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Arbeit und Soziales
Gelbwesten-Solidaritätskundgebung in Berlin am 29. Dezember 2018
"Gelbwesten protestieren auch gegen die Regierung Merkel"
Andreas Wehr - interviewt von RT Deutsch

Schon seit Wochen befindet sich ganz Frankreich in einem Zustand des sozialen Aufstandes. Jetzt hat ein Bündnis dazu aufgerufen, auch in Berlin zu demonstrieren. Ein breiter Kreis von Initiatoren hat für den 29. Dezember 2018 zu einer Gelbwesten-Solidaritätskundgebung in Berlin aufgerufen. Wir sprachen mit Andreas Wehr, einem Erstunterzeichner des Aufrufs und Ko-Leiter des Berliner Marx-Engels-Zentrums, darüber, welche Möglichkeiten Gelbwesten-Unterstützer in Deutschland haben.

Mit welchen Forderungen rufen Sie zur Demonstration am Samstag auf?

Im Mittelpunkt steht natürlich die Solidarität mit den Gelbwesten. Diese Solidarität mit ihnen ist jetzt besonders wichtig, da die Staatsmacht nach einigen Rückzügen und Kompromissen zum Gegenangriff übergegangen ist. Es hat erste Verhaftungen von Aktiven gegeben. Und so ist zu befürchten, dass jetzt Einzelne herausgegriffen werden, um an ihnen Exempel zu statuieren. Auf diese Weise soll die Bewegung geschwächt werden. Es ist daher wichtig, dass die Regierung Macron registriert, dass man auch in Deutschland mit den Gelbwesten solidarisch ist und das Vorgehen der Staatsgewalt gegen sie verurteilt.

In dem Aufruf stellen wir zudem einen Zusammenhang her zwischen den Angriffen der französischen Regierung auf die Lohnabhängigen und der Politik der EU. Brüssel ist es nämlich, das Paris fortlaufend zu diesen Angriffen ermuntert. Geht es nach der EU, so soll die französische Wirtschaft durch rigorose Kürzungen bei den Sozialausgaben für den Weltmarkt fit gemacht werden. Und da diese Politik der EU vor allem in Berlin konzipiert wird, gehen die Proteste in Frankreich auch uns was an. Es sind Proteste auch gegen die Regierung Merkel.
Gibt es eine objektive Grundlage dafür, dass eine Bewegung ähnlich jener der Gelbwesten auch hier in Deutschland entstehen könnte?

In Frankreich gibt es eine andere Kultur des Protests. Man geht dort sehr viel militanter als in Deutschland vor und schreckt auch nicht vor Straßenblockaden oder der Abriegelung wichtiger Versorgungseinrichtungen, etwa von Raffinerien oder Tankstellen, zurück. Das haben in der Vergangenheit immer wieder Proteste von Bauern, Fernfahrern oder auch der Widerstand der Gewerkschaften gegen das Arbeitszeitgesetz der Regierung gezeigt. Diese Militanz ist Ausdruck des Selbstbewusstseins eines Volkes, das bereits einige Revolutionen hinter sich hat und daher um seine Kraft weiß.

Wenn auch die Verhältnisse dort mit denen in Deutschland nicht vergleichbar sind, so wünschen wir uns doch auch hier eine deutlich größere Militanz in den sozialen Kämpfen. Den Millionen, denen es bei uns schlecht geht, die nicht wissen, wie sie bis zum Monatsende über die Runden kommen sollen, müssen ihr Schicksal stärker in die eigenen Hände nehmen. Sie können nicht auf Parteien oder Gewerkschaften warten.

Viele Linke fürchten sich davor, dass hinter den Gelbwesten rechte Kräfte stehen könnten. Was entgegnen Sie diesen Zweiflern?

Sofort nach Beginn der Proteste haben Politik und Medien versucht, die Gelbwesten als von Rechtskräften gesteuert oder zumindest stark beeinflusst darzustellen und sie so abzutun. Leider haben sich auch DGB-Chef Reiner Hoffmann und der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, daran beteiligt. Doch die Bewegung hat sich dieser Zuordnung und damit ihrer Isolierung verweigert. Sie ließ sich von keiner Partei vereinnahmen. So ist der Vorwurf einer Unterwanderung von rechts inzwischen weitgehend verstummt.

Welche Rolle spielt die EU bei der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerungen in den europäischen Staaten?

Die EU wird inzwischen in vielen Mitgliedsländern als verantwortlich für die Verschlechterung der Lebensbedingungen breiter Teile der Bevölkerung angesehen. So ist es in Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und nun auch in Frankreich. Es ist die EU, die als undemokratische und damit von den Völkern nicht zu beeinflussende Institution die Interessen des Kapitals direkt umsetzt. Doch ihr Vorgehen wird nicht mehr länger hingenommen. Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 werden zeigen, dass der Widerstand gegen die EU wächst.

Im Aufruf sprechen Sie auch von "Kriegstreibern". Welche Rolle könnte die Friedensfrage für eine breite Protestbewegung in Deutschland spielen?

Es darf nicht übersehen werden, dass die Rüstungsausgaben Frankreichs hoch sind, während zugleich der Masse der Bevölkerung harte Sparmaßnahmen verordnet werden. Obwohl das Land deutlich weniger Bevölkerung als Deutschland zählt und dementsprechend auch seine Wirtschaftsleistung geringer als die seines Nachbarn ist, leistet es sich Militärausgaben, die um einiges höher als die Deutschlands sind. Der Grund dafür: Paris will sowohl in Westafrika als auch im Mittleren Osten weiter eine militärische Rolle spielen. Erst vor wenigen Tagen hat Präsident Macron bekräftigt, dass das Land auch nach einem Abzug der US-Truppen aus Syrien dort militärisch weiter präsent bleiben will. Das Engagement dort richtet sich aber auch gegen die rechtmäßige Regierung Syriens. Macron gehört daher zu den Kriegstreibern. Die jetzt von den Gelbwesten erkämpften sozialen Leistungen können künftig nicht mehr für Rüstung ausgegeben werden. Man sieht daran: Der Kampf um soziale Rechte und der Friedenskampf gehören zusammen, in Frankreich wie in Deutschland.

Vielen Dank für das Gespräch!


Mit Dank übernommen von andreas-wehr.eu - Das Interview mit Andreas Wehr wurde von Hasan Posdnjakow geführt und am 28.12.2018 bei RT Deutsch veröffentlicht.

Online-Flyer Nr. 689  vom 02.01.2019

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