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Literatur
Aus den "Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers" (11)
Eine Wiederholungstäterin
Von Erasmus Schöfer
Ich kenne eine Mutter mit drei eigenen Kindern und einem adoptierten bolivianischen Indianerjungen. Diese Hanna lebt mit ihrem katholischen Mann, einem Lehrer im Staatsdienst, im Rheinland. Bei den Ostermärschen in den achtziger Jahren hat sie das Demonstrieren gegen die atomare Rüstung geübt, weil ihr Vater nach dem Krieg seiner zehnjährigen Tochter von den Atombombenabwürfen in Japan erzählt hatte. So etwas Schreckliches sollte sich nicht wiederholen.
Ihr Mann und ihre Kinder gingen öfter mit bei den Demonstrationen. Als sie dann radikaler wurde und in den deutsch-amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in der Eifel eindrang, weil dort Atombomben gelagert wurden, begleitete sie ihr Mann als Unterstützer und Beobachter, der vor dem Zaun blieb. Sie selbst und ihre Kombattanten schnitten ein Loch in den Zaun und stiegen hindurch, wie sie es angekündigt hatten. Drinnen entrollten sie ihr Transparent „Deutsche Tornados mit US-Atomwaffen bereit zum Massenmord“.
Die Soldaten kamen mit einem Jeep. Dem ersten wollte sie einen selbstgefalteten Papierkranich schenken, zur Erinnerung an Hiroshima, aber er behauptete, er dürfe den nicht annehmen. Sie mussten dann hinter dem Jeep herlaufen bis weit ins Innere des Flugplatzgeländes. Auf dem langen Marsch spielte Hanna auf ihrer Piccoloflöte We shall overcome und andere Lieder der Friedensbewegung. Ihr Mann konnte das Flötenspiel noch hören als die Eindringlinge längst auf dem Platz verschwunden waren.
Da es bereits Hannas zweiter Besuch bei den Atombomben war, bekam sie diese zwar wieder nicht zu sehen, dafür aber später das Innere der Justizvollzugsanstalt. Wie Gefängnisse heute scheinheilig heißen.
Als ihr Mann sie nach vier Wochen dort abholte, freuten sie sich beide, er konnte sich aber nicht verkneifen zu sagen: Hanna du bist verrückt – Du willst Märtyrerin spielen.
Sie war darüber nicht froh.
Trotzdem musste sie auch später immer wieder für die Zukunft ihrer Kinder und aller Menschen die bestehenden Gesetze gewaltlos brechen.
Erasmus Schöfer
Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers
Taschenbuch, 144 Seiten, 12 Euro
Verbrecher Verlag Berlin, 2016
Erasmus Schöfer, am 4. Juni 1931 bei Berlin geboren, lebt in Köln. Er war Mitbegründer und Vorsitzender des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und ist Mitglied des Deutschen P.E.N.-Zentrums. Seit seiner Promotion über »Die Sprache Heideggers« (1962) veröffentlichte er zahlreiche literarische und publizistische Arbeiten. Für seine hochgelobte Romantetralogie »Die Kinder des Sisyfos« erhielt Erasmus Schöfer im Jahr 2008 den Gustav-Regler-Preis. Zuletzt erschienen: »Diesseits von Gut und Böse. Beiträge fürs Feuilleton« (2011), »Na hörn Sie mal! Sechs ausgewählte Funkstücke« (2012) und »Schriftsteller im Kollektiv. Texte und Briefe zum Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« (2014).
Online-Flyer Nr. 622 vom 19.07.2017
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Literatur
Aus den "Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers" (11)
Eine Wiederholungstäterin
Von Erasmus Schöfer
Ich kenne eine Mutter mit drei eigenen Kindern und einem adoptierten bolivianischen Indianerjungen. Diese Hanna lebt mit ihrem katholischen Mann, einem Lehrer im Staatsdienst, im Rheinland. Bei den Ostermärschen in den achtziger Jahren hat sie das Demonstrieren gegen die atomare Rüstung geübt, weil ihr Vater nach dem Krieg seiner zehnjährigen Tochter von den Atombombenabwürfen in Japan erzählt hatte. So etwas Schreckliches sollte sich nicht wiederholen.
Ihr Mann und ihre Kinder gingen öfter mit bei den Demonstrationen. Als sie dann radikaler wurde und in den deutsch-amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in der Eifel eindrang, weil dort Atombomben gelagert wurden, begleitete sie ihr Mann als Unterstützer und Beobachter, der vor dem Zaun blieb. Sie selbst und ihre Kombattanten schnitten ein Loch in den Zaun und stiegen hindurch, wie sie es angekündigt hatten. Drinnen entrollten sie ihr Transparent „Deutsche Tornados mit US-Atomwaffen bereit zum Massenmord“.
Die Soldaten kamen mit einem Jeep. Dem ersten wollte sie einen selbstgefalteten Papierkranich schenken, zur Erinnerung an Hiroshima, aber er behauptete, er dürfe den nicht annehmen. Sie mussten dann hinter dem Jeep herlaufen bis weit ins Innere des Flugplatzgeländes. Auf dem langen Marsch spielte Hanna auf ihrer Piccoloflöte We shall overcome und andere Lieder der Friedensbewegung. Ihr Mann konnte das Flötenspiel noch hören als die Eindringlinge längst auf dem Platz verschwunden waren.
Da es bereits Hannas zweiter Besuch bei den Atombomben war, bekam sie diese zwar wieder nicht zu sehen, dafür aber später das Innere der Justizvollzugsanstalt. Wie Gefängnisse heute scheinheilig heißen.
Als ihr Mann sie nach vier Wochen dort abholte, freuten sie sich beide, er konnte sich aber nicht verkneifen zu sagen: Hanna du bist verrückt – Du willst Märtyrerin spielen.
Sie war darüber nicht froh.
Trotzdem musste sie auch später immer wieder für die Zukunft ihrer Kinder und aller Menschen die bestehenden Gesetze gewaltlos brechen.
Erasmus Schöfer
Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers
Taschenbuch, 144 Seiten, 12 Euro
Verbrecher Verlag Berlin, 2016
Erasmus Schöfer, am 4. Juni 1931 bei Berlin geboren, lebt in Köln. Er war Mitbegründer und Vorsitzender des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und ist Mitglied des Deutschen P.E.N.-Zentrums. Seit seiner Promotion über »Die Sprache Heideggers« (1962) veröffentlichte er zahlreiche literarische und publizistische Arbeiten. Für seine hochgelobte Romantetralogie »Die Kinder des Sisyfos« erhielt Erasmus Schöfer im Jahr 2008 den Gustav-Regler-Preis. Zuletzt erschienen: »Diesseits von Gut und Böse. Beiträge fürs Feuilleton« (2011), »Na hörn Sie mal! Sechs ausgewählte Funkstücke« (2012) und »Schriftsteller im Kollektiv. Texte und Briefe zum Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« (2014).
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