klammert sich an die Sitzfläche des Stuhls. „Ich will nach Hause!“
Ein Junge sitzt ihm gegenüber. Seine Haare sind so kurz, dass man die Kopfhaut sieht. Er löffelt und hält den Kopf gesenkt. Als die Schwester eilt, einen Lappen zu holen, flüstert er: „Halt die Klappe mit so was. Wenn sie böse ist, nimmt sie dir den Teller weg.“ Der Junge schielt nach der auf der Tischplatte zerfließenden Suppe. Mit schnellen Bewegungen tupft er mit einem Stück Brot die restlichen Brühepfützen vom Tisch, stopft sich alles in den Mund und schmatzt.
Das Sprechen während des Essens ist verboten. Nur das Scharren der Löffel und das Klappern mit Besteck sind zu hören. Der Kahlgeschorene hat ständig die Schwester im Blick. Wenn sie nicht hinsieht, kratzt er sich an den Füßen. Er ist barfuss. Seine Zehen sind voller Frostbeulen.
Anton ist noch nicht lange im Heim. Er sitzt neben zwei Mädchen. Die Mädchen sind auch barfuß. Sie könnten Zwillinge sein, so ähnlich sehen sie sich. Alles an ihnen ist rund und prall: die Gesichter mit den Knopfaugen, die kleinen Hände, die Bäuche unter den gestrickten Kleidern, sogar die Füße. Sie sitzen nur da und sehen herüber. Als die Schwester mit dem Lappen kommt, rücken sie dicht zusammen, wie Vögel im Winter.
Die Schwester schwenkt den Lappen und sieht Anton strafend an. „Das machst du nicht noch mal, sonst kommst du in den Keller!“ Der Kahlgeschorene gibt ihm einen Tritt unterm Tisch. Der Speisesaal ist voller Kinder. Die Jüngsten können kaum über die Tischplatte sehen. Die größeren Jungen besetzen einen Tisch am Fenster. Sie tragen braune Arbeitsanzüge und Holzschuhe. Manche kommen nur abends. Tagsüber helfen sie im Feld oder im Wald, harken die Wege, die akkurat sein müssen, pflegen die Blumenrabatten.
Jungen und Mädchen schlafen getrennt. Außer einem Stockbett hat jedes Kind einen Schemel, ein kleines Spind, einen Trinkbecher, einen Napf und einen Löffel. Blitzblank muss alles sein. Kein bisschen Staub darf an den Schuhen kleben. Niemand darf beim Essen kleckern. Spind und Bett müssen ordentlich gehalten werden. Die Bettlaken haben oben rechts drei rote Kreuze. Die roten Kreuze müssen sichtbar sein, wenn das Laken zusammengefaltet ist. Jeden Morgen, vor dem Appell, werden Spinde und Schuhe kontrolliert.
Alles ist Anton fremd. Der Schlafsaal mit dem trüben Licht, die vielen Betten übereinander, das Wecken um fünf Uhr morgens. Auch das Beten, das unbehagliche Schweigen zu den Mahlzeiten, das frühe Zubettgehen. Das Essen schmeckt scheußlich. Das schwarze Brot ist so hart, dass man sich die Zähne ausbeißen könnte. Die Milch aus dem verbeulten Aluminiumnapf ist mit Wasser verdünnt.
Bitter ist es, dass er seine Sprache nicht mehr sprechen darf. Und dass sie ihm die Haare geschoren haben wie einem Schaf. Am schlimmsten aber ist, dass er nicht weiß, wo der Vater und die Mutter und die Geschwister sind und wann sie ihn endlich holen.
„Ich will nach Hause.“ Das ist alles, was er sagt.
Manchmal sieht Anton den Vater. Er muss nur die Augen ganz fest schließen, dann steht der Vater unten im Hof, die Kappe in der Hand, und nickt ihm zu. Über sein Haar - so dicht, so lockig – fliegen die Krähen. Der Vater schwankt ein bisschen, die Hose ist voller Fusseln, die feinen Streifen seines hellen Sonntagsanzugs laufen schief und krumm und durcheinander. Anton darf nur nicht die Augen öffnen, denn dann verschwindet der Vater wieder mitsamt seinem Schnurrbart und seinen weiten, grauen Hosen. Als ob der Wind ihn davonträgt, so wie die Töne seiner Geige, die irgendwann verklungen waren.
Früher hatte der Vater in Pfullendorf einen Laden betrieben, wo er Musikinstrumente reparierte und verkaufte. Dann war die Polizei gekommen, hatte ihm seinen Handel verboten, weswegen er kurz darauf, mitten in der Nacht, Kleidung und Essen zusammengerafft, die Pferde aus dem Stall geholt und den Wagen bepackt hatte.
Seither waren sie unterwegs, lebten in Wäldern, in alten Fabriken, manchmal bei Bauern. Einmal war er bis zu einem riesigen Felsen gelaufen. Von oben hatte er die alten Häuser unter sich gesehen, die Brücke über den Fluss, den Bahnhof mit den schwarzen Loks, weiter hinten eine verfallene Burg und Leute in ihren Gärten, ganz klein, wie winzige Punkte. Noch weiter hinauf war er dem grasigen Hang gefolgt, bis dorthin, wo Kiefern wuchsen, Nusshecken und Eichen. Tastend versuchte er die Füße richtig zu setzen. Steil fiel neben ihm der Berghang ab. Überall blühten gelbe Sträucher, wie golden sahen sie aus gegen den hellen Himmel. Sonderbare Steine gab es. Kleine Tiere, auch Fische wohnten darin, die zu Stein geworden waren. Wildblumen dufteten, grünglänzende Käfer trugen Hörner auf dem Kopf. An Baumstämmen wuchsen grüne, kelchförmige Pilze. Ameisenhügel gab es hier mehr als anderswo. Lange hatte er über einem der Hügel gehockt und den Tieren zugesehen, die in emsigen Kolonnen Kiefern- und Fichtennadeln, winzige Äste, Grashalme und Rindenstückchen schleppten.
Da war ihm ein Bauer mit einer geschulterten Sense entgegengekommen, hatte die Kappe gehoben, gelacht, die Hand nach ihm ausgestreckt und gerufen, dass er einen so feinen Zigeunerjungen gut gebrauchen könnte. Gerannt, gerannt, gerannt war er. Zurück zu seinem Dada.
Aufgefangen hatte ihn der Dada, ihn auf seine starken Schultern gehievt und am Ufer der Kyll wieder abgesetzt.
Mindestens drei Sonntage ist es her, dass sie ihn fortgerissen haben. Seitdem schläft er auf der schmalen Pritsche unter der des Kahlköpfigen, der Karli heißt. Die Sonntage sind leicht zu erkennen, denn dann gibt es richtige Milch zum Frühstück und sie müssen nicht in die Schule, dafür zweimal in die Kirche. Dabei marschieren sie in Zweierreihen, den Zeigefinger vor den Lippen. Disziplin und Schweigen sind das Wichtigste. Einmal in der Woche wird geduscht und es gibt frische Unterwäsche. Das ist am Samstag. Die Jungen duschen getrennt von den Mädchen. Bei den Jungen kontrolliert Schwester Richarda die Unterhosen. Ist eine verschmutzt, schlägt sie den Schweinen, wie sie sie nennt, mit einem Rohrstock auf den entblößten Hintern, bis es rote Striemen gibt und manchmal die Haut aufplatzt.
Im Schlafsaal ist es immer unruhig. Karli schläft schlecht und knirscht mit den Zähnen. Manchmal werden welche mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und auf einen Nachttopf gesetzt. Manche hören nicht auf zu schreien. Dann bekommen sie etwas in den Mund gestopft und werden schnell ruhig. Auf Wilhelm hat es die Schwester Oberin besonders abgesehen. Wenn er ins Bett macht, steckt sie ihn in eine Wanne mit eiskaltem Wasser. Einmal erbricht er das Essen. Da stopft die Oberin es ihm mit Gewalt in den Mund zurück.
Das Klassenzimmer ist groß, weiß gekälkt und riecht nach Kreide und Bohnerwachs. Die Schülerbänke sind eng. Es sind Doppelsitzer mit einem Tisch, der Löcher für Tintenfässer hat. Die Tintenfässer fehlen. Auf den Pultdeckeln haben sich Flecken ins Holz gefressen.
Neben einem großen Bild des Führers hängt eine Landkarte, auf der die Siege mit kleinen Fähnchen markiert sind: Dänemark und Norwegen, die Niederlande, Luxemburg und Belgien. Anton kennt die Länder nicht. Dafür kennt er Schwaben, den Schwarzwald und die Eifel, wo er mit den Eltern war. Die Eifel und Schwaben sind auf der Karte nicht zu finden.
Manchmal kommen Bäuerinnen mit Pferdefuhrwerken angefahren und suchen sich Kinder für die Landwirtschaft aus. Es sind Bäuerinnen, deren Männer im Krieg sind. Sie prüfen die Kinder wie das Vieh, schauen ihnen in den Mund, betasten die Muskeln.
Manche der Kinder bleiben dann lange weg. Diejenigen, die Geschwister im Heim haben, kommen manchmal an Sonntagen vorbei und bringen Gemüse, Speck und Brot. Es gibt auch Kinder, die von der Polizei abgeholt werden und nicht mehr wiederkommen.
Über die, die verschwinden, wird leise gesprochen. „Die Gestapo holt sie“, flüstert Karli von seinem Bett herunter und Anton stützt sich auf die Ellenbogen und fragt schläfrig: „Was ist Gestapo?“ Karli tut geheimnisvoll. Was Gestapo heißt, will er nicht verraten. Nur, dass die Gestapo die Kinder ins Lager bringt, vielleicht aber auch zu ihren Eltern, sagt er. In dieser Nacht wartet Anton auf die Gestapo, stellt sich vor, wie sie ihn zu seinem Dada bringen.
Ute Bales: Bitten der Vögel im Winter
Roman, Rhein-Mosel-Verlag, Zell, 2018, 410 Seiten, Hardcover, 22,80 Euro
Pressetext zum Buch
Es braucht Mut, einen Roman aus der Perspektive einer NS-Täterin zu schreiben und Ute Bales ist mehrfach gewarnt worden. Sie hat es trotzdem getan und beschreibt in ihrem neuen Werk „Bitten der Vögel im Winter“ ein tiefdunkles Kapitel der deutschen Geschichte, über das bis heute weitgehend geschwiegen wird. Es geht um die Verfolgung der Sinti und Roma und es geht um Eva Justin, eine der bekanntesten „Rassenforscherinnen“ zur Zeit des Nationalsozialismus.
Es ist ein aufwühlender Roman, der kontrovers diskutiert wird. Die Hauptfigur, Eva Justin, ist grotesk, widersprüchlich, ungeheuerlich. Ute Bales erzählt von Selektionen in Jugendgefängnissen, von nächtlichen Übergriffen auf Lagerinsassen, von Kinderspielen, die über Leben und Tod entscheiden. Eva Justin ist keine Phantasiefigur. Sie bewegt sich auf einem gut recherchierten, historischen Terrain. Orte und Personen, die unfassbaren Verbrechen und die damit verbundenen administrativen Vorgehensweisen hat es wirklich gegeben. Historische, politische und psychologische Ebenen verschmelzen: Was ist der Mensch und warum wird er zum Täter?
Eva Justin wurde im Kaiserreich geboren. Ute Bales schildert deren Kindheit, die strenge Erziehung und den schon früh auffälligen Drang, alles zu sortieren und zu ordnen. Hier mögen die Wurzeln liegen für ihre spätere monströse Aufgabe im Nazi-Reich.
Als junge Frau nimmt Justin an einem Lehrgang für Krankenschwestern in Tübingen teil und lernt dort Dr. Robert Ritter kennen, Oberarzt mit besten Karriereaussichten, verheiratet. An Ritter ist nichts zufällig, nichts nebensächlich. Sie ist bereit, als er fragt, ob sie seine Arbeit unterstützen will. Saubere Menschen sind sein Ziel. Eine „Rasse“ ohne Makel. Von Anfang an teilt Justin seine Lust zu forschen, unterstützt seine Arbeit und geht bald eine Beziehung mit ihm ein, die in ein sexuelles Abhängigkeitsverhältnis führt, das als Analogie der Abhängigkeit der Deutschen zu Hitler gelesen werden kann. Konsequent tut Justin das, was Ritter sagt, hinterfragt nichts, sieht weg, wo es heikel wird, verbeugt sich vor jedem seiner Worte.
1936 folgt sie ihm nach Berlin, wo er zum Leiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt“ berufen wird. Die Forschungsstelle befasst sich hauptsächlich mit „Zigeuner-Gutachten“. Im Rahmen großangelegter Aktionen zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ vermessen, verhören und klassifizieren die Arbeitsgruppen, zu denen Eva Justin gehört, Tausende Sinti und Roma und legen „Sippenarchive“ an. Justins Verhältnis zu Ritter führt dazu, dass sie ein immenses Arbeitstempo an den Tag legt. Sie glaubt einer großen Bewegung anzugehören, Teil einer gleichgesinnten Gemeinschaft zu sein.
1937 beginnt sie, auf Ritters Wunsch hin, neben ihrer Tätigkeit als „Rassenforscherin“, ein Studium der Anthropologie und macht sich auf dem „Zigeunerrastplatz“ Berlin-Marzahn, wo immer mehr Sinti und Roma konzentriert werden, bald einen Namen als „Zigeuner-Expertin“. Die Gutachten, die sie und die Kollegen verfassen, dienen als Grundlage, Sinti und Roma in Lager zu deportieren, wo sie entwürdigt, gefoltert, verstümmelt und ermordet werden.
Um die Gutachten aufzuwerten, verlangt Ritter, dass Justin eine Doktorarbeit schreiben soll. Er hat Bedenken, die massenhaften Bewertungen, die Todesurteilen gleichkommen, von einer Studentin unterschreiben zu lassen. Obwohl Justin kein abgeschlossenes Studium vorweisen kann, wird sie mithilfe seiner einflussreichen Kollegen zur Promotion zugelassen. In ihrer Arbeit untersucht sie, inwiefern „Zigeunerkinder“ erziehbar sind oder nicht. 1942 reist sie zu diesem Zweck ins schwäbische Mulfingen, wo ihr in einem katholischen Kinderheim 40 Sinti-Kinder zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt werden. Die Heimkinder bleiben so lange von der „Endlösung“ verschont, wie sie Justin als Versuchsobjekte nützen. Nach Abschluss der Doktorarbeit werden sie der SS übergeben und nach Auschwitz ausgewiesen.
Bei allem, was sie tut, bleibt Justin unzugänglich und kalt. Nur Ritter gegenüber zeigt sie Gefühl. Erbarmungslos reißt sie Familien auseinander, lässt Leute verhaften und Frauen, wenn sie nicht spuren, die Haare abschneiden. Sie weiß, was sie tut. Fassungslos verfolgt man, wie sie Kinder aushorcht, Leute denunziert, eine Schwangere zur Zwangsabtreibung schickt. Bei alldem begreift Justin nicht, dass alle angeblichen Eigenschaften, die sie den „Zigeunern“ zuschreibt – Dummheit, Gemeinheit, Schwachheit – ihre eigenen Eigenschaften sind.
„Bitten der Vögel im Winter“ erinnert eindrücklich an die mörderische Politik der NS-Zeit, die auf Basis einer verheerenden Rassenideologie unter anderem zur Vernichtung von mehr als 500.000 Sinti, Roma und Jenischen in Deutschland und Europa führte.
Ute Bales, 1961 in der Eifel geboren und dort aufgewachsen, studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Kunst in Giessen und Freiburg, wo sie seither lebt und arbeitet. Sie ist Mitglied im Literaturwerk Rheinland-Pfalz-Saar e.V., im Literarischen Verein der Pfalz, im Literatur Forum Südwest e.V. Freiburg, gehört dem Kunstverein Weißenseifen/Eifel an sowie der Künstlergruppe SternwARTe Daun. Sie hat bisher sieben Romane veröffentlich sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Essays. Der Roman „Bitten der Vögel im Winter“ ist mit dem Martha-Saalfeld-Förderpreis 2018 des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet worden.
Online-Flyer Nr. 696 vom 13.03.2019
Druckversion
Literatur
Aus dem Roman "Bitten der Vögel im Winter" (Auszug 1)
Kinderheim Mulfingen, 1942
Von Ute Bales
„Nun iss endlich! Nun mal los, iss doch. Und sitz gerade!“ Diese Worte genügen. Er stößt den Teller zurück, die Suppe schwappt über, gelbliche Brühe bildet eine Pfütze, die langsam in den Ritzen der Tischplatte versickert. Mit erhobener Hand steht die Schwester vor ihm, die weiße Flügelhaube zittert. „Was für ein Tölpel!“ Er schrammt den Stuhl zurück: „Ich will nach Hause!“ Die Schwester reißt an seinem Haar, droht mit Arrest. Er hält die Hände vors Gesicht, erwartet, dass sie zuschlägt. Aber sie schreit nur. „An Regeln halten musst du dich! Sonst wird es nichts mit dir!“ Ihre Stimme wird grell, türmt sich vor ihm auf. Ob er das verstanden hat. Er sitzt da, sieht den aufgerissenen Mund mit den schadhaften Zähnen, die roten Flecken, die sich in ihrem Gesicht gebildet haben und klammert sich an die Sitzfläche des Stuhls. „Ich will nach Hause!“
Ein Junge sitzt ihm gegenüber. Seine Haare sind so kurz, dass man die Kopfhaut sieht. Er löffelt und hält den Kopf gesenkt. Als die Schwester eilt, einen Lappen zu holen, flüstert er: „Halt die Klappe mit so was. Wenn sie böse ist, nimmt sie dir den Teller weg.“ Der Junge schielt nach der auf der Tischplatte zerfließenden Suppe. Mit schnellen Bewegungen tupft er mit einem Stück Brot die restlichen Brühepfützen vom Tisch, stopft sich alles in den Mund und schmatzt.
Das Sprechen während des Essens ist verboten. Nur das Scharren der Löffel und das Klappern mit Besteck sind zu hören. Der Kahlgeschorene hat ständig die Schwester im Blick. Wenn sie nicht hinsieht, kratzt er sich an den Füßen. Er ist barfuss. Seine Zehen sind voller Frostbeulen.
Anton ist noch nicht lange im Heim. Er sitzt neben zwei Mädchen. Die Mädchen sind auch barfuß. Sie könnten Zwillinge sein, so ähnlich sehen sie sich. Alles an ihnen ist rund und prall: die Gesichter mit den Knopfaugen, die kleinen Hände, die Bäuche unter den gestrickten Kleidern, sogar die Füße. Sie sitzen nur da und sehen herüber. Als die Schwester mit dem Lappen kommt, rücken sie dicht zusammen, wie Vögel im Winter.
Die Schwester schwenkt den Lappen und sieht Anton strafend an. „Das machst du nicht noch mal, sonst kommst du in den Keller!“ Der Kahlgeschorene gibt ihm einen Tritt unterm Tisch. Der Speisesaal ist voller Kinder. Die Jüngsten können kaum über die Tischplatte sehen. Die größeren Jungen besetzen einen Tisch am Fenster. Sie tragen braune Arbeitsanzüge und Holzschuhe. Manche kommen nur abends. Tagsüber helfen sie im Feld oder im Wald, harken die Wege, die akkurat sein müssen, pflegen die Blumenrabatten.
Jungen und Mädchen schlafen getrennt. Außer einem Stockbett hat jedes Kind einen Schemel, ein kleines Spind, einen Trinkbecher, einen Napf und einen Löffel. Blitzblank muss alles sein. Kein bisschen Staub darf an den Schuhen kleben. Niemand darf beim Essen kleckern. Spind und Bett müssen ordentlich gehalten werden. Die Bettlaken haben oben rechts drei rote Kreuze. Die roten Kreuze müssen sichtbar sein, wenn das Laken zusammengefaltet ist. Jeden Morgen, vor dem Appell, werden Spinde und Schuhe kontrolliert.
Alles ist Anton fremd. Der Schlafsaal mit dem trüben Licht, die vielen Betten übereinander, das Wecken um fünf Uhr morgens. Auch das Beten, das unbehagliche Schweigen zu den Mahlzeiten, das frühe Zubettgehen. Das Essen schmeckt scheußlich. Das schwarze Brot ist so hart, dass man sich die Zähne ausbeißen könnte. Die Milch aus dem verbeulten Aluminiumnapf ist mit Wasser verdünnt.
Bitter ist es, dass er seine Sprache nicht mehr sprechen darf. Und dass sie ihm die Haare geschoren haben wie einem Schaf. Am schlimmsten aber ist, dass er nicht weiß, wo der Vater und die Mutter und die Geschwister sind und wann sie ihn endlich holen.
„Ich will nach Hause.“ Das ist alles, was er sagt.
Manchmal sieht Anton den Vater. Er muss nur die Augen ganz fest schließen, dann steht der Vater unten im Hof, die Kappe in der Hand, und nickt ihm zu. Über sein Haar - so dicht, so lockig – fliegen die Krähen. Der Vater schwankt ein bisschen, die Hose ist voller Fusseln, die feinen Streifen seines hellen Sonntagsanzugs laufen schief und krumm und durcheinander. Anton darf nur nicht die Augen öffnen, denn dann verschwindet der Vater wieder mitsamt seinem Schnurrbart und seinen weiten, grauen Hosen. Als ob der Wind ihn davonträgt, so wie die Töne seiner Geige, die irgendwann verklungen waren.
Früher hatte der Vater in Pfullendorf einen Laden betrieben, wo er Musikinstrumente reparierte und verkaufte. Dann war die Polizei gekommen, hatte ihm seinen Handel verboten, weswegen er kurz darauf, mitten in der Nacht, Kleidung und Essen zusammengerafft, die Pferde aus dem Stall geholt und den Wagen bepackt hatte.
Seither waren sie unterwegs, lebten in Wäldern, in alten Fabriken, manchmal bei Bauern. Einmal war er bis zu einem riesigen Felsen gelaufen. Von oben hatte er die alten Häuser unter sich gesehen, die Brücke über den Fluss, den Bahnhof mit den schwarzen Loks, weiter hinten eine verfallene Burg und Leute in ihren Gärten, ganz klein, wie winzige Punkte. Noch weiter hinauf war er dem grasigen Hang gefolgt, bis dorthin, wo Kiefern wuchsen, Nusshecken und Eichen. Tastend versuchte er die Füße richtig zu setzen. Steil fiel neben ihm der Berghang ab. Überall blühten gelbe Sträucher, wie golden sahen sie aus gegen den hellen Himmel. Sonderbare Steine gab es. Kleine Tiere, auch Fische wohnten darin, die zu Stein geworden waren. Wildblumen dufteten, grünglänzende Käfer trugen Hörner auf dem Kopf. An Baumstämmen wuchsen grüne, kelchförmige Pilze. Ameisenhügel gab es hier mehr als anderswo. Lange hatte er über einem der Hügel gehockt und den Tieren zugesehen, die in emsigen Kolonnen Kiefern- und Fichtennadeln, winzige Äste, Grashalme und Rindenstückchen schleppten.
Da war ihm ein Bauer mit einer geschulterten Sense entgegengekommen, hatte die Kappe gehoben, gelacht, die Hand nach ihm ausgestreckt und gerufen, dass er einen so feinen Zigeunerjungen gut gebrauchen könnte. Gerannt, gerannt, gerannt war er. Zurück zu seinem Dada.
Aufgefangen hatte ihn der Dada, ihn auf seine starken Schultern gehievt und am Ufer der Kyll wieder abgesetzt.
Mindestens drei Sonntage ist es her, dass sie ihn fortgerissen haben. Seitdem schläft er auf der schmalen Pritsche unter der des Kahlköpfigen, der Karli heißt. Die Sonntage sind leicht zu erkennen, denn dann gibt es richtige Milch zum Frühstück und sie müssen nicht in die Schule, dafür zweimal in die Kirche. Dabei marschieren sie in Zweierreihen, den Zeigefinger vor den Lippen. Disziplin und Schweigen sind das Wichtigste. Einmal in der Woche wird geduscht und es gibt frische Unterwäsche. Das ist am Samstag. Die Jungen duschen getrennt von den Mädchen. Bei den Jungen kontrolliert Schwester Richarda die Unterhosen. Ist eine verschmutzt, schlägt sie den Schweinen, wie sie sie nennt, mit einem Rohrstock auf den entblößten Hintern, bis es rote Striemen gibt und manchmal die Haut aufplatzt.
Im Schlafsaal ist es immer unruhig. Karli schläft schlecht und knirscht mit den Zähnen. Manchmal werden welche mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und auf einen Nachttopf gesetzt. Manche hören nicht auf zu schreien. Dann bekommen sie etwas in den Mund gestopft und werden schnell ruhig. Auf Wilhelm hat es die Schwester Oberin besonders abgesehen. Wenn er ins Bett macht, steckt sie ihn in eine Wanne mit eiskaltem Wasser. Einmal erbricht er das Essen. Da stopft die Oberin es ihm mit Gewalt in den Mund zurück.
Das Klassenzimmer ist groß, weiß gekälkt und riecht nach Kreide und Bohnerwachs. Die Schülerbänke sind eng. Es sind Doppelsitzer mit einem Tisch, der Löcher für Tintenfässer hat. Die Tintenfässer fehlen. Auf den Pultdeckeln haben sich Flecken ins Holz gefressen.
Neben einem großen Bild des Führers hängt eine Landkarte, auf der die Siege mit kleinen Fähnchen markiert sind: Dänemark und Norwegen, die Niederlande, Luxemburg und Belgien. Anton kennt die Länder nicht. Dafür kennt er Schwaben, den Schwarzwald und die Eifel, wo er mit den Eltern war. Die Eifel und Schwaben sind auf der Karte nicht zu finden.
Manchmal kommen Bäuerinnen mit Pferdefuhrwerken angefahren und suchen sich Kinder für die Landwirtschaft aus. Es sind Bäuerinnen, deren Männer im Krieg sind. Sie prüfen die Kinder wie das Vieh, schauen ihnen in den Mund, betasten die Muskeln.
Manche der Kinder bleiben dann lange weg. Diejenigen, die Geschwister im Heim haben, kommen manchmal an Sonntagen vorbei und bringen Gemüse, Speck und Brot. Es gibt auch Kinder, die von der Polizei abgeholt werden und nicht mehr wiederkommen.
Über die, die verschwinden, wird leise gesprochen. „Die Gestapo holt sie“, flüstert Karli von seinem Bett herunter und Anton stützt sich auf die Ellenbogen und fragt schläfrig: „Was ist Gestapo?“ Karli tut geheimnisvoll. Was Gestapo heißt, will er nicht verraten. Nur, dass die Gestapo die Kinder ins Lager bringt, vielleicht aber auch zu ihren Eltern, sagt er. In dieser Nacht wartet Anton auf die Gestapo, stellt sich vor, wie sie ihn zu seinem Dada bringen.
Ute Bales: Bitten der Vögel im Winter
Roman, Rhein-Mosel-Verlag, Zell, 2018, 410 Seiten, Hardcover, 22,80 Euro
Pressetext zum Buch
Es braucht Mut, einen Roman aus der Perspektive einer NS-Täterin zu schreiben und Ute Bales ist mehrfach gewarnt worden. Sie hat es trotzdem getan und beschreibt in ihrem neuen Werk „Bitten der Vögel im Winter“ ein tiefdunkles Kapitel der deutschen Geschichte, über das bis heute weitgehend geschwiegen wird. Es geht um die Verfolgung der Sinti und Roma und es geht um Eva Justin, eine der bekanntesten „Rassenforscherinnen“ zur Zeit des Nationalsozialismus.
Es ist ein aufwühlender Roman, der kontrovers diskutiert wird. Die Hauptfigur, Eva Justin, ist grotesk, widersprüchlich, ungeheuerlich. Ute Bales erzählt von Selektionen in Jugendgefängnissen, von nächtlichen Übergriffen auf Lagerinsassen, von Kinderspielen, die über Leben und Tod entscheiden. Eva Justin ist keine Phantasiefigur. Sie bewegt sich auf einem gut recherchierten, historischen Terrain. Orte und Personen, die unfassbaren Verbrechen und die damit verbundenen administrativen Vorgehensweisen hat es wirklich gegeben. Historische, politische und psychologische Ebenen verschmelzen: Was ist der Mensch und warum wird er zum Täter?
Eva Justin wurde im Kaiserreich geboren. Ute Bales schildert deren Kindheit, die strenge Erziehung und den schon früh auffälligen Drang, alles zu sortieren und zu ordnen. Hier mögen die Wurzeln liegen für ihre spätere monströse Aufgabe im Nazi-Reich.
Als junge Frau nimmt Justin an einem Lehrgang für Krankenschwestern in Tübingen teil und lernt dort Dr. Robert Ritter kennen, Oberarzt mit besten Karriereaussichten, verheiratet. An Ritter ist nichts zufällig, nichts nebensächlich. Sie ist bereit, als er fragt, ob sie seine Arbeit unterstützen will. Saubere Menschen sind sein Ziel. Eine „Rasse“ ohne Makel. Von Anfang an teilt Justin seine Lust zu forschen, unterstützt seine Arbeit und geht bald eine Beziehung mit ihm ein, die in ein sexuelles Abhängigkeitsverhältnis führt, das als Analogie der Abhängigkeit der Deutschen zu Hitler gelesen werden kann. Konsequent tut Justin das, was Ritter sagt, hinterfragt nichts, sieht weg, wo es heikel wird, verbeugt sich vor jedem seiner Worte.
1936 folgt sie ihm nach Berlin, wo er zum Leiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt“ berufen wird. Die Forschungsstelle befasst sich hauptsächlich mit „Zigeuner-Gutachten“. Im Rahmen großangelegter Aktionen zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ vermessen, verhören und klassifizieren die Arbeitsgruppen, zu denen Eva Justin gehört, Tausende Sinti und Roma und legen „Sippenarchive“ an. Justins Verhältnis zu Ritter führt dazu, dass sie ein immenses Arbeitstempo an den Tag legt. Sie glaubt einer großen Bewegung anzugehören, Teil einer gleichgesinnten Gemeinschaft zu sein.
1937 beginnt sie, auf Ritters Wunsch hin, neben ihrer Tätigkeit als „Rassenforscherin“, ein Studium der Anthropologie und macht sich auf dem „Zigeunerrastplatz“ Berlin-Marzahn, wo immer mehr Sinti und Roma konzentriert werden, bald einen Namen als „Zigeuner-Expertin“. Die Gutachten, die sie und die Kollegen verfassen, dienen als Grundlage, Sinti und Roma in Lager zu deportieren, wo sie entwürdigt, gefoltert, verstümmelt und ermordet werden.
Um die Gutachten aufzuwerten, verlangt Ritter, dass Justin eine Doktorarbeit schreiben soll. Er hat Bedenken, die massenhaften Bewertungen, die Todesurteilen gleichkommen, von einer Studentin unterschreiben zu lassen. Obwohl Justin kein abgeschlossenes Studium vorweisen kann, wird sie mithilfe seiner einflussreichen Kollegen zur Promotion zugelassen. In ihrer Arbeit untersucht sie, inwiefern „Zigeunerkinder“ erziehbar sind oder nicht. 1942 reist sie zu diesem Zweck ins schwäbische Mulfingen, wo ihr in einem katholischen Kinderheim 40 Sinti-Kinder zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt werden. Die Heimkinder bleiben so lange von der „Endlösung“ verschont, wie sie Justin als Versuchsobjekte nützen. Nach Abschluss der Doktorarbeit werden sie der SS übergeben und nach Auschwitz ausgewiesen.
Bei allem, was sie tut, bleibt Justin unzugänglich und kalt. Nur Ritter gegenüber zeigt sie Gefühl. Erbarmungslos reißt sie Familien auseinander, lässt Leute verhaften und Frauen, wenn sie nicht spuren, die Haare abschneiden. Sie weiß, was sie tut. Fassungslos verfolgt man, wie sie Kinder aushorcht, Leute denunziert, eine Schwangere zur Zwangsabtreibung schickt. Bei alldem begreift Justin nicht, dass alle angeblichen Eigenschaften, die sie den „Zigeunern“ zuschreibt – Dummheit, Gemeinheit, Schwachheit – ihre eigenen Eigenschaften sind.
„Bitten der Vögel im Winter“ erinnert eindrücklich an die mörderische Politik der NS-Zeit, die auf Basis einer verheerenden Rassenideologie unter anderem zur Vernichtung von mehr als 500.000 Sinti, Roma und Jenischen in Deutschland und Europa führte.
Ute Bales, 1961 in der Eifel geboren und dort aufgewachsen, studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Kunst in Giessen und Freiburg, wo sie seither lebt und arbeitet. Sie ist Mitglied im Literaturwerk Rheinland-Pfalz-Saar e.V., im Literarischen Verein der Pfalz, im Literatur Forum Südwest e.V. Freiburg, gehört dem Kunstverein Weißenseifen/Eifel an sowie der Künstlergruppe SternwARTe Daun. Sie hat bisher sieben Romane veröffentlich sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Essays. Der Roman „Bitten der Vögel im Winter“ ist mit dem Martha-Saalfeld-Förderpreis 2018 des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet worden.
Online-Flyer Nr. 696 vom 13.03.2019
Druckversion
NEWS
KÖLNER KLAGEMAUER
FILMCLIP
FOTOGALERIE