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Kultur und Wissen
Expertengremium: Mensch hat neue geologische Ära eingeleitet, das ‘Anthropozän’
Erdzeitalter des Menschen
Von Harald Schauff

Seit Jahrhunderten und Jahrtausenden hinterlässt der Mensch sichtbar seinen Stempel auf dem Gesicht der Erde. Archäologen, Geologen und Historiker können einige Liedchen oder sogar ganze Hymnen darüber trällern. In den letzten Jahrzehnten hat er die Planetenoberfläche extrem nachhaltig umgepflügt, so dass seine Spuren inzwischen auch in tieferen Erdschichten auffindbar sind. Dies kommt durch den Bau von Ballungszentren und Verkehrswegen, durch die Stauung von Flüssen und Seen ,wie durch die Ausdehnung des Bergbaus und der Landwirtschaft. In dieser nachhaltigen Veränderung des Erdsystems durch den Menschen sieht ein internationales Expertengremium Anlass genug, den Beginn eines neuen Erdzeitalters auszurufen: Dieses soll ‘Anthropozän’ heißen, was soviel bedeutet wie ‘das menschliche Neue’ oder ‘das menschengemachte Neue’.

Begonnen haben soll es laut den Experten bereits um 1950. Und damit die vorhergehende Ära des Holozäns zu diesem Zeitpunkt beendet haben. Das Holozän begann vor etwa 11.700 Jahren und war von außergewöhnlich stabilen Klima- und Umweltbedingungen geprägt. Es begünstigte die Ausdehnung der menschlichen Zivilisation, die Gründung von Siedlungen und Städten, den Aufbau von Verkehrswegen und das Treiben von Handel.

In einem Interview mit dem SPIEGEL (39/2016) erklärt der Berliner Geologe Reinhold Leinfelder (59), warum das Expertengremium, dem auch er angehört, nach mehrjähriger Beratung empfiehlt, das Holozän für beendet zu erklären. Wesentliches Kriterium seien die Spuren, die der Mensch im Gestein der Erde, den ‘Sedimenten’ hinterlassen habe. Tatsächlich fänden sich in ‘Beachrocks’ in den Tropen bereits Coladosen oder Autoreifen. Solche jungen Lockersedimente höben sich derart von ihren Vorgängern ab, dass sie nach Ansicht der Geologen den Beginn eines neuen Zeitalters markierten.

Zu beachten gelte dabei: Der Mensch greife stark in das Sedimentationsgeschehen ein. Seine Stauseen und Staudämme hielten das Sediment zurück, welches rausgebaggert werde. Dadurch würden viele Flüsse kein Delta mehr in ihren Mündungsgebieten aufbauen.

Auf welche Funde aus unserer Zeit könnte ein Geologe in 50.000 Jahren in Berlin stoßen? Zunächst würde er wohl den seit 1950 aufgetürmten Kriegsschrott, die Teufelsberg-Gesteine, vorfinden. Außerdem auf Plastikpartikel in den Sedimenten der Havel und des Wannsees stoßen. Des weiteren eine Schicht industrieller Flugasche entdecken und bestimmen können, ob diese aus der Verbrennung von Erdöl oder Kohle herrühre. Und er könnte radioaktiven Fallout sowohl aus den Atombombenversuchen der 50er und 60er Jahre als auch den Reaktorhavarien von Tschernobyl und Fukushima nachweisen.

Durch globale Vergleiche würde der Geologe ferner eine Homogenisierung des Lebens feststellen: Viele Lebensformen, die früher nur regional verbreitet waren, träten zu unserer Zeit weltweit auf, Nutztiere und Nutzpflanzen zum Beispiel. Der Mensch und seine Nutztiere machten mittlerweile 90 % der Säugetier-Biomasse des gesamten Planeten aus. Rund um den Globus wird kräftig geblökt, gegrunzt, gegackert, gemuht, gejault, gebellt und gekräht. In tierischer wie menschlicher Gestalt. Doch davon bleibt das Gehör des gedachten Zukunftsgeologen verschont, worum er nicht traurig zu sein braucht.

Welche Grundmaterialien aus unserer Zeit würde er antreffen? U.a. Aluminium, das es in vorindustrieller Zeit noch nicht gab. Auf jeden Fall würde er auf haufen- bzw. wände- und pfeilerweise Beton stoßen. Den hatten bereits die Römer erfunden. Zum meistverwendeten Baustoff wurde er allerdings erst im II. Weltkrieg. In den letzten 20 Jahren wurde die Hälfte des jemals produzierten Betons verbaut.

Natürlich hat der Mensch bereits in früheren Zeiten Spuren in der Erde hinterlassen. Doch erst in jüngster Zeit, so stellt Leinfelder fest, sei er von einem biologischen zu einem geologischen Faktor geworden, der global wirke. Die von ihm ausgelösten Faktoren würden schneller ablaufen als alles geologisch Bekannte. Siehe den steigenden Meeresspiegel, die steigenden Temperaturen und das Aussterben ganzer Arten in kürzester Zeit. Warum setzen die Forscher den Beginn des Anthropozäns nicht früher an, beispielsweise beim Bau der ersten Städte, der Kolonialisierung Amerikas, der Erfindung der Dampfmaschine oder den Beginn der Industrialisierung?

Leinfelders Erklärung: Erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts seien Schlüsselmaterialien wie Plastik in den Sedimenten auffindbar. Das genaue Datum für den Beginn des Anthropozäns soll in ein paar Jahren festgelegt werden. Am Ende würde die ‘International Commission on Stratigraphy’ entscheiden, ob sie den Empfehlungen der Arbeitsgruppe folge und das Anthropozän offiziell ausrufe.

Tritt dies ein, so sollte das neue nach dem Menschen benannte Zeitalter für mehr stehen als den Schaden, den der Mensch der Welt bereits angetan hat, findet Leinfelder. Es berge die Chance, einen neuen Zugang zur Welt zu finden. Wir hätten es in der Hand.Täten wir das Richtige, so könnte das Anthropozän sogar länger als das Holozän existieren. Unternähmen wir das Falsche, rutschten wir in eine Treibhauszeit hinein. Ein wenig Zeit hätten wir schon noch, um dies zu verhindern.

Heißt nach geologischen Maßstäben wohl einige Jahrzehnte. Nach demselben Ermessen war auch das Holozän mit seinen 11.700 Jahren nicht von langer Dauer. Die Erde existiert seit Milliarden Jahren, der Mensch kraucht darauf gerade einmal ein paar Millionen Jahre herum. Die von ihm hervor gebrachte moderne Zivilisation dauerte bislang den Wimpernschlag weniger Jahrhunderte.

Hinsichtlich der Umweltprobleme und des Klimawandels gibt es laut Leinfelder keine Besserung auf Knopfdruck. Wir müssten vieles neu denken, bräuchten neue wissenschaftliche Ansätze, mehr Kreislaufwirtschaft, Experimentierfreude und Mut. Einige Probleme ließen sich technisch lösen. Z.B. könnte Kohlendioxid unterirdisch gespeichert oder Kohlenstoff in neuen Produkten gebunden werden. Es gäbe für uns kein Zurück mehr ins Holozän. Jedoch könnten wir künftige Klimaschwankungen so im Zaum halten, dass wir damit zurecht kämen.


Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe März 2017, erschienen.


Online-Flyer Nr. 606  vom 29.03.2017

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