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Aktueller Online-Flyer vom 16. April 2024  

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Kommentar
Polen und die Nazis
„Nicht genug!“
Von Uri Avnery

VOR VIELEN Jahren, gleich nach dem Fall des Kommunismus in Osteuropa, wurde ich gebeten, ein Buch über die Ereignisse zu schreiben. Rachel fotografierte, ich schrieb den Text. Das Buch ist ausschließlich in Hebräisch erschienen und heißt übersetzt: Lenin wohnt nicht mehr hier. Als wir Warschau besuchten, staunten wir über die vielen Stellen in der Stadt, an denen Metallplatten verkündeten: „(Name) wurde an dieser Stelle von Deutschen erschossen“. Bis dahin hatten wir keine Ahnung gehabt, dass der polnische Widerstand gegen die Nazis so heftig gewesen war. Als wir wieder zu Hause waren, ging Rachel einmal in ein Kleidergeschäft und hörte zufällig die Besitzerin mit einer Kundin polnisch sprechen. Rachel war noch ganz von ihrer Entdeckung in Warschau erfüllt und fragte die Besitzerin: „Wussten Sie, dass die Nazis auch eineinhalb Millionen Polen getötet haben, die keine Juden waren?“ Die Frau antwortete: „Nicht genug!“ Rachel war entsetzt. Ich auch, als sie mir davon erzählte. Wir wussten natürlich, dass viele polnische Juden die Polen nicht mochten, aber uns war nicht klar, wie abgrundtief ihr Hass war.

DIESER HASS trat diese Woche mit voller Kraft wieder in Erscheinung. Das polnische Parlament verfügte, dass jeder, der das Wort „polnische Vernichtungslager“ gebrauche, ein Verbrechen begehe, das mit drei Jahren Gefängnis bestraft würde. Die richtige Bezeichnung sei, so die Polen, „Nazi-Vernichtungslager in Polen“. Die Korrektur ist ganz berechtigt. Aber in Israel brach ein Sturm los. Was?! Die Polen leugnen den Holocaust? Leugnen sie, dass viele Polen den Nazis geholfen haben, Juden zu fangen und zu töten? Das jedenfalls glauben viele Israelis. Natürlich ganz zu Unrecht. Polen hatte sich im Gegensatz zu einigen anderen europäischen Ländern nie mit den Nazis arrangiert. Die polnische Regierung floh nach Frankreich und dann nach Britannien. Von dort aus lenkte sie den polnischen Widerstand. Es gab zwei polnische Untergrundorganisationen: eine nationale und eine kommunistische. Beide kämpften gegen die Nazis und beide zahlten einen hohen Preis dafür. Wenn ich nicht irre, war es die polnische Exilregierung, die der zionistischen Führung die ersten zuverlässigen Informationen über die Vernichtungslager zukommen ließ.

Gab es polnische Kollaborateure mit den Nazis? Natürlich gab es die – wie in jedem besetzten Land. Ich will das nicht vergleichen, aber jedenfalls gibt es heutzutage eine Menge palästinensische Kollaborateure in den von Israel besetzen Gebieten. Die Haupthelfer in den Vernichtungslagern, die keine Deutschen waren, waren Ukrainer. Ihr Hass auf Russland brachte sie dazu, mit den Nazis zu sympathisieren. Dazu war ihr Antisemitismus tief verwurzelt; er stammte aus der Zeit, als die Ukraine zu Polen gehörte und Juden die Güter der polnischen Besitzer verwalteten. Die Nazis unternahmen keine ernsthaften Versuche, Polen oder Ukrainer zur Kooperation zu bewegen. Hitlers heimlicher Plan war es, gleich nach den Juden alle Slaven zu versklaven oder zu vernichten. Damit wollte er „mehr Lebensraum“ für die deutsche Nation schaffen.

UND DOCH  dauerte es nach dem Ende des Holocaust nur weniger als zehn Jahre, bis Israel eine Vereinbarung mit dem deutschen Staat unterzeichnete, während der Hass auf Polen unvermindert anhält. Warum ist das so? Niemand hat je die nächstliegende Frage gestellt: Wie kam es, dass so viele Juden, Millionen Juden, überhaupt  in Polen lebten? Als die Juden vor Jahrhunderten aus Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern vertrieben worden waren, wohin waren sie da gegangen? Welche europäischen Länder hatten ihnen die Tore geöffnet? Damals war Polen das offenste und sogar das toleranteste Land in Europa. Geflohene Juden wurden willkommen geheißen und sie fanden dort eine neue Heimat. Der König hatte eine jüdische Mätresse. Eine ganze Judenstadt erstand in der Nähe Krakaus, des Zentrums der polnischen Kultur. Ehrliche Enthüllung: Während die Vorfahren meines Vaters aus „dem Westen“ nach Deutschland gekommen waren, waren die Vorfahren meiner Mutter aus Krakau gekommen. Mein Vater, der klassische Bildung genossen hatte, bestand immer darauf, dass unsere Vorfahren mit Julius Caesar ins Rheinland gekommen seien (leider gibt es dafür keine Beweise), aber meine Mutter musste zugeben, dass ihr Großvater aus Krakau gekommen war, das vor dem Ersten Weltkrieg zu Österreich-Ungarn gehört hatte.

DER POLNISCH-JÜDISCHE Frühling ging vorüber. Übrig blieb die Tatsache: Die Juden waren eine riesige Minderheit in Polen. Eine Minderheit, die vollkommen anders als die Mehrheit ist, ist immer ein Problem. Die Juden unterschieden sich von den Polen in Religion und Kultur, sie sprachen eine andere Sprache (Jiddisch). Es gab überaus viele Juden. Viele Millionen. Deshalb war es fast unvermeidlich, dass sich zwischen den beiden Gruppen gegenseitiger Abscheu ausbreitete, der sich schließlich zu gegenseitigem Hass steigerte. Es gab einige Pogrome. Allerdings lebten die Juden anscheinend im modernen Polen vergleichsweise angenehm. Sie waren politisch organisiert und bildeten Koalitionen mit anderen Minderheiten. Massen polnischer Juden hatten versucht, nach Deutschland auszuwandern. Die deutschen Juden verachteten sie. Sie setzten sie in Schiffe und schickten sie in die Vereinigten Staaten. Dort waren sie erfolgreich.

Der klassische deutsch-jüdische Dichter Heinrich Heine schrieb ein Gedicht, das so anfängt: „Crapülinski und Waschlapski,/ Polen aus der Polackei,/ Fochten für die Freiheit, gegen/ Moskowitertyrannei.// Fochten tapfer und entkamen/ Endlich glücklich nach Paris - / Leben bleiben, wie das Sterben/ Für das Vaterland, ist süß.“ Und später sitzen die beiden in einer Pariser Bar, betrinken sich und trösten einander: „Polen ist noch nicht verloren,/ Unsre Weiber, sie gebären,/ Unsre Jungfraun tun dasselbe,/ Werden Helden uns bescheren“.

Als nach dem Auftreten Hitlers deutsche Juden nach Palästina kamen, fanden sie dort polnische Juden vor, die schon vor ihnen gekommen waren. Zu ihnen gehörte auch Dovid Grün (David Ben-Gurion) aus Plonsk. Sie empfingen die deutschen Juden mit Verachtung und Spott. Die Zionisten sahen die polnischen Antisemiten als natürliche Verbündete bei ihren Bemühungen an, die Juden nach Palästina zu treiben. Nur wenige wissen von der folgenden Episode: 1939 hatten einige Führer der Irgun-Untergrundorganisation in Palästina (der ich angehörte) eine glänzende Idee: Sie wollten einen bewaffneten Aufstand gegen die britischen Herrscher unternehmen und den jüdischen Staat errichten. Also sahen sie sich nach Unterstützung um, besonders nach Waffen, und wandten sich an die antisemitischen Offiziere der polnischen Armee. Das Angebot des Irgun war einfach: Wir helfen euch dabei, die Juden loszuwerden. Dafür trainiert ihr sie und verseht sie mit Waffen. Dann laden wir sie auf Schiffe und transportieren sie nach Palästina. Dem polnischen Generalstab gefiel die Idee und tatsächlich begann das Training junger Irgun-Mitglieder. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzte dem Abenteuer ein Ende.

WIE KOMPLIZIERT diese über viele Jahrhunderte hinweg reichende Beziehung ist, findet in dem Zusammenstoß zwischen Polen und Israel, der in den letzten Tagen stattfand, einen Ausdruck. Vielen Israelis hat man den Glauben eingeimpft, der Holocaust wäre eine gemeinsame deutsch-polnische Unternehmung gewesen und die Verbrennungsöfen in Auschwitz wären von Polen bedient worden. Lag denn Auschwitz nicht schließlich in Polen? War es denn ein Zufall, dass so gut wie alle Vernichtungslager auf polnischem Boden standen? (Tatsächlich war es für die Nazis der ideale Standort, besonders nach der Invasion in die UDSSR. Dort waren ja schließlich die vielen Juden.)

ICH GLAUBE nicht, dass es viel nützt, wenn ich diese Tatsachen darstelle. Die Gefühle sind zu tief verwurzelt. Aber was solls.


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert. Seine Schrift “Wahrheit gegen Wahrheit” steht als PDFzur Verfügung.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier. Das von ihr ins Deutsche übertragende Buch "Eine Theorie der gewaltfreien Aktion. Wie ziviler Widerstand funktioniert" von Stellan Vinthagen ist hier beschrieben und hier als PDF abrufbar.


Online-Flyer Nr. 646  vom 07.02.2018

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