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Literatur
Harry Popow: „Im Stillen Park der untoten Seelen. Tamaras Notizen...“
Gruftgeflüster
Buchtipp von Elke Bauer

Im schier unübersichtlichen Blätterwald bundesrepublikanischen Literaturbetriebes ist mir ein Buch aufgefallen, das in seiner Authentizität und beeindruckenden Aussage etwas Besonderes in Form und Inhalt darstellt. Der Erzähler Henry Petrow stellt Tagebuch und Briefwechsel seiner Mutter Tamara vor. Mit seinem Rückblick auch auf sein eigenes Leben können Leser ein authentisches Erinnerungsbuch an die DDR entdecken. Besonders im zweiten Teil “Was Tamara nicht erleben musste“ werden die Aussagen über die gesellschaftlichen Ereignisse, besonders die politischen Verhältnisse der Nachwende weitergeführt, in dem Sinne, dass sie für Tamara erschreckend wären und in keiner Weise zu ihren Träumen gehörten.

Mut machen durch eigene Stärke

Henry ist im Jahre 2016 selbst schon in dem Alter, in dem der Mensch Erinnerungen pflegt, diese bewertet und aus den Hinterlassenschaften ans Tageslicht fördert. Es sind für ihn belangvolle Rückblicke, die auch für die Nachkommenden Bedeutung haben können.

Er lädt die Leser ein, Tamara Petrowna näher kennenzulernen. Ihre Tagebuchaufzeichnungen beginnen in den 30iger Jahren des 20.Jahrhunderts. Wir bedenken das Leben des klugen, empfindsamen Moskauer Mädchens mit. Es zeigt sich so erfrischend anders als uns in manchen damaligen Lebensläufen aus dem Russischen nahegelegt wurde. In ihrem Tagebuch ist ihre Jugend nachzuvollziehen, die sie als behütete Tochter eines Fabrikdirektors in der russischen Hauptstadt und den verschiedenen Arbeitsorten des Vaters im In- und Ausland verbringt. In ihren Moskauer Jugendjahren ist sie in den Theatern und Museen, aber auch in den Tanzlokalen und kleinen Cafes zu Hause. Sie vertraut ihrem Tagebuch ihre große Kunstbegeisterung ebenso wie ihre Liebe zur Natur und zur Heimatstadt Moskau an. Sie genießt die Verehrung der jungen Männer in ihrem Freundeskreis und ist immer auf der Suche nach der großen Liebe. Sie bekennt zarte Liebesgeschichten, doch ihren jugendlichen Verehrern gegenüber ist sie sehr skeptisch, die sind ihr alle zu oberflächlich. Sie findet ihre große Liebe mit dem deutschen Ingenieur Eric, dem sie 1935 im Alter von zwanzig Jahren in das faschistische Deutschland folgt. Wir erleben mit ihr das schwierige Eingewöhnen in die fremde Kultur und die ihr fremd bleibenden deutschen Familienbeziehungen der ersten Jahre.

Nach der Trennung von ihrem Mann 1949, welcher ihr nie die seelische Heimat gab, die sie erwartete, ist sie mit ihren vier Kindern auf sich allein gestellt. Sie bemüht sich, hauptsächlich als Dolmetscherin und Beraterin beim Bau des Ehrenmals in Berlin-Treptow, bei der Wismut in Schwarzenberg/Erzgebirge, als Russischdozentin für führende Wirtschaftskader und an anderen Arbeitsstellen, ihre Lebensvorstellungen aktiv zu verwirklichen und ihre Kinder zu befähigten Menschen heranzubilden. Dabei ist sie immer die rührend besorgte Mutter, die ihre Kinder liebevoll ins Leben begleitet, an ihren Erfolgen Anteil nimmt und ihnen Mut macht durch ihre eigene Stärke.

Das Alleinsein ohne Partner fällt ihr schwer. Ihre Beziehungen, die sie im späteren Leben hat, kann sie nicht festigen und so bleibt sie letztlich allein. Ihre Sehnsüchte nach vielen Reisen kann sie sich nicht erfüllen. Arbeit, Kinder und mangelnde finanzielle Möglichkeiten zwingen sie, in Büchern kennenzulernen, was sie gerne im Original gesehen hätte. Die Bücher Tschechows und anderer großer Erzähler, die Werke solcher ausdrucksstarken Maler wie Hieronymus Bosch, Jan Vermeer van Delft und des Russen Lewitan sowie klassische Musik bleiben in ihrer geistigen Welt bestimmend. Sie teilt sich dem Sohn und Offizier Henry mit, seiner klugen und tapferen Frau, genannt Cleo, und ihren Enkeln. So liest man mit Schmunzeln Briefe der Enkel an ihre Großmutter.

Weg der Bedrängnisse

Wir gehen mit ihr, wieder sehr berührend, nicht sentimental, den Weg der Bedrängnisse, der zunehmenden Krankheiten, Geldnöte und immer stärker werdenden Einsamkeit. Sie erkennt die Gefahr, die mit Erstarken des Kapitalismus im westdeutschen Nachkriegsdeutschland heraufzieht, kritisiert auch die steigende Konsumorientierung mancher DDR-Bürger. Diesem kritischem und stets aktivem Geist folgend, setzt Sohn Henry ihre ausgesprochen hohen Ansprüche an die Gesellschaft und an sich selbst in seinem Leben in die Tat um.

Als ihr Leben zu Ende geht, ist sie traurig über die Weltlage nach 1980, über ihre Einsamkeit - in dem Bewusstsein, nie ganz in Deutschland angekommen zu sein. Das ist die besondere Tragik ihres Lebens. Ihre Träume und ungeweinten Tränen sind zurecht überliefert, weil sie so authentisch sind.

So, wie der Erzähler den Regungen der individuellen Seelen nachgeht, so will er eine größere Sicht auf die „untoten Seelen“ richten, derer im Treptower Ehrenmal gedacht wird. Sie werden nicht untergehen, auch wenn ihre Körper schon in der Krypta vergangen sind. Der Stolz auf Mutter Tamara, die im Mosaik-Fries in der Krypta als Tröstende und Helfende abgebildet ist, wird immer in ihm fortleben. Deshalb arbeitet er im Buch leise und beharrlich die Forderungen Tamaras und der „untoten Seelen“ nach einem menschlichen, von Kriegen befreiten Leben, heraus. Es ist das Bedürfnis des Erzählers, die Seele der Tamara den erwachsenen Kindern, den Enkeln und den Lesern zu offenbaren. Er will ihr Bemühen um wahre menschliche Werte im Gegensatz zu Bestrebungen für Besitzstände und Äußerlichkeiten, die sie auch in der DDR erkannte, darstellen.

Immer gefährlicher: die Herrschaft des Kapitals über die Völker

So ist es kein Wunder, dass Sohn Henry im zweiten Teil „Was Tamara nicht mehr erleben musste“ in die heutigen politischen Debatten die progressiven Ideen bedeutender Persönlichkeiten und Philosophen wirft und vehement verteidigt. So nennt er Platon und Thomas Morus mit ihren Gedanken über Arm und Reich in der Gesellschaft. Die Erkenntnis der immer gefährlicheren Herrschaft des Kapitals über die Völker ist für ihn die Fortsetzung des „Sehens“ und die Zukunftsangst seine Mutter Tamara. Er benennt die Kämpfe unserer Gegenwart und die Enttäuschung unserer Zeitgenossen bei den sich anbahnenden globalen Katastrophen.

Er weist in den Schriften seiner Bloggerseiten, die er im oben genannten zweiten Teil anführt, auf die Manipulierung vieler Zeitgenossen zu Nur-Besitzanbetern, die mitunter den Sinn des Lebens aus dem Auge verlieren, die DDR-Vergangenheit – ganz im Sinne der Kapitalclique – verteufeln und sich ganz und gar marktkonform angepasst haben und von Politik nichts mehr wissen wollen. Solchen Mitläufern, die nach Goethe …nichts Besseres an Sonn – und Feiertagen wissen, als ein Gespräch von Krieg – und Kriegsgeschrei, wenn hinten weit in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen…

Der Autor will damit auch das weitverbreitete Desinteresse am politischen Geschehen bei vielen Bürgern anprangern, will aufrütteln. Er geht mit denen ins Gericht, deren Träume das Erreichen möglichst hoher Stufen des Wohllebens sind, die für die vielen Flüchtlinge (wer hat sie verursacht?) Zäune aufstellen, damit ihre „Kreise nicht gestört“ werden.

Aus dem Flüstern in der Gruft, auch mit der Stimme Tamaras, vermeint er ein immer lauteres Stöhnen zu vernehmen. Es sind die Stimmen der Opfer des zweiten Weltkriegs und aller Kriege, die davor warnen, die Verursacher von immer neuen Verbrechen, von weiterer ökonomischer Verelendung ganzer Völker nicht ernst genug zu nehmen, ihnen keine Gegenwehr entgegenzusetzen.

Vorurteilsfreier Rückblick auf das Leben in der DDR

So gibt uns das Buch einen vorurteilsfreien Rückblick auf das Leben in der DDR, nicht ohne die Schwächen dieses Lebens erkennen zu lassen. Trotzdem ist es eine lebenswerte Epoche für viele gewesen und weist auf die Notwendigkeit der Schaffung eines lebenswerten Geschicks für alle Menschen hin. Mag für alle Nachdenklichen die Frage aufkommen: “Wie hast Du Dein bisheriges Leben gemeistert?“ Der Text vermittelt die Erkenntnis, dass ohne Spurensicherung, die Vergangenheit betreffend, kein sicherer Weg in die Zukunft führt.

Das Buch stellt an den Leser einen hohen Anspruch an das Mitdenken, verzichtet aber nicht auf den Unterhaltungswert der vielen locker geschilderten Erlebnisse. Auch möchte ich auf die Fotodokumente hinweisen, die zeigen, wie authentisch die schriftlichen Einlassungen sind und so zum besseren Verständnis der Zusammenhänge der geschilderten Fakten beitragen, sie noch besser emotional erlebbar machen. Es ist ein Verdienst des AAVAA Verlages, dieses in der Form etwas ungewöhnliche, im Inhalt zutiefst humanistische Buch herauszubringen.




Harry Popow: „Im Stillen Park der untoten Seelen. Tamaras Notizen – auf der Spur von Träumen und ungeweinten Tränen.“ AAVAA Verlag, 1. Auflage 2016, Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag, Coverbild: Harry Popow, 335 Seiten, Taschenbuch, ISBN: 978-3-8459-1956-0, Preis: 11,95 EURO, Hohen Neuendorf bei Berlin, www.aavaa-verlag.com / Bücher-Shop: www.aavaa.de, ab 1. Juni 2016 im Buchhandel
     
Zur Rezensentin: Elke Bauer, geb. 1939, Bibliothekarin an allgemeinbildenden Bibliotheken der DDR / Fachschule für Bibliothekare Leipzig 1961, Diplomkulturwissenschaftler / Universität Leipzig 1970, Bibliothekarin in leitender Funktion bis 1991, Aufbau einer eigenen Buchhandlung, selbstständige Buchhändlerin 1991 bis 2001, Rentnerin, seit 2011 in München lebend.


Online-Flyer Nr. 561  vom 11.05.2016

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