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Globales
Brexit: ein wortwörtlich historisches Ereignis
Europäische Union: heute Abend tot (24. Juni 2016)
Von Pierre Levy (Ruptures)

Für die globalisierten Eliten übertrifft es die schlimmsten Alpträume, war eigentlich unvorstellbar. Für diejenigen aber, die das europäische Geschehen aufmerksam verfolgen und sich bewusst sind, dass die EU richtiger Weise eine wachsende Ablehnung durch die Bevölkerung erweckt, war es vorhersehbar. Vor allem springt ein Tatbestand ins Auge. Auch wenn ein Teil der englischen Bourgeoisie die Entscheidung, das Vereinigte Königreich aus der EU zurückzuziehen, unterstützt, erstaunlich ist doch das Auseinanderklaffen: Auf der einen Seite die institutionellen und politischen Eliten (und – von einigen lobenswerten Ausnahmen abgesehen – die Gewerkschaften), die City, die Banken, die Chefs der großen Unternehmen (1300 von ihnen hatten zwei Tage vor der Abstimmung noch einen letzten Appell lanciert) – und die Betuchten in städtischen Milieus, auf der anderen Seite die Wohnviertel der einfachen Leute, die Arbeiterstädte, die vernachlässigten Vorstädte, ganze desindustrialisierte, sich selbst überlassene Regionen.

Dieser Graben vor allem hat das Ergebnis bestimmt. Man muss sich nur die gehässigen Anzüglichkeiten anhören, die gegen diese „benachteiligten Milieus“ mit ihrem „niedrigen Bildungsniveau“, „die irrationalen und von Hass getriebenen“ losgelassen werden. Diese klassenbedingte Verachtung, gesteigert durch den Groll über die Niederlage, spricht Bände über die wahre Natur des Streitgegenstands.

Ebenso vielsagend ist die endlose Liste der Mitglieder der Heiligen Allianz, die monatelang alles versucht hat – insbesondere die ungeheuerliche Drohung mit dem Chaos –, um die angekündigte „Mega-Katastrophe“ zu verhindern: G7, Staats- und Regierungschefs, Minister, Spitzen der Multis, Bankiers, Ratingagenturen, OECD, WMF…und sogar die NATO. Unübertroffen darin die USA mit dem einschlägigen London-Besuch von Präsident Obama…

Zwar hat jedes Land seine eigene politische Kultur. Aber dieser Gegensatz von „oben“ und „unten“ der Gesellschaft ist eine Konstante, die man bei allen Befragungen zu Europa wiederfindet. Ist Brüssel gezeigte Stinkefinger doch der vierte innerhalb eines Jahres. Schon die Griechen (Juli 2015), die Dänen (Dezember 2015), die Niederländer (April 2016) haben in Referenden zu Europa ein schallendes Nein verlauten lassen.

Diese soziale Geografie der Ablehnung der europäischen Integration war besonders eindrucksvoll beim französischen Referendum von Mai 2005, das den Vertrag über eine Verfassung für Europa verwarf. Eine Abstimmung, die in gewisser Weise ein erstes Erdbeben in der EU darstellte.

Damals waren es gerade die Arbeiter und überhaupt die Arbeitswelt, die Ausgebeuteten, die Unterdrückten, die sich gegen das europäische Projekt aufgelehnt haben, dessen wesentliches Ziel man so zusammenfassen könnte: Den Völkern („Völker“ im politischen Sinne, nicht im ethnischen) die Freiheit der Selbstbestimmung in den großen Entscheidungen über ihre Zukunft zu entziehen. Schon der Ausdruck „Schicksalsgemeinschaft“ (wie sich die EU selbst definiert) sagt alles: Verbot von anderen Entscheidungen als denen der „Gemeinschaft“; und vor allem „Schicksal“ vor menschlichem Willen.

Nebenbei bemerkt nennt sich die höchste von der Europäischen Union verliehene Auszeichnung „Karlspreis“. Eine vielsagende Namenswahl hinsichtlich der imperialen Ambitionen dieser „Konstruktion“, die seit der Nachkriegszeit aktiv von Washington gefördert wurde.

Gewiss hat dieser Wille zur Wiedergewinnung der kollektiven politischen Freiheit – der juristische Begriff dafür lautet „Souveränität“, eine Konzeption, die oft läppisch verzerrt wird, in Wahrheit aber den eigentlichen Rahmen wirklicher Demokratie darstellt, - meist mehr mit kollektiven Bestrebungen als mit einer ausdrücklichen Motivation des einzelnen Bürgers zu tun. Allerdings haben die britischen Wähler sicher nicht vergessen, wie das französische Nein zum Europäischen Verfassungsvertrag mit Füßen getreten wurde, und in welch erniedrigender Art die Irländer behandelt wurden, als man von ihnen verlangte, ihre Stimmabgabe zu wiederholen, weil sie zunächst nicht die richtige Antwort gegeben hatten.

Eine derartige Unanständigkeit verfängt bei den Engländern überhaupt nicht. Sie haben soeben eine einfache Botschaft vermittelt: Wir können rausgehen. Eins ist als Folge davon gewiss: Die Europäische Union ist tot. Unbekannt sind nur die Form und der Verlauf der Agonie.

Mit dem Fall der Mauer in Berlin 1989 wurde eine Ära eröffnet, in der die westlichen Führungskräfte gehofft haben, ihre Herrschaft auf die ganze Welt zu erstrecken, den Völkern ihre Freiheit zu entziehen und die Gelegenheit zu nutzen, um wirklich beispiellose soziale Rückschritte durchzusetzen.

Was daraus folgt, ist noch nicht ausgemacht. Aber am 23. Juni 2016 hat sich eine großartige grundlegende Wandlung der Kräfteverhältnisses abgezeichnet. Alle fortschrittlichen Kräfte sind aufgefordert, die Tragweite zu ermessen. Und den darin liegenden Sinn.

Übersetzung: Klaus v. Raussendorff
Quelle: «Ruptures», Progressive Monatsschrift aus Frankreich (ruptures-presse.fr/brexit-union-europeenne-morte)



Nachwort des Übersetzers:

Die Obduktion der hirntoten Europäischen Union enthüllt als Todesursache einen angeborenen Konstruktionsfehlers: Die Restauration des monarchischen Prinzips in Gestalt der Europäischen Kommission. In kommissionseigener Selbstdarstellung lautet dieser Befund wie folgt: „Die Europäische Kommission ist die politisch unabhängige Exekutive der EU (Hervorhebung im Original/KvR). Sie ist allein zuständig für die Erarbeitung von Vorschlägen für neue europäische Rechtsvorschriften und setzt die Beschlüsse des Europäischen Parlaments und des Rates der EU um.“
(http://europa.eu/about-eu/institutions-bodies/european-commission/index_de.htm ) Die autokratische Konstruktion dient dem im vorstehenden Artikel treffend festgestellten Zweck, den Staatsvölkern der Mitgliedsländer „die Freiheit der Selbstbestimmung in den großen Entscheidungen über ihre Zukunft zu entziehen.“

Die behauptete politische Unabhängigkeit der Kommission besteht nur insofern, als sie nicht an ein von der Öffentlichkeit durchschaubares Verfahren gebunden ist, das es einzelnen, mehreren oder allen Mitgliedsregierungen gemeinsam ermöglicht, ihre Interessen und Vorstellungen in den Entscheidungsprozess für jedermann erkennbar unter dem eigenen Namen einzubringen. Unabhängig ist sie nur von einem Verfahren, das in internationalen Organisationen wie beispielsweise den Vereinten Nationen, die auf dem Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten beruhen, zumindest in der Theorie die Regel ist. In der EU sind Gesetzesinitiativen als ordentliche Entschließungsanträge von Mitgliedsregierungen geradezu verboten. Der Rat, das Organ der Mitgliedsregierungen, darf die Kommission nur „auffordern, die nach seiner Ansicht zur Verwirklichung der gemeinsamen Ziele geeigneten Untersuchungen vorzunehmen und ihm entsprechende Vorschläge zu unterbreiten“ (Art. 152 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft).

Bei diesem ausschließlichen Vorschlagsrecht der Kommission besteht die behauptete Unabhängigkeit selbstverständlich nicht gegenüber Europas mächtigsten Kapitalgruppen und ihren Regierungen. So haben diese Kräfte bei allen grundlegenden Entscheidungen (Gemeinsamer Binnenmarkt, Währungsunion, Sparpolitik etc.) der Kommission mit Memoranden und vorformulierten Gesetzesentwürfen geradezu diktiert, was zu tun. Diese EU-typische Einflussnahme durch die Hintertür hat eine gravierende Konsequenz. Sie begünstigt die mächtigsten Mitgliedsländer, darunter vor allem Deutschland. Die Dominanz des deutschen Kapitals und seiner Regierung wird durch das verfahrenstechnische Prinzip der abgestützt. So wird, statt der kapitalistischen Tendenz der ungleichen Entwicklung administrativ entgegenzuwirken, das Auseinanderdriften der Mitgliedsländer auch noch institutionell verstärkt. Die ursprünglich einmal propagierte gleichmäßige Entwicklung der Länder und Regionen der Gemeinschaft musste längst aufgegeben werden.

Ironischer Weise wird aber das, was in Wirklichkeit der Konstruktionsfehler des „Europäischen Aufbauwerks“ ist, von den Engagiertesten unter den „Europäern“ berechnend oder blauäugig als die geniale Innovation im Sinne einer friedlichen Nachkriegsentwicklung gepriesen. Andererseits wird von jenen, die „Brüssel“ zwar kritisieren aber für reformierbar halten, völlig ignoriert, dass die monströse supranationale Einzigartigkeit der EU der Treibsatz für Auseinanderbrechen und tödliches Siechtum ist. Da sich an beiden Tendenzen in der „deutschen“ Haltung zu „Europa“ so schnell nichts ändern dürfte, bietet sich wohl erst mit dem weiterem Fortschreiten des Desintegrationsprozesses die Chance einer konstruktiven Diskussion über den konsequenten Abriss der europäischen Fehlkonstruktion und die Gestaltung einer neuen europäischen Architektur unter Einschluss von Russland.

Online-Flyer Nr. 568  vom 29.06.2016

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