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Inland
Wie eine „Arbeitsdefinition“ die Gesellschaft spaltet und Kritik strafbar macht
Instrumentalisierter Antisemitismus
Von Rudolph Bauer
Eine Gefahr geht um in Deutschland und Europa: der Antisemitismus. Er trägt gegenwärtig zwei Gesichter: sowohl die alte Fratze des Vorurteils als auch eine neue Grimasse, die des Antisemitismusvorwurfs. Beim Vorurteil handelt es sich um ein klischeehaftes Denkmuster, das in seiner Kernbedeutung alle möglichen Formen von Feindschaft gegen Juden als religiöse und/oder soziale Minderheit zum Inhalt hat. Tiefstpunkt der auf antisemitischen Vorurteilen fußenden Politik war der rassistische KZ- und Tötungsmaschinen-Antisemitismus in Nazi-Deutschland.
Im Unterschied zum antisemitischen Vorurteil richtet sich der Antisemitismusvorwurf nicht gegen „die Juden“ allgemein, durchaus aber gegen einzelne Juden, die deshalb als antisemitisch angeprangert werden, weil sie der israelischen Politik kritisch gegenüber stehen. Dabei berufen sich die Brandmarker auf die Antisemitismus -„Arbeitsdefinition“ der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance / Internationales Bündnis zum Holocaustgedenken). Die Gültigkeit dieser Begriffsbestimmung wurde am 20. September 2017 vom deutschen Bundeskabinett beschlossen.
Die Begriffserklärung der IHRA soll in Zukunft der Polizei und den Gerichten Orientierung geben. Sie lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ In erweiterter Form umfasst die Definition einen dritten Satz, der wie folgt lautet: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Dem Beschluss der Bundesregierung ist keine demokratische Debatte vorausgegangen. Vielmehr wurden Prüfsteine für die strafrechtliche Verfolgung beider Erscheinungsformen des Antisemitismus – des Vorurteils und des Vorwurfs – durch die Hintertür eines Kabinettsentscheids beschlossen. Der Beschluss liefert eine weitere Handhabe, um die im Grundgesetz verbürgte Meinungsfreiheit einzuschränken. Die IHRA-Definition dient zur Rechtfertigung, wenn versucht wird, kritische Meinungsäußerungen oder Parteinahmen dadurch zu unterbinden, dass ihren Vertretern der Zugang zu öffentlichen oder öffentlich geförderten Räumen verwehrt wird (vgl. Johannes Feest: Israelkritik und Antisemitismusvorwurf. Veranstaltungsverbote als Problem der Meinungsfreiheit; in: Vorgänge 4/2017).
In der Bundesrepublik häufen sich auf der Grundlage der IHRA-Definition die Forderungen nach einem Antisemitismusbeauftragten und nach der Verschärfung der Strafgesetze. Eine Studie – sie wird in Heft 2/2018 der Marxistischen Blätter veröffentlicht werden – kommt zu dem Schluss, dass die „Arbeitsdefinition“ der IHRA Mängel aufweist. Ihr zufolge speise sich der Antisemitismus aus sinnlicher Wahrnehmung. Eine solche Erklärung sei strukturell selbst antisemitisch. Weder benenne sie die Träger, Vermittler und handelnden Akteure des Antisemitismus, noch erwähne sie die gesellschaftlichen Entstehungszusammenhänge.
Wörtlich heißt es in der Studie: „Der Antisemitismus wird feindbildartig zu etwas Schrecklichem (v)erklärt, aber weder werden seine besonderen Erscheinungsformen auseinander gehalten, noch wird die Frage nach seinen Wurzeln und seiner Ausbreitung gestellt, um sodann auf dieser Grundlage pädagogisch aufzuklären und vorzubeugen.“
Der Adressatenkreis antisemitischer Gegnerschaft werde durch die IHRA-Definition nicht eingegrenzt, sondern ausgeweitet. In irreführender Weise gelte auch der Staat Israel als Zielscheibe und Opfer des Antisemitismus. Während das antisemitische Vorurteil rassistischer Prägung sowohl jüdische Individuen als auch die gesellschaftliche Minderheit der „Juden“ betraf und betrifft, werde mit Hilfe der IHRA-Definition die Regierung der jüdischen Mehrheitsgesellschaft Israels in Schutz genommen, jeder Kritik enthoben und zum Tabu erklärt.
Die Studie kommt u. a. zu dem Ergebnis: „Damit wird der … erweiterte Antisemitismusbegriff zu einem Instrument der Beeinflussung und Lenkung der öffentlichen Meinung im Interesse derjenigen, denen an der Immunität israelischer Regierungs-, Militär- und Besatzungspolitik gelegen ist. Das betrifft sowohl den israelischen Staat und seine gegenwärtige Regierung als auch all diejenigen Staaten, welche der israelischen Regierungspolitik nichts entgegen setzen und sie vielmehr durch Waffenlieferungen militärisch unterstützen, wie etwa die Bundesrepublik Deutschland.“
Der erweiterte Antisemitismusbegriff diene nicht zuletzt der Entstellung und Brandmarkung linker Kritik. In den Hintergrund gerate die entschiedene Verurteilung sowohl des rassistischen Gebrauchs kollektiver antisemitischer Vorurteile zur Rechtfertigung der Zwangsarbeitslager und der Vernichtungsindustrie der NS-Diktatur als auch der Wiederkehr faschistischer Regierungsmehrheiten in Europa. „Der auf dem erweiterten Begriffsverständnis fußende Antisemitismusvorwurf vernebelt – wie auch schon der klassische Rasse-Antisemitismus – die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, wie sie im gegenwärtigen Stadium des globalen Imperialismus besonders krisenhaft hervortreten.“
Beide Formen des Antisemitismus – der rassistische, welcher „die Juden“ irrational angreift, ebenso wie der erweiterte, welcher zum Zweck der Verdrängung, Vorverurteilung und Rechtfertigung militärischer Kumpanei angewendet wird – seien der gesellschaftlichen Spaltung dienlich. Der rassistische Antisemitismus habe die Gesellschaft in eine jüdische Minderheit und eine nicht-jüdische („arischreinrassige“) Mehrheit gespalten. Der erweiterte Begriff des Antisemitismus spalte die Gesellschaft ebenfalls: in die Minderheit derjenigen, die sich der „Staatsräson“ einer Unantastbarkeit israelischer Politik nicht beugen und die große Mehrheit jener Deutschen, welche sich im kollektiven Unterbewusstsein als „Israelfreunde“ Versöhnung und Entlastung versprechen von den nach der Besiegung Nazi-Deutschlands verdrängten und nicht betrauerten Schuldgefühlen. „Reflexartig, wie durch einen äußeren Reiz bedingt, entledigen sie sich damit der bis heute lastenden schweren Schuld der industriell durchgeführten Abschlachtung der europäischen Juden und der Verantwortung gegenüber deren (israelischen) Nachkommen sowie gegenüber den von diesen entrechteten, vertriebenen und getöteten Bewohnern Palästinas.“
Mit Dank übernommen aus "Unsere Zeit" vom 12. Januar 2018
Siehe auch:
Der Israel-Beauftragte
Unter falscher Flagge
Von Ulrich Gellermann
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24520
Kommentar vom Hochblauen
Sich fügen heißt lügen
Von Evelyn Hecht-Galinski
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24510
Online-Flyer Nr. 644 vom 24.01.2018
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Inland
Wie eine „Arbeitsdefinition“ die Gesellschaft spaltet und Kritik strafbar macht
Instrumentalisierter Antisemitismus
Von Rudolph Bauer
Eine Gefahr geht um in Deutschland und Europa: der Antisemitismus. Er trägt gegenwärtig zwei Gesichter: sowohl die alte Fratze des Vorurteils als auch eine neue Grimasse, die des Antisemitismusvorwurfs. Beim Vorurteil handelt es sich um ein klischeehaftes Denkmuster, das in seiner Kernbedeutung alle möglichen Formen von Feindschaft gegen Juden als religiöse und/oder soziale Minderheit zum Inhalt hat. Tiefstpunkt der auf antisemitischen Vorurteilen fußenden Politik war der rassistische KZ- und Tötungsmaschinen-Antisemitismus in Nazi-Deutschland.
Im Unterschied zum antisemitischen Vorurteil richtet sich der Antisemitismusvorwurf nicht gegen „die Juden“ allgemein, durchaus aber gegen einzelne Juden, die deshalb als antisemitisch angeprangert werden, weil sie der israelischen Politik kritisch gegenüber stehen. Dabei berufen sich die Brandmarker auf die Antisemitismus -„Arbeitsdefinition“ der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance / Internationales Bündnis zum Holocaustgedenken). Die Gültigkeit dieser Begriffsbestimmung wurde am 20. September 2017 vom deutschen Bundeskabinett beschlossen.
Die Begriffserklärung der IHRA soll in Zukunft der Polizei und den Gerichten Orientierung geben. Sie lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ In erweiterter Form umfasst die Definition einen dritten Satz, der wie folgt lautet: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Dem Beschluss der Bundesregierung ist keine demokratische Debatte vorausgegangen. Vielmehr wurden Prüfsteine für die strafrechtliche Verfolgung beider Erscheinungsformen des Antisemitismus – des Vorurteils und des Vorwurfs – durch die Hintertür eines Kabinettsentscheids beschlossen. Der Beschluss liefert eine weitere Handhabe, um die im Grundgesetz verbürgte Meinungsfreiheit einzuschränken. Die IHRA-Definition dient zur Rechtfertigung, wenn versucht wird, kritische Meinungsäußerungen oder Parteinahmen dadurch zu unterbinden, dass ihren Vertretern der Zugang zu öffentlichen oder öffentlich geförderten Räumen verwehrt wird (vgl. Johannes Feest: Israelkritik und Antisemitismusvorwurf. Veranstaltungsverbote als Problem der Meinungsfreiheit; in: Vorgänge 4/2017).
In der Bundesrepublik häufen sich auf der Grundlage der IHRA-Definition die Forderungen nach einem Antisemitismusbeauftragten und nach der Verschärfung der Strafgesetze. Eine Studie – sie wird in Heft 2/2018 der Marxistischen Blätter veröffentlicht werden – kommt zu dem Schluss, dass die „Arbeitsdefinition“ der IHRA Mängel aufweist. Ihr zufolge speise sich der Antisemitismus aus sinnlicher Wahrnehmung. Eine solche Erklärung sei strukturell selbst antisemitisch. Weder benenne sie die Träger, Vermittler und handelnden Akteure des Antisemitismus, noch erwähne sie die gesellschaftlichen Entstehungszusammenhänge.
Wörtlich heißt es in der Studie: „Der Antisemitismus wird feindbildartig zu etwas Schrecklichem (v)erklärt, aber weder werden seine besonderen Erscheinungsformen auseinander gehalten, noch wird die Frage nach seinen Wurzeln und seiner Ausbreitung gestellt, um sodann auf dieser Grundlage pädagogisch aufzuklären und vorzubeugen.“
Der Adressatenkreis antisemitischer Gegnerschaft werde durch die IHRA-Definition nicht eingegrenzt, sondern ausgeweitet. In irreführender Weise gelte auch der Staat Israel als Zielscheibe und Opfer des Antisemitismus. Während das antisemitische Vorurteil rassistischer Prägung sowohl jüdische Individuen als auch die gesellschaftliche Minderheit der „Juden“ betraf und betrifft, werde mit Hilfe der IHRA-Definition die Regierung der jüdischen Mehrheitsgesellschaft Israels in Schutz genommen, jeder Kritik enthoben und zum Tabu erklärt.
Die Studie kommt u. a. zu dem Ergebnis: „Damit wird der … erweiterte Antisemitismusbegriff zu einem Instrument der Beeinflussung und Lenkung der öffentlichen Meinung im Interesse derjenigen, denen an der Immunität israelischer Regierungs-, Militär- und Besatzungspolitik gelegen ist. Das betrifft sowohl den israelischen Staat und seine gegenwärtige Regierung als auch all diejenigen Staaten, welche der israelischen Regierungspolitik nichts entgegen setzen und sie vielmehr durch Waffenlieferungen militärisch unterstützen, wie etwa die Bundesrepublik Deutschland.“
Der erweiterte Antisemitismusbegriff diene nicht zuletzt der Entstellung und Brandmarkung linker Kritik. In den Hintergrund gerate die entschiedene Verurteilung sowohl des rassistischen Gebrauchs kollektiver antisemitischer Vorurteile zur Rechtfertigung der Zwangsarbeitslager und der Vernichtungsindustrie der NS-Diktatur als auch der Wiederkehr faschistischer Regierungsmehrheiten in Europa. „Der auf dem erweiterten Begriffsverständnis fußende Antisemitismusvorwurf vernebelt – wie auch schon der klassische Rasse-Antisemitismus – die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, wie sie im gegenwärtigen Stadium des globalen Imperialismus besonders krisenhaft hervortreten.“
Beide Formen des Antisemitismus – der rassistische, welcher „die Juden“ irrational angreift, ebenso wie der erweiterte, welcher zum Zweck der Verdrängung, Vorverurteilung und Rechtfertigung militärischer Kumpanei angewendet wird – seien der gesellschaftlichen Spaltung dienlich. Der rassistische Antisemitismus habe die Gesellschaft in eine jüdische Minderheit und eine nicht-jüdische („arischreinrassige“) Mehrheit gespalten. Der erweiterte Begriff des Antisemitismus spalte die Gesellschaft ebenfalls: in die Minderheit derjenigen, die sich der „Staatsräson“ einer Unantastbarkeit israelischer Politik nicht beugen und die große Mehrheit jener Deutschen, welche sich im kollektiven Unterbewusstsein als „Israelfreunde“ Versöhnung und Entlastung versprechen von den nach der Besiegung Nazi-Deutschlands verdrängten und nicht betrauerten Schuldgefühlen. „Reflexartig, wie durch einen äußeren Reiz bedingt, entledigen sie sich damit der bis heute lastenden schweren Schuld der industriell durchgeführten Abschlachtung der europäischen Juden und der Verantwortung gegenüber deren (israelischen) Nachkommen sowie gegenüber den von diesen entrechteten, vertriebenen und getöteten Bewohnern Palästinas.“
Mit Dank übernommen aus "Unsere Zeit" vom 12. Januar 2018
Siehe auch:
Der Israel-Beauftragte
Unter falscher Flagge
Von Ulrich Gellermann
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24520
Kommentar vom Hochblauen
Sich fügen heißt lügen
Von Evelyn Hecht-Galinski
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24510
Online-Flyer Nr. 644 vom 24.01.2018
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