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Globales
Solche Vorwürfe wurden genauso schon vor Jahrzehnten erhoben, heute nehmen sie hysterische Ausmaße an
Nimmt der Antisemitismus wirklich zu?
Von Arn Strohmeyer

Wenn Medienberichte, Warnungen jüdischer Organisationen und Äußerungen von Philosemiten und Israel-Anhängern der Wahrheit entsprechen, dann greift nicht nur in Deutschland, sondern in allen westlichen Gesellschaften ein „neuer Antisemitismus“ um sich, der für die jüdischen Gemeinschaften zur großen Gefahr werde. Solche Vorwürfe sind aber keineswegs neu, sie werden seit Jahrzehnten erhoben. Der Tenor ist immer derselbe.

So schrieb der deutsche Soziologe Walter Hollstein in seinem 1972 – also vor fast einem halben Jahrhundert – erschienen Buch Kein Frieden um Israel. Zur Sozialgeschichte des Palästina-Konfliktes: „Auch die Analyse des zionistischen Charakters Israels durch dezidiert sozialistische Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler, denen schon von ihrem progressiv-internationalistischen Geschichts- und Gesellschaftsverständnis her aller Rassismus fremd sein muss, wird von Israel und seinen Interessenvertretern als judenfeindlich diskriminiert. Innerhalb dieser Optik, die Kritik an Israel und dessen Politik a priori unmöglich zu machen versucht, erscheinen auch antizionistische Positionen, die weder die Israelis noch den Staat Israel prinzipiell, sondern nur die Auswirkungen des Zionismus kritisieren, durchweg als antisemitisch. Diese Schmähung will bewusst jeder Auseinandersetzung mit Geschichte und Struktur Israels rassistische Motive unterschieben und sie damit von vornherein als unlauter ausgeben. Da die Bezichtigung gegen jüdische Kritiker der israelischen Politik nicht erhoben werden kann, diffamiert man diese mit psycho-pathologischen Kriterien. (…) ‚jüdischer Antizionismus‘ war und ist [in zionistischer Sicht] bis heute ein Ausdruck ‚jüdischer Selbstverleugnung.‘ Auch solches zielt darauf ab, die rationale Beurteilung der israelischen Politik durch den Gebrauch irrationaler Vorhaltungen als illegitim auszuweisen.“

Die Situation, die Hollstein hier schildert, hat sich in den letzten Jahren verschärft, ja sie hat geradezu hysterische Ausmaße angenommen. Natürlich gibt es einen Bodensatz von unverbesserlichen Antisemiten, der aber öffentlich kaum in Erscheinung tritt, weil Antisemitismus seit dem Holocaust in allen westlichen Gesellschaften tabuisiert wird. Der Hass auf Juden hat sich heute eher von den Juden abgewandt und richtet sich auf die Muslime. Der renommierte Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz hat denn auch festgestellt, dass die Muslimfeindlichkeit mit ganz ähnlichen Argumentationsmustern und Stereotypen wie der Antisemitismus arbeitet. Das Feindbild der Juden werde heute durch das Feindbild der Muslime ersetzt. Wieder gehe es um die Ausgrenzung einer Minderheit. Die perfide Gemeinsamkeit zwischen Antisemitismus und Muslimfeindschaft sei die Instrumentalisierung von Feindbildern. Benz will bei seiner Analyse aber Juden und Muslime nicht gleichsetzen, sondern nur Gemeinsamkeiten bei den Mustern ihrer Diskriminierung herausarbeiten.

Der „klassische“ Antisemitismus gründete sich auf einem wissenschaftlich unhaltbaren Rassebegriff und besagte, dass Jude-Sein eine dem Menschen immanente negative Eigenschaft sei, die per Definitionem unveränderbar sei. Oder anders gesagt: Antisemitismus ist Hass auf oder Feindschaft gegen Juden, unabhängig davon, was sie tun oder denken, einfach weil sie Juden sind. Heute hat sich die Begriffsbestimmung in eine andere Richtung verschoben: Früher war ein Antisemit jemand, der Juden nicht mochte. Heute ist ein Antisemit jemand, den bestimmte Juden, Philosemiten oder Verteidiger der israelischen Politik nicht mögen, ablehnen oder verachten. Wie kommt es zu dieser inhaltlichen Veränderung des Begriffs?

Der Sachverhalt wurde oben schon angesprochen: Das intellektuelle Judentum, das sich nach der Französischen Revolution 1789 herausgebildet hatte, war weitgehend universalistisch gesinnt, fühlte sich also den Idealen der Aufklärung verpflichtet. Das änderte sich nach zwei sehr wichtigen Ereignissen der jüdischen Geschichte: dem Holocaust und der Gründung des Staates Israel. Dieser Staat wurde das neue Zentrum des Judentums und des Gedenkens an den Mord der europäischen Juden, was es jüdischen Intellektuellen schwer machte, weiter ihre universalistischen Positionen zu vertreten. Denn der Universalismus kollidierte nun mit der den Staat tragenden partikularistisch ausgerichteten Ideologie des Zionismus und den Anforderungen des Staates.

Das Judentum war immer in zwei Hauptströmungen geteilt: den partikularistischen Tribalismus (völkisches Stammesdenken als „einzigartiges“ und „auserwähltes“ Volk), der sich auf das Gebot seines Gottes Jahwe berief, dass das von ihm erwählte Volk sich in seiner Besonderheit erhalten und sich jeder Vermischung mit anderen Völkern widersetzen soll. Die religiösen Reformen der beiden Priester Esra und Nehemia sanktionierten nach der Babylonischen Gefangenschaft die jüdische Absonderung von den anderen Völkern, indem sie Heiratsgesetze einführten, die die Mischehe untersagten, um die „Reinheit des jüdischen Blutes“ zu schützen. Hannah Arendt bestätigte diesen jüdischen „Leidensnationalismus“, indem sie feststellte, dass die „freiwillige Isolierung“ von der nichtjüdischen Welt für die Geschichte der Juden von größerer Bedeutung gewesen sei als ihre erzwungene Absonderung; sie nannte es eine „selbstbetrügerische Theorie“, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden durchweg einseitig, und zwar maßgeblich durch die Feindschaft von diesen gegen jene bestimmt zu sehen.“

Der Staat Israel steht ganz in dieser tribalistischen, partikularistischen, exzeptionalistischen (Glaube an die Einzigartigkeit) Tradition, die sich in einem ausgeprägten zionistischen Chauvinismus oder Ultranationalismus ausdrückt. Nach dieser Prämisse fungiert Antisemitismus als ein eingeschliffenes Begriffsschema mit apriorischer Rollenverteilung: Den Nichtjuden wird der Status aktiver und potentiell feindseliger Subjekte zugwiesen („die ganze Welt ist gegen uns!“), und den Juden selbst bleibt nur die Opferrolle. Dieser Strömung steht eine universalistisch-kosmopolitische Sicht unter Juden gegenüber, die die jüdischen Werte Gerechtigkeit, Gleichheit und Nächstenliebe betont, und sich der Leiden auch der Nichtjuden annimmt und danach strebt, die Welt zu einem für alle Menschen besseren und sicheren Ort zu machen.

Die Spaltung des Judentums in Partikularisten und Universalisten hat sich am Streitpunkt des Israel-Palästina-Konfliktes zu einer handfesten Krise im Judentum entwickelt. Der britisch-jüdische Philosoph Brian Klug, selbst ein Universalist, schildert diese Auseinandersetzung so: „Die binäre Spaltung, an die ich denke, verläuft quer zur Unterscheidung in religiös und säkular. Sie läuft auf ein ‚entweder oder‘ in der Prioritätensetzung hinaus: Entweder stehen Gruppen- oder ethnische Interessen an erster Stelle oder die universellen Menschenrechte. Diese beiden Sichtweisen sind nicht nur unterschiedlich, sie schließen sich gegenseitig aus. Und doch beanspruchen beide dieselbe Tradition für sich: das Judentum oder die Jiddischkeit. Aus diesem Grund habe ich kürzlich über eine Krise im Judentum gesprochen, eine Krise, bei der der Staat Israel sich als Fels herausstellen könnte, an dem das Judentum auseinander bricht. Heute wird unter Juden eine Schlacht ausgetragen, eine Schlacht, die in ihrer Art die Zukunft ebenso wesentlich beeinflusst wie der Konflikt in Palästina und Israel.“ Wie groß die Kluft zwischen beiden Richtungen ist, wird dadurch belegt, dass die Vertreter der partikularistischen, zionistischen Richtung Israels Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen gar nicht mehr leugnen, sondern offen zugeben und mit einer „eigenen zionistischen Moral“, die nichts mit dem Universalismus zu tun habe, rechtfertigen. So hat Israels Justizministerin Ayelet Shaked im August 2017 bekannt: „Der Zionismus darf sich nicht, und sich sage hier, er wird sich nicht weiterhin dem System der individuellen Rechte unterwerfen, das in einer universellen Weise interpretiert wird, die sie von der Geschichte der Knesset und der Geschichte der Gesetzgebung trennt, die wir allen kennen.“ Die Ablehnung der Menschenrechte und des Völkerrechts durch die Zionisten ist lange bekannt (vor allem auch durch seine Taten), aber noch nie vorher hat eine hohe Vertreterin des Zionismus sie so offen zugegeben. Mit anderen Worten: Der Staat Israel ist also auf Fundamenten der Ungerechtigkeit aufgebaut und muss deshalb vor Kritik, die von außen an ihn herangetragen wird, geschützt werden.

Diese Äußerung der Ministerin (und andere vorher) ist von großer Tragweite und hat weitreichende Konsequenzen für die heutige Definition von Antisemitismus. Denn nach dieser zionistischen Auffassung (und der der Anhänger und Verteidiger Israels) ist ein Antisemit jemand, der sich in seiner Kritik an der israelischen Politik offen auf eine universalistische Moral stützt– sich also zu Menschenrechten und Völkerrecht bekennt. Oder umgekehrt: Um nicht als Antisemit angeprangert zu werden, darf man sich also nicht zu den Menschenrechten und dem Völkerrecht bekennen, ja man muss sie verachten. Und man muss sich zu Israels unmenschlicher Politik bekennen.

Der sehr einflussreiche amerikanisch-jüdische Jurist Alan Dershowitz plädiert seit langem dafür, Israels Menschrechtsverstöße zu legalisieren. Er tritt – im Namen der Herrschaft des Rechts – für einen massiven Abbau der im Lauf der letzten hundert Jahre erzielten Fortschritte beim humanitären Völkerrecht und beim internationalen Menschenrechtsschutz ein. Dershowitz behauptet, dass Menschenrechte und Völkerrecht zu wirksamen Waffen geworden seien, die selektiv gegen Israel eingesetzt würden. Er möchte das internationale Kriegsrecht (vor allem die Genfer Konvention) abschaffen. Er hält das Völkerrecht im Fall Israels für nicht bindend, die Israelis seien nur den Gesetzen ihres demokratischen Staates verpflichtet.

Aber nicht alle Verteidiger Israels argumentieren so offen gegen die Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrechten. Aber das Ziel ist immer dasselbe: Wenn sie den Antisemitismus-Vorwurf als politische Waffe der Denunziation, Verleumdung und des Rufmords einsetzen, dann wird immer dasselbe Ziel verfolgt, jede Kritik an Israels brutalem Okkupationsregime über die Palästinenser im Keim zu ersticken. Die Absicht ist also, den Blick auf die unmenschliche Realität zu verstellen. Diese Situation gestaltet sich als totale Perversion des politischen und humanen Denkens: Das offizielle Israel lehnt die Einhaltung von Menschenrechten und Völkerrecht in Worten und Taten ab (sie gehören nicht zur jüdischen Identität, heißt es). Und seine Interessenvertreter überall in der Welt – besonders aber in Deutschland – schwingen sich zu Inquisitoren auf, um Kritiker der israelischen Politik, die sich auf Menschenrechte und Völkerrecht berufen, als „Antisemiten“ zu denunzieren. Ein schlimmerer und schändlicherer Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurfs ist nicht denkbar. Der nötigen Bekämpfung des wirklichen Antisemitismus erweisen sie damit einen Bärendienst. Ganz abgesehen davon, dass die Israel-Verteidiger mit ihrem Vorgehen auch den hochmütigen israelischen Rassismus gegenüber den muslimischen Palästinensern mittragen. Man muss fragen: Wie würden die Opfer des Holocaust auf eine solche Perversion reagieren, wenn sie es denn noch könnten? Und eine andere Gefahr wird immer bedrohlicher: Hier wird in ganz massiver Weise die Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt, die eine tragende Säule der Demokratie ist.

Die meisten Antisemitismusvorwurfs-Kampagnen, die Israel und seine Lobbyisten in Szene setzen, werden nicht zufällig dann am lautesten inszeniert, wenn Israel durch brutale Unterdrückungsmaßnahmen oder äußerst aggressive militärische Aktionen in Erklärungsnot gerät und der internationale Druck auf den Staat wächst. Das sind dann nichts weiter als medienwirksame Ablenkungsmanöver. Norman G. Finkelstein ist zuzustimmen, wenn er die Ziele solcher Kampagnen so beschreibt: „Diese schamlose Ausnutzung von Antisemitismus soll erstens der Kritik an Israel die Berechtigung entziehen, zweitens die Juden (und nicht die Palästinenser) als Opfer darstellen und drittens der arabischen Welt den Schwarzen Peter zuschieben. Solche Kampagnen beuten schamlos das Leid aus, das Juden in der Geschichte erfahren mussten.“

Es müsste doch eigentlich völlig normal sein, dass man Israels inhumane Politik von rechtsstaatlichen und völkerrechtlichen Maßstäben und Kriterien einer westlichen Demokratie aus bewertet. Was soll daran antisemitisch sein? Als die USA in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihren verbrecherischen Krieg gegen Vietnam führten, sind Millionen Menschen in aller Welt protestierend auf die Straße gegangen, aber nicht „Anti-Amerikanismus“ war ihr Motiv, sondern die Ablehnung eines barbarischen Krieges. Warum sollte das bei Israel anders sein?

Dazu kommt ein weiteres: Der Antisemitismus-Vorwurf wäre ja völlig berechtigt, würde man Israel grundlos kritisieren, wenn Israel also die ihm vorgeworfenen Verbrechen gar nicht begangen hätte und ständig weiter begehen würde. Wenn es sich also um Falschbehauptungen oder Lügen handeln würde – „fake-news“, wie man heute sagt. Aber das ist nicht der Fall. Diese Verbrechen sind tausendfach als Fakten belegt – nicht zuletzt von israelischen Menschenrechtsorganisationen wie etwa Betselem oder Breaking the Silence. Der Antisemitismus-Vorwurf wird aber dennoch erhoben. Israels unmenschliches Vorgehen wird also entweder von seinen Verteidigern gedeckt oder geleugnet, was aber dem Antisemitismus-Vorwurf den Boden entzieht, er ist ein künstliches und durch wohl kalkulierte Hysterie erzeugtes Konstrukt. Er bezieht sich gar nicht mehr wirklich auf Juden, es geht nur noch um Israels Politik. Für Europa und speziell für Deutschland bedeutet das: Wer nicht bereit ist, Israels partikularistischen und äußerst aggressiven Sonderweg der Abkapselung, Trennung und Isolation mit all den politischen Folgen, die das mit sich bringt, mitzugehen und Israel universalistisch vom Standpunkt des Völkerrechts und der Menschenrechte aus beurteilt, ist nach israelischem Verständnis (und dem seiner Lobby) ein „Antisemit“. Mit diesem neuen Inhalt des Begriffs werden aber nicht Juden geschützt (was ja eigentlich der Sinn sein sollte), sondern eine verbrecherische Politik, die jede Moral und jedes Recht mit Füßen tritt.

Der heute übliche Antisemitismus-Vorwurf ist also nur möglich, weil die brutale Besatzungsrealität und die ebenso brutale siedlerkolonialistische Vergangenheit von der Israel-Lobby völlig ausgeblendet werden. Dadurch steht Israel als Unschuldslamm da – Täter sind die Palästinenser, Opfer die Israelis (Juden). Hier kommen zwei Dinge zusammen; Die äußerst geschickte israelische Propaganda (Hasbara) und auf deutscher Seite das Schuldgefühl gegenüber den Juden. Ohne die Untaten der Deutschen an den Juden in irgendeiner Weise mit denen der Israelis an den Palästinensern auf dieselbe Stufe zu stellen, bleiben und sind es Untaten. Und es bleibt festzustellen, dass die Israelis gegenüber den Palästinensern große Schuld auf sich geladen haben, die sie aber verdrängen. Hätten sie sie aufgearbeitet, würden sie sie also anerkennen und politisch entsprechend versöhnlich handeln, wären die Antisemitismus-Vorwürfe, die im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt erhoben werden, gar nicht möglich. Die meisten Antisemitismus-Vorwürfe, die gegen Kritiker der israelischen Politik erhoben werden, beruhen also auf Ausblendung der Realität oder auf einem Lügengebäude. Auch das ist ein Teil der israelischen Tragödie.

Aus all dem folgt aber auch, dass Israel selbst ganz maßgeblich für das Anwachsen des Antisemitismus in der Welt verantwortlich ist. Eine Feststellung, die von zionistischer Seite natürlich entschieden bestritten wird. Denn das würde ja bedeuten, dass Israel und seine Unterstützer im Unrecht sind. Ein undenkbarer Gedanke, denn nach ihrem Verständnis kann Feindseligkeit gegenüber Juden keinesfalls daher rühren, dass diese Unrecht getan haben könnten. Es gibt aber sehr viele universalistisch denkende Juden, die genau dies behaupten: Israel fördert den Antisemitismus. So schreibt der israelische Historiker Ilan Pappe: „Jede Kritik an diesem Mythos [dass Israel Frieden und damit die Zwei-Staaten-Lösung wolle] wird als Antisemitismus gebrandmarkt. Aber tatsächlich sind die israelische Politik und Mythologie der wahre Hauptgrund dafür, dass der Antisemitismus immer noch virulent ist. Israel selbst insistiert darauf, es tue das, was es tut, im Namen des Judentums – und genau das führt im Denken unbedarfter Menschen zu einer Gleichsetzung von zionistischer Kolonisierung und dem Judentum als solchen.“

Der israelische Publizist Uri Avneri stimmt dem zu und schreibt bezogen auf die Regierung von Ariel Sharon (aber was er schreibt, gilt auch für alle anderen israelischen Regierungen): „Dieser Mythos [dass der Antisemitismus verschwinden wird, wenn alle Juden der Welt sich im jüdischen Staat ansiedeln] ist nun auch dabei, seinen Geist aufzugeben. Das ganze Gegenteil geschieht. Der Staat Israel verursacht eine Wiederauferstehung des Antisemitismus auf der ganzen Welt und bedroht Juden überall. Die Regierung Sharon ist wie ein riesiges Labor, in dem das Antisemitismus-Virus gezüchtet und in die ganze Welt exportiert wird.“

Und Moshe Zuckermann sieht eine enge Beziehung zwischen Zionismus und Antisemitismus: „Denn paradoxerweise war der Zionismus immer schon am Fortbestand des Antisemitismus interessiert. Da der Zionismus sich als Reaktion auf den europäischen Antisemitismus gebildet hatte, war er dialektisch schon immer mit dem Antisemitismus zweckgerichtet verschwistert: Je dreckiger es den Juden in der Welt ging, desto günstiger war dies für die Erfüllung eines zentralen Postulats des Zionismus – der Auswanderung der Juden aus ihren Ländern in das zionistische Israel. Das zionistische Israel hat Antisemitismus nie bekämpft, sondern ganz im Gegenteil ideologisch herbei gewünscht – es gibt nichts Schlimmeres für den Zionismus als Juden, die sich außerhalb Israels in ihren Ländern wohlfühlen. Solche Juden pflegte die israelische Ideologie stets als ‚diasporisch‘ zu schmähen. Der Grund dafür ist, dass es dem klassischen Zionismus nie um den Juden qua Juden ging, sondern stets um den ‚neuen Juden‘, mithin um die Rechtfertigung des Zionismus als historische Antithese zu der als ‚diasporisch‘ abgewiesenen Judenheit.“

So bewegt sich das zionistische Israel in einem merkwürdigen Kreis: Es entfacht durch seine Politik der nationalistischen Blindheit und des Größenwahns der militärischen Macht Antisemitismus (besser vielleicht Anti-Israelismus) in der Welt, den es instrumentalisierend offiziell lauthals beklagt, den es zur Bestätigung seiner Existenz aber unbedingt braucht und über den es wegen der Möglichkeit neuer jüdischer Einwanderer sogar klammheimliche Freude empfindet. Man denke an die Aufforderung des israelischen Regierungschefs Netanjahu nach den Anschlägen 2015 in Paris und Kopenhagen, die französischen Juden sollten umgehend nach Israel kommen – sehr zum Ärger der französischen Regierung. Fritz Stern hält Netanjahu deshalb für einen „Architekten der Angst“. Er schaffe die Welt, vor der er sich selbst fürchte und in der Israel immer stärker isoliert werde. Das sei eine Angst erregende Entwicklung.

Die Instrumentalisierung des Antisemitismus, die Israel braucht, hat solche Ausmaße angenommen, dass der israelische Literaturwissenschaftler Ran HaCohen schreiben kann: „Auf Antisemitismus gerichtete Aufmerksamkeit hat die Form antisemitischer Verschwörungstheorien angenommen wie die der ‚Protokolle der Weisen von Zion‘. Während der klassische Antisemit jedes Unglück mit der Verschwörung [des Judentums gegen die Nicht-Juden] in Verbindung bringt, bringen Juden Kritik an Israel mit der antisemitischen Verschwörung in Verbindung. Wie wir sehen ist das nicht die einzige Ähnlichkeit zwischen Anti-Palästinensertum und Antisemitismus.“

Natürlich bestreitet Israel, dass seine Politik die Hauptursache für die Verbreitung von Antisemitismus in der Welt ist. Es stellt sich stets als vollständig unschuldig dar. Zu seiner Rechtfertigung bedient es sich stets zweier Methoden: den Konflikt mit den Palästinensern ahistorisch darzustellen und ihn als Verlängerung der jüdischen Verfolgungsgeschichte darzustellen. So kann man verschleiern, dass der Zionismus mit seinem Anspruch auf Palästina überhaupt erst die Auseinandersetzung mit der arabischen Welt herausgefordert hat. Eine Analyse der wirklichen Ursachen des Nahost-Konfliktes wird so geschickt umgangen.

Die ganze zionistische Darstellung des Nahost-Konflikts ist geschichtslos, also mythisch und mystifizierend, hat also mit der geschichtlichen Wirklichkeit nicht viel zu tun. Beispiel sind etwa die Behauptungen, dass die Juden nach 2000 Jahren Abwesenheit in ihr „Heimatland“ zurückgekehrt seien, dass Palästina bei ihrer Ankunft „leer“ gewesen sei und dass sie deshalb einen historischen Anspruch auf das Land hätten. In dieser Sichtweise zeigen sich der Unwille oder auch die Unfähigkeit, historische Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Die Wirklichkeit der Anwesenheit der Araber im Land hat die Zionisten nie interessiert.

Der Konflikt wird also nicht auf seine wirklichen Ursachen zurückgeführt, sondern er wird entpolitisiert und enthistorisiert. Auf diese Weise können die Zionisten ihn als „unlösbar“ ansehen, weil die Feindschaft der Araber gegenüber den Juden als gegeben, unveränderlich und unausweichlich verstanden wird, sozusagen als ewige Konstante. Die Araber, die Shimon Peres als von Natur aus „böswillig, unterlegen, nicht kompromisswillig, wahrheitsverdrehend, hetzerisch, primitiv, aggressiv, ungebildet und sozial rückständig“ bezeichnet hat, werden als die „neuen Gojim“ bezeichnet und damit als „Antisemiten“, wie denn auch der ganze Konflikt im zionistischen Bewusstsein nur als eine „neue Version des Antisemitismus“ aufgefasst wird.

Für das offizielle Israel und die meisten Israel-Verteidiger ist einzig der islamische Antisemitismus für den Konflikt Israels mit den Palästinensern verantwortlich. Die Fakten, dass eine Staatenbildung durch zugewanderte Fremde in einem voll bewohnten Land Gewalt automatisch herbeiführen muss (wovor ja auch viele vorausschauende Zionisten gewarnt haben), und es Hass auf den Zionismus im Nahen Osten erst seit der Ankunft der ersten jüdischen Siedler in Palästina gibt, sind sie nicht bereit einzugestehen.

Indem die jüdischen Israelis den Konflikt mit den Palästinensern und den Arabern insgesamt unter das Vorzeichen des Antisemitismus stellen, bringen sie den Konflikt auch direkt mit dem Holocaust in Zusammenhang. Sie vermengen also den kolonialen Konflikt in Palästina mit der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis. Das heißt aber, dass die Israelis das wahre Geschehen in Palästina, also die wirklichen Ursachen des Konflikts und seine Austragungsformen nicht zur Kenntnis nehmen und verleugnen. Denn die Palästinenser haben mit der Vernichtung der europäischen Juden nichts zu tun. In Palästina handelt es sich um eine koloniale Auseinandersetzung, bei der ein eingewandertes Volk – die Juden – ein anderes Volk – eben die Palästinenser – mit Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben und ihre Gesellschaft zerstört haben, um in diesem Land ihre staatliche Existenz aufzubauen.

Die jüdischen Israelis deuten den Konflikt mit den Palästinensern also als Fortsetzung ihrer Verfolgungsgeschichte außerhalb Palästinas. Wobei es natürlich völlig klar und ganz selbstverständlich war und ist, dass die Angegriffenen – die Palästinenser – sich gegen ihre Vertreibung und Kolonialisierung wehrten und auch heute noch wehren, was aber zu einer paradoxen und absurden Situation führte. Denn die zionistischen Neueinwanderer stellten und stellen sich entsprechend ihrer langen Verfolgungsgeschichte – gipfelnd im Holocaust – als die Angegriffenen und als die Hassobjekte dar, also als die eigentlichen Opfer. Die wirklich Angegriffenen – die Palästinenser – wurden und werden zu den eigentlichen Tätern gemacht. Die Rollen von Tätern und Opfern wurden also völlig umgekehrt. Diese Verkehrung machte es auch möglich, dass die Israelis ihre Schuld, die Palästinenser im Verlauf des zionistischen Kolonisierungsprozesses vertrieben zu haben, leugnen konnten. Israel verdrängt die Fakten seines Vorgehens gegen die Palästinenser bis heute. Eine Aufarbeitung des gewaltsamen Vorgehens gegen die Palästinenser – etwa der Nakba – ist für die israelischen Juden deshalb so schwierig, weil damit die Grundlagen des zionistischen Projekts insgesamt in Frage gestellt würden.

Dieses Deutungsmuster – also die Vermischung des Traumas der nationalsozialistischen Judenvernichtung mit der kolonialen, von Gewalt geprägten Situation, die die zionistischen Zuwanderer mit ihrem Projekt auf palästinensischem Land geschaffen haben – besagt anders formuliert, dass sich die Wahrnehmung der europäischen Geschichte in den Palästina-Konflikt hineingeschoben hat. Nicht zuletzt dadurch ist er unlösbar geworden.

Verteidiger und Propagandisten Israels übernehmen dessen rein zionistische Argumentation, weil sie den Konflikt erstens ahistorisch sehen und ihn zweitens entpolitisieren. Die Feindschaft zwischen Israelis beziehungsweise Juden und Palästinensern beziehungsweise Arabern wird verabsolutiert. Sie wird nicht aus dem kolonialen historischen Prozess heraus erklärt, sondern ahistorisch gesehen. Die Feindschaft wird als gegeben, unveränderlich und unausweichlich verstanden und dargestellt, sie wird sozusagen auf das „Wesen“ der Araber zurückgeführt – eben auf deren Antisemitismus. So wird auch unhinterfragt der zionistische Mythos, der zum Dogma und zur Staatsräson geworden ist, übernommen, dass Israel das Land des jüdischen Volkes ist. Aus der Vermischung des Palästina-Konflikts mit dem Holocaust ergibt sich für Israel automatisch, dass die Palästinenser die „neuen Nazis“ sind, die Israel zerstören wollen.

Die Wurzeln des arabischen Anti-Israelismus

Man muss festhalten: Erst das zionistische Projekt, einen jüdischen Staat in Palästina und damit im arabischen Raum gründen zu wollen und seine gewaltsame Durchführung haben dort eine antiisraelische oder antizionistische Haltung hervorgebracht, die zunächst nicht antisemitisch war, und es auch nur dann ist, wenn sie sich als Hass oder Feindschaft gegen Juden als Juden richtet oder Israel als „kollektiver Jude“ gesehen wird. Der Arabist Alexander Flores nennt drei Gründe, warum die arabische Gegnerschaft zu den Zionisten oft auch antisemitische Formen annahm: Die immensen Schäden und Opfer, die die zionistische Kolonisierung den Arabern besonders aber den Palästinensern zugefügt hat. Dazu kam der Anspruch Israels, für alle Juden weltweit zu sprechen und zu handeln und alle nicht- oder antizionistischen Stimmen dabei an den Rand zu drängen. Dadurch wurde der Unterschied zwischen Zionismus und Judentum in der Wahrnehmung der Araber oft verwischt, was wiederum ein Denken in der Kategorie die Juden begünstigte. Zudem lassen die großen Mächte der Welt Israel bei seiner grausamen und äußerst inhumanen Kolonisierungspolitik ohne einzuschreiten gewähren, was bei den Arabern den Verdacht einer großen Verschwörung nährt.

Es kann nicht verwundern, dass der durch das Wirken des Zionismus entstehende Hass auch in Antisemitismus umschlägt – auch wenn Zionisten das bestreiten und behaupten, dass der palästinensische Antisemitismus primär und der Auslöser für die Angriffe auf das zionistische Unternehmen und Israel gewesen sei. Israel habe sich immer nur verteidigt, wird also als „Unschuldslamm“ dargestellt. Wenn man die Fakten kennt, schon das Niederschlagen des Palästinenseraufstandes 1936 zusammen mit den Briten, die Nakba 1948, Israels Kriege gegen die Araber und besonders gegen die Palästinenser mit dem stetigen Zugewinn an Land sowie die brutale Siedlungs- und Besatzungspolitik bis heute, dann erscheint eine solche Sichtweise eher absurd und weltfremd, hat aber natürlich die Funktion, Israel gegen jede Kritik zu immunisieren und die Schuld auf die Araber zu schieben.

Auch wenn es also Antisemitismus bei den Arabern und Palästinensern gibt, muss man konstatieren, dass dem heutigen arabischen Antisemitismus ein realer Kolonialkonflikt zu Grunde liegt. Man kann diesen Konflikt und seine Auswirkungen nicht einfach ausklammern. Auch wenn Araber antisemitische Stereotypen aus Europa übernommen haben, so gibt es doch bedeutsame Unterschiede zwischen dem europäischen und arabischen Antisemitismus. Wenn ersterer seine Ursache in der Suche nach Sündenböcken für gesellschaftliche Fehlentwicklungen hat, erklärt sich der palästinensische Antisemitismus eher aus kultureller Rückständigkeit (Stichwort: Verlierer der Modernisierung) und der tiefen Frustration, die die Besatzungsmacht mit ihrer Unterdrückung, Demütigung und Erniedrigung bei diesen Menschen hervorruft. Der libanesische Politologe Gilbert Achcar setzt den palästinensischen Antisemitismus in aller Schärfe vom Antisemitismus der Nazis ab: [„Er ist nicht gleichzusetzen mit dem Hass], den manche Araber empfinden, die empört sind über die Besetzung und Verwüstung arabischen Landes, über die Vertreibung und Enteignung oder Unterjochung der auf diesem Land lebenden Bevölkerung, über die Kriegsverbrechen, die von den Streitkräften eines Staates begangen werden, der sich selbst als Judenstaat bezeichnet.“

Letzten Endes ist die Auseinandersetzung um den arabischen Antisemitismus auch wieder eine Frage der Sichtweise von Partikularisten und Universalisten. Wer bedingungslos hinter dem exklusiv-ethnokratisch-zionistischen Staat Israel steht, wird die Araber als „willige Vollstrecker“ eines arabischen Antisemitismus bezeichnen, der sich an den Nationalsozialismus anlehnt. Wer universalistisch denkt, wird wie Gilbert Achcar das Problem differenzierter und weitsichtiger angehen und Israel in seine Kritik mit einbeziehen. Mit Antisemitismus hat eine solche Kritik – wie zu zeigen war – aber gar nichts zu tun.

Inzwischen stellen die Zionisten und ihre Anhänger aber alle Kritiker der israelischen Politik – also Universalisten, Menschenrechtler, und Friedensfreunde, politisch „Linke“) als „Antisemiten“ und „Nazis“ dar. So wird etwa die BDS-Bewegung (Boykott, De-Investment, Sanctions), die mit friedlichen Mitteln einen Boykott israelischer Produkte und Waren fordert, um Druck auf diesen Staat auszuüben, damit er die völkerrechtswidrige Besatzung beendet und die Menschenrechte auch für Palästinenser wirksam werden können, als „antisemitisch“ und mit der NS-Parole „Kauft nicht bei Juden!“ gleichgesetzt.  Eine schlimmere Form der Falschdarstellung, der Desinformation, Verleumdung und Denunziation ist kaum denkbar.

Denn die BDS-Bewegung kommt mitten aus der Zivilgesellschaft heraus und stellt in keiner Weise die Existenz Israels in Frage. Ihre Aktionen sind durch die Meinungs- und Pressefreiheit voll gedeckt. So sieht es im Übrigen auch die EU-Beauftragte für Außenpolitik Federica Mogherini. Nebenbei sei angemerkt, dass Israel selbst eine Boykott-Politik gegenüber dem Gazastreifen betreibt, den es völlig abgeriegelt hat und nur äußerst begrenzt die lebensnotwendigsten Güter hereinlässt. Die NS-Kampagne, nicht bei Juden zu kaufen, ging von einem Terrorstaat aus, der mit solchen Aktionen seine mörderische Politik gegen eine Minderheit einleitete.

Wirklicher Antisemitismus, den es unter Rechtradikalen zweifellos gibt, wird – das wird viel zu wenig beachtet – erst dann gefährlich, wenn er sich mit einer staatlichen Macht verbindet, was konkret heißt: Antisemitismus ist eine Form des Rassismus. Rassismus, wenn er denn für Menschen gefährlich wird, ist aber nur denkbar unter bestimmten, stark von Nationalismus bestimmten Herrschaftsstrukturen, in denen es einen Unterdrücker und Unterdrückte gibt. Rassistisch verhalten sich immer nur die Unterdrücker, nie die Unterdrückten. So verhielt sich das NS-Regime rassistisch (antisemitisch) gegenüber den Juden, indem es sie dämonisierte, demütigte, schikanierte, unterdrückte und zum Schluss ermordete. Die Juden hassten die Nazis deswegen zu Recht, dieser Hass war aber natürlich kein Rassismus. Genauso verhielt es sich im Südafrika der Apartheid: Rassismus praktizierten dort die Weißen als Unterdrücker der Schwarzen. Die Schwarzen hassten sie deswegen, aber dieser Hass hatte auch mit Rassismus nichts zu tun, er war die ganz natürliche Reaktion auf die Unterdrückung. Übertragen auf die Situation in Israel/Palästina heißt das: Rassismus üben die Israelis als Besatzer und Unterdrücker der Palästinenser aus. Diese hassen die Israelis natürlich deswegen, aber dieser Hass ist deshalb auch in keiner Weise rassistisch begründet, er ist also nicht antisemitisch. Er ist aus der Unterdrückungssituation menschlich und psychologisch heraus völlig verständlich. So wird der Rassismus-Vorwurf der Zionisten gegen die Palästinenser geradezu in sein Gegenteil verkehrt, weil er in diesem Fall vom Unterdrücker gegen die Unterdrückten erhoben wird.

Den Vorwurf des Antisemitismus gegen die Palästinenser können die Zionisten und Verteidiger der israelischen Politik aber nur erheben, weil sie die Unterdrückung dieses Volkes leugnen. Auch eine Besatzung, so argumentieren sie, gibt es gar nicht. Sollte der Hass der Palästinenser oder der anderen Araber auf die Zionisten doch antisemitische Elemente enthalten, ist dieses Phänomen sicher sekundär, denn in der Tat haben Araber und Palästinenser als Reaktion auf das brutale siedlerkolonialistische Vorgehen der Zionisten seit ihrer Ankunft in Palästina (Landraub, Vertreibung, Unterdrückung, Kulturzerstörung, Ghettoisierung) antisemitische Stereotypen aus dem europäischen Antisemitismus übernommen. Aber der Antisemitismus ist im christlichen Europa entstanden und nicht im islamischen Bereich.

Es stimmt also vieles nicht im Diskurs über den Nahen Osten, wenn man jeden Kritiker der israelischen Politik als „Antisemiten“ diffamiert. Der Kampf gegen den Antisemitismus müsste eigentlich emanzipatorischen Charakter haben, nämlich gegen eine der furchtbarsten Formen des Rassismus vorzugehen. Durch den inflationären Gebrauch des Antisemitismus-Vorwurfs hat die Bekämpfung dieses Übels diesen Anspruch so gut wie verloren und ist fast ausschließlich zu einer Waffe der Diffamierung und Denunziation geworden.

In jedem unberechtigten Antisemitismus-Vorwurf der Zionisten und seiner Anhänger steckt deshalb auch eine missbräuchliche und verachtenswerte Instrumentalisierung des monströsen Verbrechens des Holocaust, also vor allem des angemessenen Gedenkens seiner Opfer, denn sie werden als Zeugen für die berechtigte Ablehnung und Verweigerung von Menschenrechten und Humanität, wie Israel sie praktiziert, herangezogen. Nicht die universalistischen Verteidiger der Menschenrechte und des Völkerrechts – also die Kritiker der israelischen Politik – gehören also an den Pranger, sondern die „Antisemitismus-Macher“ (siehe Abi Melzers Buch mit dem gleichen Titel), die das Menschheitsverbrechen Holocaust für ihre verächtlichen politischen Zwecke instrumentalisieren und sich einen Dreck um eine humane Moral scheren.

Die schärfste Anklage gegen diesen Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurfs im Zusammenhang mit der Instrumentalisierung des Holocaust durch die israelische Politik hat Ran HaCohen von der Universität Tel Aviv erhoben: „Der Missbrauch von angeblichem Antisemitismus ist moralisch verabscheuungswürdig. Es waren Hunderte von Jahren nötig und Millionen von Opfern, um Antisemitismus – eine spezielle Form von Rassismus, der historisch zum Genozid führte – in ein Tabu zu verwandeln. Menschen, die dieses Tabu missbrauchen, um Israels rassistische und genozidale Politik gegenüber den Palästinensern zu unterstützen, tun nichts anderes, als die Erinnerung an jene jüdischen Opfer zu schänden, deren Tod aus humanistischer Perspektive nur insofern Sinn hat, als er eine ewige Warnung an die Menschheit ist vor jeder Art von Diskriminierung, Rassismus und Genozid.“

Und er fährt fort: „Und außerdem die Täter als Opfer darzustellen – ein übliches Kennzeichen anti-palästinensischer Propaganda – ist genau das, was Antisemitismus immer getan hat: In Schmähschriften wird das wehrlose jüdische Opfer als Schänder christlicher Kinder dargestellt oder in der größten Anklage des Christusmordes, die die Verfolgung früher Christen missbrauchte, um die Verfolgung der Juden zu legitimieren, als sich das Kräftegleichgewicht der Macht geändert hatte. Dadurch, dass die jüdischen Opfer der Vergangenheit heraufbeschworen werden, um die jüdischen Täter von heute zu verteidigen, – man denke daran, dass Israel eins der mächtigsten Militärs der Erde hat – stellt dies eine moralische Schwäche dar, die peinlicherweise dem Antisemitismus sehr ebenbürtig ist und ihm auf beklemmende Weise ähnelt.“


Dieser Text stammt aus Arn Strohmeyers Buch:
Die israelisch-jüdische Tragödie.
Von Auschwitz zum Besatzungs- und Apartheidstaat.
Das Ende der Verklärung



Gabriele Schäfer Verlag Herne, ISBN 978-3-944487-57-1, 19.90 Euro


Online-Flyer Nr. 641  vom 20.12.2017

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