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Kultur und Wissen
Eine unerwünschte Recherche
Ein Denkmal für Ludwig Schneller in Köln?
Von Udo W. Hombach

Der Autor Udo W. Hombach befaßt sich mit kirchenkunsthistorischen Studien und Mosaiken und publiziert über wilhelminische Kirchen und ihre Mosaiken, vor allem in Gerolstein/Eifel und Jerusalem. Seit 2011 ist er mit den Mosaiken am Schneller-Altar in Jerusalem befasst. Im folgenden Beitrag, einem Erfahrungsbericht, kommt er zu dem Ergebnis, dass Überlegungen, Ludwig Schneller (1858-1953, Sohn des Gründers des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem, Johann Ludwig Schneller) in Köln ein Denkmal zu errichten, der Revision bedürfen. Anlass dazu geben antisemitische Veröffentlichungen des Theologen und Pfarrers: „Ich kenne Juden, vor denen ich den Hut tief abziehe, und die für viele sogenannte Christen ein Vorbild sein könnten. Aber diese vortrefflichen Persönlichkeiten sind leider nicht maßgebend. Aufs Große und Ganze gesehen ist das ‚Hervorströmen der geistigen Kraft des Judentums‘ für die Völker leider kein Segen, sondern ein Fluch“. („Die Lösung der Judenfrage“, 1920 veröffentlicht in Elberfeld, 1924 in Nürnberg) In derselben Schrift stellt er die Abstammungs- und Rassenfrage über Weltanschauungsfragen: „In München ging es unter der Führung des Juden Kurt Eisner wie in einer Hölle zu. In Berlin hatten in der neuen Revolutionsregierung die Juden das Heft in den Händen und richteten Deutschland völlig zugrunde. Beim Aufstand im Ruhrgebiet waren Juden an der Spitze.“ (Die Redaktion)

    vielleicht dass die vögel
    die erweiterte Luft
    mit innigerem Flug
    Fühlen

    Spruch (wahrscheinlich eines oder einer Jugendlichen) in schwarzer Schreibschrift auf einer weißen Fliese, gefunden auf der Gesangbuchablage der zweitletzten Bank links in der Sophienkirche Berlin beim Jahresfest des Jerusalemsvereins am Sonntag Estomihi, den 7. Februar 2016 (Schreibweise original); entlehnt den Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke

Die Vorgeschichte

Ludwig Schneller starb 1953. Auf dem Südfriedhof in Köln-Zollstock beerdigt, wurde 2007 sein Grab eingeebnet. Er ist nach seinem Vater Johann Ludwig Schneller, dem Gründer des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem, wohl der bedeutendste Vertreter der Familie Schneller. Trotzdem ist er der einzige Schneller, an den weder ein Grab- noch ein Gedenkstein mehr erinnert.

Im November 2011 konnte ich mithilfe von Dr. Martin Bock, dem Leiter der Melanchthon-Akademie, in der Trinitatiskirche in Köln im Anschluss an eine musikalische Vesper eine kleine Veranstaltung machen, deren Anlass das einhundertjährige Bestehen der zweiten Kapelle im Syrischen Waisenhaus samt ihrem Altar und dessen Mosaikschmuck gewesen war. Ludwig Schneller war von 1890 bis 1907 Pfarrer an der Trinitatiskirche (U. Hombach, Düsseldorf 2012; U. W. Hombach, Köln 2015).

Idee und Aufbruch


Anwesend war auch Pfr. Ulrich Hoffmann, der lange Jahre hindurch für den Schneller-Verein in Köln-Dellbrück gearbeitet hatte. An dem Abend wurde die Idee geboren, Ludwig Schneller ein Gedenkobjekt zu verschaffen. Im November 2014 verschickte ich ein Memorandum „Gedanken zum Gedenken an Ludwig Schneller“. Dabei handelte ich auch noch im Namen und im posthumen Auftrag des leider verstorbenen, einzigartigen Schneller-Forschers Arno G. Krauss.

Bei einer der Schneller-Führungen, die ich 2014/2015 in Köln-Marienburg durchführte, griff der Geschäftsführer des Köln-Bethlehem-Vereins, Michael Kellner, die Idee auf. Immerhin war Ludwig Schneller, bevor er nach Köln kam, sechs Jahre Pfarrer in Bethlehem gewesen. Das Projekt sollte eine der Veranstaltungen werden, mit denen der Verein 2016 sein 20-jähriges Bestehen feiern will. Im August 2015 gründeten wir zu diesem Zweck einen Arbeitskreis, M. Kellner, U. Hoffmann, Bernhard Buddeberg (Enkel und Urenkel von Schatzmeistern des Syrischen Waisenhauses) und ich. Der Schneller-Verein in Stuttgart sagte finanzielle Unterstützung zu. Der „Rheinische Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz“ bzw. sein Regionalverband Köln unter der Leitung der früheren Dombaumeisterin, Frau Prof. Dr. Barbara Schock-Werner, lehnte eine (auch ideelle) Unterstützung ab: Das Projekt sei Angelegenheit des evangelischen Köln.

Einspruch

Wir strebten eine Gedenktafel an der Trinitatiskirche an. Im November 2015 schaltete sich Dr. Bock ein und äußerte Bedenken: Ludwig Schneller habe eine antijudaistische Theologie vertreten und somit den seinerzeit allgemein verbreiteten, gesellschaftlich akzeptierten Antisemitismus gestützt, vor allem auch beim Kaiser, mit dem Ludwig Schneller spätestens seit seiner Teilnahme an der Palästina-Reise Wilhelms II. im Jahre 1898 bis zu dessen Tod engen Umgang pflegte. Ich fragte Dr. Bock schriftlich, ob ich ihn richtig verstanden hätte, und bat gegebenenfalls um eine Korrektur meiner Rezeption seiner Aussage; eine solche erfolgte nicht. Jedoch führte diese Intervention zu erheblichen Irritationen in unserem Arbeitskreis. Denn nach den Äußerungen von Dr. Bock war nun fraglich geworden, ob das evangelische Köln einer Gedenktafel für Ludwig Schneller an der Trinitatiskirche, dem „Protestantischen Dom“, zustimmen können würde. Nun kam es zu Überlegungen, einen Gutachter zu konsultieren.

Die Deutschen Christen

Wir wandten uns an Dr. Jakob Eisler in Stuttgart. Das Ergebnis waren Statements, wonach Ludwig Schneller keine Verstrickung in den Nationalsozialismus vorzuwerfen sei; die Deutschen Christen habe er abgelehnt. Es habe bei ihm einen leichten Antisemitismus gegeben. Der Einwand von Dr. Bock hatte sich aber doch gar nicht auf Ludwig Schneller im Dritten Reich bezogen! Ludwig Schneller hat der Bekennenden Kirche nahegestanden. Allerdings war die Bekennende Kirche wohl „keine Widerstandsbewegung. Die Einführung des ‚Arierparagrafen‘ hatte bis zum Herbst 1933 eine Opposition auf den Plan gerufen, jedoch nur im Raum der Kirche. (…) Im NS-Staat sah sie [die Bekennende Kirche] eine legitime Obrigkeit, der Gehorsam zu leisten war.“ (K. Krampitz 2015)

Meine eigenen Recherchen in Schriften von und über Ludwig Schneller führten mich zu dem Resultat, dass Dr. Bock eigentlich auf der richtigen Fährte gewesen war. Ludwig Schneller schreibt 1935 in „Wie der Kirchenstreit entstand“: „Zu den unchristlichen Übertragungen politischer Maßnahmen auf die Kirche gehört auch die Anwendung des Arierparagraphen auf die evangelische Kirche. Von seiner politischen Seite sprechen wir hier nicht; der vorherrschende jüdische Einfluss musste gebrochen werden [sic!].“

T. M. Schröder, 2011, S. 83, gibt diesem Satz eine andere Richtung: „Deutlich distanzierte sich Schneller von der Einführung des Arierparagraphen in der Kirche, ohne dabei jedoch auf die anderen staatlichen Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung einzugehen.“ Ludwig Schnellers Schrift „Die Lösung der Judenfrage“ erwähnt T. M. Schröder in diesem Aufsatz nicht.

Er verweist jedoch, S. 75 f., auf eine frühere Schrift Ludwig Schnellers und zitiert daraus eine Passage von S. 15: „Klare antisemitische Töne finden wir bei Schneller in seinem [sic!] 1911 veröffentlichten ‚Amerikanische[n] Reisebriefe[n]‘. Dort war ein eigenes Kapitel der Judenfrage in den Vereinigten Staaten gewidmet und Schneller prangerte die weltweite ‚Macht der Juden‘ an. In einem von ihm selber sicherlich so nicht gedachten Blick in die Zukunft warnte Schneller davor, dass es deshalb irgendwann zu einem ‚Aufflammen des allgemeinen Zorns kommen (kann), und die Welt mag dann eine Judenverfolgung erleben, wie sie nur jemals stattgefunden hat.‘“

Weiter mit dem Theologen L. Schneller 1935: „Aber nun sollte – das war einer der ersten Beschlüsse der ‚Deutschen Christen‘ – niemand ein Amt in der Kirche haben dürfen, der irgendwie von Juden abstammt. Aber wenn keine Judenchristen in der Kirche mehr würdig sind, eine führende Stelle einzunehmen, müssten wir da nicht gleich bei unserem Herrn Christus anfangen? (…) Die Übertragung des Arierparagraphen auf die christliche Kirche geht schnurstracks gegen die Heilige Schrift.“

Obwohl Ludwig Schneller den Arierparagraphen außerhalb der Kirche nicht infrage stellte, wurde seine Schrift über die Entstehung des Kirchenstreits „wegen seines aufreizenden Inhaltes beschlagnahmt“, so der Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten an den „Herrn Präsidenten der Reichsschrifttumskammer durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ am 16. Juni 1941. Ludwig Schnellers Position als „Vorstand des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem“ brachte ihm jedoch bei der Reichsschrifttumskammer einen Bonus ein, da er „im Ausland ein Repräsentant des Deutschtums“ sei (Bundesarchiv, Akte R 9361 / V 10911).

„Die Lösung der Judenfrage“

1920 hatte Ludwig Schneller einen Artikel mit dem Titel „Die Lösung der Judenfrage“ veröffentlicht (in Elberfeld). Dieser Artikel wurde 1924 in Nürnberg erneut abgedruckt. Diesen Vorgang erwähnt L. Bormann 2009 und kommentiert ihn im dritten Abschnitt seines Beitrags „Der ‚Stürmer‘ und das evangelische Nürnberg“:

„(…) Der abgedruckte Text von Ludwig Schneller aus dem Jahre 1920 trägt die Überschrift ‚Die Lösung der Judenfrage‘. In diesem Artikel wird die Judenfrage ganz in der Tradition der Besinnungen zum Gedenktag der Zerstörung Jerusalems überwiegend geschichtstheologisch behandelt. Die Ablehnung Jesu habe das ‚Band der Treue‘ zerschnitten und statt Segen nun Fluch über die Juden gebracht. Schneller geht auch auf den Zionismus ein. Dieser verfolge ‚rein völkische Ziele‘, verherrliche das jüdische Volk als das ‚edelste, beste, genialste aller Völker‘ und könne keine Lösung bringen, da er die Diaspora nicht beenden werde. Die tatsächliche Lösung der Judenfrage bestehe hingegen in der Bekehrung Israels, die im Neuen Testament verheißen sei. Die Schriftleitung des Gemeindeblattes ließ diesem Text ‚Leitsätze über das Verhältnis des deutschen Wirtsvolks zu dem jüdischen Gastvolk‘ (…) folgen. Die Leitsätze gehen auf eine Abhandlung aus dem Jahr 1882 zurück und fordern in recht allgemeiner Form, dass den Juden nur Gastrecht, nicht aber das Bürgerrecht zu gewähren sei.“

Juden und Jesus

Ich kann für mich kaum mehr ausschließen, dass Ludwig Schneller den allgemein verbreiteten Antisemitismus teilte. Er konnte aber als oft geradezu schwärmerischer Anhänger des christlichen Glaubens auch nicht die Tatsache leugnen, dass Jesus Jude gewesen war, ebenso wie Paulus und andere Apostel. Diese jüdischen Kronzeugen der vor allem paulinisch geprägten neuen Religion konnte/kann man ja nicht so einfach aus der Geschichte des Christentums entfernen, weil sonst dasselbe sich selbst abschaffen würde. Jesus hat als Jude für Juden gedacht und gewirkt. Andererseits haben die christlichen Konfessionen bis ins 20. Jahrhundert hinein die Bekehrung der Juden zum Christentum, also die Judenmission, sehr wichtig genommen.

Die heutige Bewegung „Juden für Jesus“ empört sich im Februar 2016 in ihrem monatlichen Rundbrief darüber, dass die katholische und die evangelische Kirche die Judenmission aufgegeben haben: „Uns das Evangelium, die einzige Botschaft, die erretten kann, vorzuenthalten, ist möglicherweise eine der anti-jüdischsten Handlungen, die ein ernsthafter Christ gegen uns Juden verüben kann.“

Probleme in Jerusalem

Die folgenden Mitteilungen von David Kroyanker (nach D. Karpel 2008), einem der führenden Stadtplaner und Architekten Israels, scheinen gar nicht mal einen antisemitischen Ludwig Schneller zu bestätigen. Vielmehr berichten sie von einem tatsächlichen Konkurrenzkampf, der sich im Jerusalem der 1930er Jahre abgespielt hat. Das Syrische Waisenhaus geriet durch die zunehmende Einwanderung von Juden aus Europa in Bedrängnis. Diese und die bereits ansässigen hätten ein Auge auf das städtebaulich wertvolle Terrain des Syrischen Waisenhauses geworfen, und die kommunale Steuerpolitik habe es  unter Druck gesetzt:

„In 1938, a booklet published by the Schneller Institution [ohne Quellenangabe] included an article by Ludwig Schneller describing the feeling of suffocation at the German institution due to the proximity of Jews in the surrounding area, and expressing some blatantly anti-Semitic views: ‚The Zionists specifically chose the area of the Syrian Orphanage in Jerusalem … Our institutions are like a remote island in the turbulent sea of Jews. The entire surrounding area, which until now was a rural ar(e)a, is about to be declared an autonomous Jewish suburb. Subsequently, they will definitely gain the ability and the necessary legal means to expel us according to their will. The Jewish Mayor will then have the legal authority to change the rural land tax we paid up to now to an urban tax and to increase it five-fold in this way. He will have the authority if he so wishes to pave a road 42 metres wide in our territory and to appropriate for this purpose, without compensation, the large area required. He will have the legal authority to take all of our territory, which, over 70 years of ongoing work, we have transformed from a desert and hills into splendid gardens and groves, and declare it to be public parks and thus we will no longer have any control over them.‘“

Die Fortsetzung ist aber wohl gegen eine dehnbare Interpretation nicht gefeit: „‚Moreover, these settlements (neighborhoods) of Jews from Eastern Europe are not only full of dirt, but also of a very low moral level, such that their proximity is not fitting for educational institutions. For these reasons, we were compelled to decide, already a few years ago, to retreat from the Jews.‘“

Erwogen wurde – außerhalb der Stadt –, das Syrische Waisenhaus neu aufzubauen, was aber nicht geschah, denn nur ein Jahr später beendeten die Engländer den Betrieb (vgl. R. Löffler 2008, Kap. 5.8 und 5.10).

Liest man bei R. Löffler (Seite 135 f.) nach, wird die Tendenz eindeutiger. Im Kapitel 4.2.4 „Der Palästina-Konflikt aus der Sicht der palästinadeutschen Protestanten“ heißt es: „Während sich also die Pröpste [der Erlöserkirche in Jerusalem] um eine ausgewogene Beurteilung der Veränderungen im Heiligen Land bemühten, stand das Syrische Waisenhaus als Anstalt für arabische Waisenkinder im Palästina-Konflikt auf der Seite der einheimischen Bevölkerung. Nicht nur aus diesem Grund, sondern wohl aufgrund der in konservativen, protestantischen Kreisen verbreiteten Neigung zum Antisemitismus finden sich beim SyrW.-Vorsitzenden und einflussreichen Publizisten Ludwig Schneller derartige Stereotype.“ D. Kroyanker schreibt unter Berufung auf britische Geheimdienstquellen, das Syrische Waisenhaus habe den Arabern Waffen zugespielt. Das ist aber nach R. Löffler eher unwahrscheinlich (2008, S. 331). Dem stimme ich zu.

Verachtung der „Söhne und Töchter Judas“

Weiter bei R. Löffler: „In einem langen Artikel ‚Vom Zionismus‘ im BaZ [Der Bote aus Zion] (36. Jg., Heft 3, 1920, S. 14–24) skizzierte er [L. Schneller] die Judenfrage vom Beginn der Bibel bis zur Gegenwart. In diesem Text wurden Juden als lästig und unbequem bezeichnet, deren erkennbare körperliche Unterschiede sie zum Außenseiter unter den Völkern Europas machten. Im BaZ (29. Jg., Heft 1, 1913) wird auf Seite 1 eine Weihnachtsfeier beschrieben, auf der Knecht Ruprecht die Kinder damit erschreckt, dass er mit einer ‚Fratze des ewigen Juden‘ erschien. (…) Die Bildung eines Judenstaates wurde (…) entschieden abgelehnt (…) Nach den Aussagen des Neuen Testaments habe Jesus selbst über ‚dieses halsstarrige und hartnäckige Volk‘ das gerechte Urteil gesprochen (…) Der BaZ lehnte einen Judenstaat auch deshalb ab, weil er nur durch die Verdrängung der Araber aus ihrem Land möglich werden würde.“ Der Artikel endet „mit den polemischen Fragen: ‚Also die anderen Völker wollen die Juden nicht, die Einwohner und Eigentümer Palästinas wollen sie auch nicht – was soll man mit den Juden anfangen? Wo liegt die Lösung der Judenfrage?‘“

W. E. Heinrichs teilt 2011 mit (S. 32, Anm. 75): „Sehr bezeichnend ist auch ein Bericht Schnellers über die New Yorker Juden im ‚Reformierten Sonntagsblatt‘ (…): ‚Denn die aus den verkommensten Zuständen Osteuropas stammenden Söhne und Töchter Judas (…) bringen soviel Schmutz und widerliche Gewohnheiten mit, daß andere, Reinlichkeit liebende Leute gerne weiterziehen.‘ (Ludwig Schneller ‚Die größte Judenstadt der Welt‘, in: Reformiertes Sonntagsblatt 19 (1909), S. 383).“

Romantisierung von Juden

Vollends Klartext redet W. E. Heinrichs in D. Heinz (Hg.) 2011, S. 31 f.: „Das deutsche Judenbild ist (…) auf das deutlichste ambivalent angelegt. Juden konnten hier zugleich ‚als Heilsbringer und Verderber‘ gesehen werden. Als Heilsbringer waren sie so etwas wie kontraindikatorische Gestalten zur Moderne, als Verderber deren genaues Spiegelbild. Dies versuchte man sogar an ihrem Charakter und ihrem Aussehen zu belegen. (…) Auffallend sympathisch wurden um die Jahrhundertwende orientalische Juden gezeichnet. Diese wurden als Juden typisiert, die, in einem Getto lebend, ihre ursprünglichen Eigenarten im Gegensatz zu den assimilierten, modernen, west- und mitteleuropäischen Juden noch bewahrt hätten (…) So charakterisierte etwa Pastor Ludwig Schneller (…) die ‚Judengestalten in Tunis‘ als nahezu biblische Gestalten:

‚Der Ghetto (in Tunis) bietet eine Fülle von interessanten Bildern. Was dem Fremden vor allem auffällt, das ist die Gestalt der Juden, namentlich der Männer, die sich von dem im Abendlande bekannten Judentypus sehr merklich unterscheiden. Hoch gewachsen, kräftig gebaut, mit männlichen und edlen Gesichtszügen, die von wallenden Bärten eingerahmt sind, haben sie keine Spur von jenen Habichtsnasen und sonstigen unschönen Eigentümlichkeiten, die so oft die dem heimatlichen und orientalischen Boden entfremdeten Juden des Abendlandes entstellen. Vielfach sind es, namentlich bei alten Männern, wahrhaft schöne Gestalten, die uns begegnen, die mit ihren ernsten, gefurchten Angesichtern, den tiefliegenden, unter buschigen Augenbrauen hervorblitzenden Augen, dem dunkelblauen Turban und der antiken, lang herabwallenden Gewandung an einen Jeremia erinnern können. So muss man sich wohl die Juden vorstellen können, die einst in glücklicheren Zeiten in Jerusalem wohnten und mit Schwert und Schild auszogen, ihr Vaterland zu verteidigen. Wer gute und lebenswahre Bilder aus dem Alten und Neuen Testament malen will, der gehe in den Ghetto von Tunis, und er wird Apostel und Propheten finden.‘(…)“ [aus L. Schneller, „Bis zur Sahara. Welt- und kirchengeschichtliche Streifzüge durch Nordafrika“, Leipzig 1905, S. 173]

Heinrichs weiter: „Solche Beschreibungen sind Gegenbilder zu einer modernen Kultur, die verabscheut wurde und als deren Repräsentanten Juden galten. Die moderne jüdische Existenz sei im Gegensatz zur traditionellen zu bedauern: ‚Schade, daß die Juden seit ihrer Emanzipation angefangen haben, die malerische Tracht, der sie jahrhundertelang treu geblieben sind, mit der europäischen zu vertauschen. Dann ist alle Schönheit wie weggezaubert. Nehmt solch eine alttestamentliche Königs- und Prophetengestalt, steckt sie in schwarzen Rock und Hosen und stülpt gar einen spiegelblanken Zylinder darüber, und ihr habt die abgeschmackteste Metamorphose, die ihr euch denken könnt.‘ (…) [Fußnote:] Ebd. S. 174.“

„Ambivalenz“ des Antisemitismus

K. H. Fix zitiert 2011 aus „Hans Meiser: Die evangelische Gemeinde und die Judenfrage“ (S. 99): „Viel wichtiger als die einseitige Betonung des rassischen Gegensatzes erscheint mir das andere, das unser Volk durch die Führerstellung, die sich die Juden auf fast allen Gebieten des öffentlichen Lebens erobert haben, beständig der Gefahr ausgesetzt ist, in seinem geistigen Sein, seinen sittlichen Anschauungen und Denkgewohnheiten, in seiner ganzen Kultur von jüdischer Denkart und Lebensauffassung, von jüdischer Moral und Weltanschauung durchdrungen zu werden.“

Doch unterschied man nach K. H. Fix (S. 29) auch „zwischen ‚gutem‘ und ‚schlechtem‘ Antisemitismus. Ersterer kämpfe zum Wohl Deutschlands gegen den jüdischen Einfluss, letzterer verherrlichte einseitig das nordische Blut. (…) Wenn dagegen die Judenfeindschaft auf das Christentum als aus dem Judentum stammende Religion durchschlug, setzte man sich öffentlich zur Wehr.“

K. H. Fix fasst (S. 17) zusammen: „Staatsfromm und mit theologisch problematischen Argumenten werteten viele protestantische Theologen und Laien die Rassenpolitik des NS-Regimes als rechtmäßiges Handeln einer nach dem Intermezzo der Weimarer Krisendemokratie nun wieder herrschenden guten Obrigkeit.“

Ohne Juden(tum) kein Christentum!

Das weiß der christliche Theologe Ludwig Schneller und denkt innerkirchlich wohl nicht antijudaistisch; dadurch kann er sich deutlich gegen die Deutschen Christen absetzen. Doch unterliegt er ansonsten anscheinend dem antisemitischen Zeitgeist – und das schon lange vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus. Offensichtlich ist es nicht so, wie ich Dr. Bock im November 2015 verstanden hatte, sondern umgekehrt. Nicht eine antijüdische Theologie hat Ludwig Schneller den allgemeinen Antisemitismus fördern lassen. Vielmehr teilte er den politischen Antisemitismus. Der durfte aber innerhalb seines eigenen Christseins nicht gelten, weil er diesem die Grundlage entzogen hätte.

T. M. Schröder (2011) bestätigt meine Vermutung, dass Ludwig Schneller sich sein Leben lang wohl nicht von seinen antisemitischen Artikeln distanziert hat. Immerhin war er, als er seinen Antisemitismus publizierte, zwischen 1909 und 1924, schon um die 60 Jahre alt, also im Vollbesitz seiner geistigen und geistlichen Kräfte. Und 1935 zählte er bereits 77 Jahre, als er den „Arierparagrafen“ politisch positiv kommentierte: „(…) der vorherrschende jüdische Einfluss musste gebrochen werden.“

Insgesamt war Ludwig Schneller politisch konservativ, ein glühend-begeisterter Anhänger der Monarchie. Noch beim Tode Wilhelms II. 1941 beschrieb er ihn als einen Mann, der nichts als durch und durch fromm gewesen wäre, geradezu ein „Christusjünger“. In der Broschüre „Holt doch den Kaiser wieder“ (Leipzig 1933) erhebt er ihn gar zu einer Lichtgestalt. Er glorifiziert den Kaiser als Person, und verklärt dessen frühere Politik in einem märchenhaften Ausmaß als gut und gerecht. Er erhöht ihn zu einem am ersten Weltkrieg unschuldigen Friedensengel.

Zwischen Martin Luther und der SA

Ungefähr 45 Jahre lebte Ludwig Schneller in Köln-Marienburg, nicht weit von der Reformationskirche entfernt. Ist er dort auch „zur Kirche“ gegangen? Hat er vielleicht dort auch mal Gottesdienst gehalten? Immerhin war er Pfarrer – und von Oktober 1933 bis April 1934 hatte die Gemeinde keinen eigenen. Wenn ja, was hat er wohl nach 1933 gepredigt? Im Sinne seiner Schrift „Wie der Kirchenstreit entstand” hätte er sich für getaufte Juden einsetzen müssen.


Gemeindehaus Köln-Marienburg, Haupteingang – Gesamtansicht und Einzelansichten der beiden Portalwangen (Fotos © Udo W. Hombach)

Andererseits war das evangelische Marienburg überwiegend deutsch-christlich gesinnt. Das 1934 eingeweihte Gemeindehaus („Martin Luther Haus“) war im Stile der nationalsozialistischen Auffassung gebaut; sein Architekt Clemens Klotz war bekannt für den Bau von Ordensburgen. An beiden Seiten des Eingangsportals wurden zwei Reliefs in den Stein gemeißelt: links Martin Luther in Mönchskutte mit der Bibel in der linken Hand, neben ihm die Lutherrose; rechts eine männliche  Gestalt in SA-Uniform, neben ihm ein Hakenkreuz im Lorbeerkranz mit Adler. Beide Männer stehen breitbeinig da und halten den rechten Arm schräg nach unten, die Handfläche nach vorn zeigend. Beide Figuren wirken, auch weil überlebensgroß, martialisch. Das „Glaubensportal“ – so der stellvertretende Landesbischof Probst D. Dr. Forstkott bei der Einweihung – sollte dem Eintretenden die Beziehung zwischen Kreuz und Hakenkreuz „sinnfällig“ vor Augen führen. Das Relief des SA-Mannes wurde nach 1945 abgeschlagen, aber nicht bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Beidseitig neben Luther steht zu lesen dessen Spruch: „HIER STEH ICH ICH KANN NICHT ANDERS. GOTT HELFE MIR + AMEN +“; neben dem SA-Mann das Hitler-Zitat: „WENN SO DIE WELT GEGEN UNS STEHT, DANN MÜSSEN WIR UM SO MEHR ZU EINER EINHEIT [sic!] WERDEN.“

Wie mag wohl Ludwig Schnellers Verhältnis zu der ihn umgebenden Deutschen Christenheit konkret gewesen sein? Seine Neffen, in den 1930er-Jahren für die Leitung des Syrischen Waisenhauses vor Ort in Jerusalem verantwortlich, gehörten der NSDAP an – er jedoch nicht (vgl. R. Löffler, 2008, S. 329–334. 348). Wie mag da wohl sein Verhältnis zu seinen Neffen gewesen sein?

Ob Akten aus der NS-Zeit, die nach Arno G. Krauss beim Umzug des Schneller-Vereins Anfang der 1970er-Jahre von Köln-Dellbrück nach Stuttgart entsorgt wurden, Antworten auf diese Fragen hätten geben können? R. Löffler, 2008, S. 33, bestätigt den Verlust der Akten.

Fazit

Ludwig Schneller war mitverantwortlich für den Geist, der das Syrische Waisenhaus prägte. Der Geist der hier wehte, war vor allem patriarchalisch-autoritär und gesellschaftlich traditionalistisch (vgl. R. Löffler, 2008, Kap. 5.12: „Kaisertreue und Antisozialismus“).

Auch stößt man gelegentlich auf Züge von Überheblichkeit. So in der Beurteilung eines geistlichen Hoffnungsträgers des Syrischen Waisenhauses: „Es belegt die kulturelle Arroganz der Schnellers, dass sie dem 2007 verstorbenen Daoud Haddad, der zu einer der prägenden Figuren seiner Kirche im 20. Jahrhundert werden sollte, nur eine ‚mittlere Begabung‘ zuschrieben“ (R. Löffler, 2008, Kap. 5.4.3). In Ludwig Schnellers Schrift von 1937 „Das Böse Alte Testament“ wird die rumänische Königin Elisabeth so von oben herab belehrt, als sei sie eine Konfirmandin.

Dem Versuch einer Demokratie in Deutschland nach 1918 brachte Ludwig Schneller keine Sympathie entgegen. Und es lässt sich wohl nicht umgehen, ihn auch einen Antisemiten zu nennen.

Könnte man Ludwig Schnellers Antisemitismus unter Berücksichtigung seiner Verdienste um das Syrische Waisenhaus vernachlässigen? Ich selbst sehe mich nicht mehr in der Lage, zur Auflösung dieses Dilemmas beizutragen. Immerhin stehen sich für eine solche Abwägung einerseits ein aus meiner Sicht kritisch zu sehender Ludwig Schneller und andererseits sein Wirken für das große Werk der Familie Schneller in Palästina gegenüber.

Dazu schrieb Martina Waiblinger 2000 unter dem Titel „Was passiert mit dem Syrischen Waisenhaus? Ein israelischer Stadtplaner kämpft um das Schneller-Gelände in Jerusalem“ (S. 18): „ (…) Gil Gordon geht davon aus, dass mit der Ausbildungsarbeit im Syrischen Waisenhaus westliche Kultur in den Nahen Osten gebracht worden sei und führt dabei fünf Punkte an: 1. Das Syrische Waisenhaus war die größte berufliche Erziehungseinrichtung im Nahen Osten. 2. Es war das größte protestantische Ausbildungszentrum. 3. Es gab hier die erste Blindenerziehung in Israel. 4. Es war das einzige Industriegebiet in Jerusalem mit der Produktion von Dachziegeln, Baublöcken und Keramikplatten. 5. Es gab hier die modernste Druckerei Jerusalems, die für die Jerusalemer Bevölkerung Dienstleistungen in fünf Sprachen anbot.” (in: „Schnellermagazin“, 115. Jg., Heft 3, September 2000, 18–20)

Ausführlicher schreibt Gil Gordon selbst in „Die Schneller-Dynastie: drei Generationen protestantischer Missionsarbeit im Orient“ in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte, 111. Jahrgang 2011, S. 105–122.

Die Ergebnisse meiner Recherchen über Ludwig Schneller ließen mich im Februar 2016 Abstand von dem Denkmal-Projekt nehmen. Ich habe gelernt, dass Ludwig Schneller eine Person ist, die ich nicht mehr ohne kritische Distanz sehen kann.


Nachtrag 1: „Die Lösung der Judenfrage“

Erst nachdem ich den vorliegenden Text fertiggestellt hatte, bekam ich „Die Lösung der Judenfrage“ im Original in die Hand. Ludwig Schneller verknüpft darin die völkische Abwertung der Juden mit seiner biblisch-theologisch begründeten Ablehnung derselben:

Die Juden seien vom Beginn ihrer Geschichte an ein Volk gewesen, das von keinem anderen gemocht wurde. Wo sie sich auch niederließen, hätten sie Andere verdrängt, es sei denn, sie wären selbst von mächtigeren Völkern gewaltsam ins Exil geführt worden. Integrierbar seien sie nirgendwo und nimmermehr. Ihr Hauptbestreben sei es, Geld und Profit zu machen, und zwar auf Kosten der nichtjüdischen Bevölkerung.

Die Juden müssten mit der Schuld leben, den Messias getötet zu haben. Erst wenn sie dafür Reue zeigten, Buße tun und Abbitte leisten würden, könnten sie Erlösung finden. Das Christentum wäre danach die Instanz, die den Juden Ablass und Vergebung gewähren könnte. Das sei dann endlich und endgültig die Lösung der Judenfrage.

Hier ein Exzerpt (die Nummerierung der Abschnitte folgt dem Original):

„Die Judenfrage ist genau so alt wie die Juden selbst. Kaum waren die Juden ein Volk geworden, so trat auch schon die Judenfrage auf. Denn wo immer die Juden mit anderen Völkern in Berührung kamen, wurden sie diesen lästig und unbequem.“
  1. „Der erste, der die Lösung der Judenfrage versucht hat, ist der König Pharao. Israel war ein junges, eben entstandenes Volk. Aber man empfand es in Ägypten als einen störenden, lästigen, ja gefährlichen Fremdkörper. Wahrscheinlich entwickelten sie [die Juden] schon hier ihre allbekannte Fähigkeit, die Reichtümer des Volkes in ihre Hände zu bekommen und so sich eine wirtschaftlich mächtige Stellung zu verschaffen. Das mag aber kein Volk leiden, das Herr im eigenen Hause bleiben will.“

  2. In Kanaan seien die Israeliten von den Philistern besiegt worden. Diese hätten damit geglaubt, „die Judenfrage für immer gelöst zu haben. (...) Aber sie waren im Irrtum. Statt der zerfahrenen Demokratie der zwölf Stämme ging Israel zur Monarchie über“ und unter Saul und David schlugen sie „die Philister für immer auf‘s Haupt“.

  3. Die Assyrer hätten sich um 722 [v. Chr.] der zehn Nordstämme bemächtigt und und sie in die Verbannung geführt. Gut hundert Jahre später sei durch Nebukadnezar „das Volk in die babylonische Gefangenschaft fortgeführt“ worden. Scheinbar gingen sie „ganz im dortigen Volke auf, wie ein Stück Zucker in einem Glase Wasser aufgeht. Nebukadnezar zweifelte keinen Augenblick, daß er die Judenfrage für immer gelöst habe. Aber er war im Irrtum. Als er schon im Grabe lag, tauchte sie wieder auf.“

  4. Die Weltherrschaft des Ostens sei inzwischen an die Perser übergegangen. „Mag sein, daß sich die Juden (...) durch ihren rücksichtslosen Geschäftsgeist und wachsende Kapitalmacht mißliebig gemacht haben, so daß der König Cyrus (...) aus politischer Klugheit die Juden loswerden wollte. (...) Aber den meisten Juden fiel es garnicht ein, [nach Palästina] zurückzukehren. Sie hatten glänzende Geschäfte gemacht, Reichtürner gesammelt, Häuser gebaut, Gärten gepflanzt, da hatte ihnen die Rückkehr in das arme Land wenig Verlockendes”. Nur eine kleine Schar wäre nach Judäa zurückgekehrt und habe „das bescheidene Sonderdasein einer winzigen Religionsgemeinschaft ...“ geführt.

    „Aber schon lange war das Judentum nicht mehr nur auf die Grenzen Palästinas beschränkt. Seit der babylonischen Gefangenschaft hatte es sich mehr und mehr über die ganze Welt verbreitet. Der Handel und seine glänzenden Gewinnmöglichkeiten lockte die Juden hinaus in alle Gegenden der Welt. Mächtige Judenviertel entstanden in den Großstädten des römischen Reiches. Aber auch in den entferntesten Provinzstädten waren sie anzutreffen. Römische Kaiser versuchten durch strenge Befehle, die Welthauptstadt von Juden zu säubern, weil sie niemand mochte und sie wegen ihres Schachergeistes allgemein verhaßt waren. Sie gingen. Aber im Handumdrehen waren sie wieder da. Diese Art von Lösung der Judenfrage war wieder einmal mißlungen.“

    „Religiös verknöcherte das Judentum immer mehr.“ (...) Nur „eine kleine Schar von Getreuen wartete doch auch jetzt noch auf den ‚Trost Israels‘, den Heiland der Welt.“ Doch hätten die Juden, als er kam, „ihren Heiland“ verworfen: „und schlugen Ihn ans Kreuz, weil Er den Anspruch erhob, Gottes Sohn zu sein. Damit zerschnitten sie vollends ganz das Band der Treue, das sie mit Gott verbunden hatte. Von nun an kommt etwas Unstätes, Friedloses, Verbissenes in die Geschichte der Juden. Der einst verheißene Segen schlägt in Fluch um. Wer die Geschichte jener Tage liest, steht wie vor einem dunklen Rätsel. Es ist, als ob das Judenvolk besessen wäre, als ob es damals zum ersten Male den Bolschewismus mit seinen Greueln erfunden hätte, den es 1900 Jahre später über die Welt gebracht hat.“

    130 n. Chr. seien die Juden von den Römern in Palästina fast vollständig vernichtet oder vertrieben worden. „Jetzt endlich schien die Judenfrage wirklich gelöst und zwar gründlich und für immer. Aber es war ein Irrtum. Die Judenfrage kam wieder.“

  5. Bei aller Zerstreuung in alle Welt sei es durch die Bildungsmaßnahmen Jochanaans zu einem religiös-kulturellen Zusammenhalt der Juden über alle Grenzen hinweg gekommen. „Die innere Einheit des jüdischen Volksgeistes war durch die Gründung [der Judenschulen] des Rabbi Jochanaans gerettet.“ Phasen der Verfolgung und Duldung wechselten. Im 19. Jht. hätten die Juden die Nationalität ihres Landes annehmen dürfen. „Die Juden selbst drängten sich dazu, ihr altes Volkstum aufzugeben und in der Menge der anderen Nationen zu verschwinden. Sie wurden namentlich in Westeuropa als Reformjuden Freigeister oder Gottesleugner, sagten sich vom Glauben ihrer Väter los und hielten den Traum eines eigenen Volkstums auf ewige Zeiten für begraben. Jetzt schien die Judenfrage wirklich für immer gelöst zu sein. Aber es war wieder ein Irrtum. Sie konnten in den anderen Völkern nicht aufgehen, so sehr sie es selbst darauf anlegten.“

  6. „Es zeigte sich nämlich, daß der Jude eben trotz allem Jude blieb. Schon körperlich war er ja gezeichnet und unter allen abendländischen Völkern als Fremdling sofort zu erkennen. Und dasselbe war der Fall hinsichtlich seiner ganzen Lebens- und Weltanschauung.“

    Zu Beginn des 20. Jhts. habe sich den Juden die Perspektive „einer nationalen Heimstätte in Palästina“ eröffnet. Vor allem die Zionisten in Osteuropa und in Amerika „feiern in der Rückkehr der Juden ins Gelobte Land die endliche Lösung der Judenfrage.“ Aber: „Wird damit wirklich die Judenfrage endgültig gelöst werden? (...) Auch Jesus, und in seinen Fußstapfen der Apostel Paulus, sehen einen Tag der göttlichen Gnade und Wiederannahme  Israels kommen. Aber Er knüpft ihn an die Bedingung der Bekehrung des Judenvolkes zu seinem Gott und zu seinem einst gekreuzigten Heilande.“

    Doch: „Nie und nimmer ist in den Reden der Zionisten auch nur ein Ton von Buße und Schuldbekenntnis laut geworden, vielmehr nur Selbstverherrlichung, Selbstbeweihräucherung als des edelsten, besten, genialsten aller Völker. Die beiden Hauptmerkmale des Judentums, die einst zur Verwerfung Jesu führten, sind heute noch genau dieselben wie damals. (...) Das zweite Merkmal ist heute wie  damals der glühende Christenhaß,der die Zionisten und talmudtreuen  Juden beseelt. Durch nichts kann sich ein Jude einen so tödlichen Haß seitens seines Volkes zuziehen, als wenn er zum Glauben an Jesus kommt (...)“

    Wäre aber tatsächlich durch eine Heimstätte in Palästina für die Juden „die endgültige Lösung der Judenfrage gefunden (…)? Welch ein Irrtum! Als ob die Änderung des Wohnortes die Judenfrage lösen könnte! (...) Solange sie von Buße und Erkenntnis ihrer Schuld noch so weit wie möglich entfernt sind, solange sie keinen Namen tödlicher hassen als den Namen Jesu, so lange werden sie keinen Frieden finden.“ Allerdings: „(…) die überwiegende Mehrzahl will garnicht  nach Palästina zurück. Sie wollen da bleiben, wo es ihnen gut geht und wo sie glänzende Geschäfte machen können. Solche Reichtümer wie im Abendlande sind in Palästina nie zu holen (...)

  7. „Die Juden stehen noch ganz genau auf dem verkehrten Standpunkte, der sie einst zum verhängnisvollen Bruch mit Jesu geführt hat. Und solange sie davon nicht abgehen, mögen sie ihre Wohnungen verändern, so viel sie wollen, und wenn es selbst das ersehnte Palästina, ja ein wahres Paradies wäre, das ihnen zufiele, es würde damit nur zu den vielen vergeblichen bisherigen ein neuer Versuch zur Lösung der Judenfrage treten, der wie alle seine Vorgänger von vorne herein zum Scheitern verurteilt ist. Die Lösung kann nicht eher eintreten, als bis Israel sich endlich bekehrt. Das aber ist im Neuen Testamente mit aller Bestimmtheit verheißen.“

Nachtrag 2: „Die Lösung der Judenfrage“

Am Gründonnerstag konnte ich den von R. Löffler erwähnten Artikel Ludwig Schnellers „Vom Zionismus“ (vgl. S. 7 oben) im Original einsehen. Dieser besteht im Wesentlichen zunächst in der „Lösung der Judenfrage“; der Text entspricht weitgehend der Druckfassung von 1924.

Im Kapitel 2, „Die anderen Völker und der Zionismus“, steigern sich Hass und auch Häme: „Überall, wo es (...) in der Welt drunter- und drüberging, waren Juden an der Spitze. In Rußland entfesselten sie unter Trotzki und seinen Spießgesellen die wahnwitzige Schreckensherrschaft des Bolschewismus, der Millionen über Millionen von unschuldigen Menschen, und zwar immer zuerst die Besten des Landes, hingemordet hat. In Ungarn errichtete der Jude Bela Khun mit seinen jüdischen Helfern ein wahrhaft teuflisches Schreckensregiment, welches Ströme unschuldigen Bluts vergoß. In München ging es unter der Führung des Juden Kurt Eisner wie in einer Hölle zu. In Berlin hatten in der neuen Revolutionsregierung die Juden das Heft in den Händen und richteten Deutschland völlig zugrunde. Beim Aufstand im Ruhrgebiet waren Juden an der Spitze. In England, Frankreich, den Vereinigten Staaten, die doch den Zionismus in den Sattel gesetzt haben, wurden schleunigst Gesetze erlassen, um diese Länder vor jüdischer Einwanderung und vor dem ‚Hervorströmen der geistigen Kraft des Judentums zum Segen der Menschheit‘ zu schützen.“ Damit zitiert Ludwig Schneller aus der Rede des „‚Jude[n] Dr. Weizmann‘“ bei der Grundsteinlegung der „‚hebräischen Universität‘ auf dem Ölberge“ im Jahr 1918.

Weiter wörtlich: „Es ist gewiß sehr unrecht, alle Juden in einen Topf zu werfen und jeden einzelnen für diese Dinge verantwortlich zu machen. Ich kenne Juden, vor denen ich den Hut tief abziehe, und die für viele sogenannte Christen ein Vorbild sein könnten. Aber diese vortrefflichen Persönlichkeiten sind leider nicht maßgebend. Aufs Große und Ganze gesehen ist das ‚Hervorströmen der geistigen Kraft des Judentums‘ für die Völker leider kein Segen, sondern ein Fluch. Es geht heute eine Flutwelle des Zorns über die Juden durch die ganze Welt wie nie zuvor. Es ist noch gar nicht abzusehen, wie sich die Völker der mehr denn je brennend gewordenen Judenfrage erwehren werden. Wenn der Zionismus wirklich alle Juden nach Palästina ausführen wollte, so würde er den brausenden Beifall der ganzen Welt haben. Man würde ihnen zurufen: ‚Geht, geht, Allah [sic!] segne euch, und bleibt für immer im Osten!‘ Aber daran denken, wie gesagt, die Juden garnicht. Sie wollen an den anderen Völkern ihre Geschäfte machen und nur durch Verpflanzung von einigen Millionen Ostjuden nach Palästina sich ein eigenes Staatswesen schaffen, das ihre politische Macht und ihre Geldherrschaft noch ganz bedeutend stärken würde.“

Im dritten Kapitel, „Die arabische Bevölkerung Palästinas und der Zionismus“, berichtet er von den Straßenkämpfen, die sein Bruder Theodor am Ostersonntag 1920 erlebte, nachdem dieser in der deutsch-evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem den Gottesdienst gehalten hatte. Theodor habe erzählt, dass er unmittelbar nach Verlassen der Kirche mitten in die arabisch-jüdischen Tumulte hineingeraten wäre, die sich unter den Augen des englischen Militärs abgespielt hätten.

Der ganze Aufsatz endet wieder mit Ludwig Schneller wörtlich: „So fängt es an, im arabischen Volke immer gefährlicher gegen die Juden zu gären. Ich fürchte, mit dem Einzuge größerer Judenscharen haben die ruhigen Zeiten für das Heilige Land aufgehört. Also die anderen Völker wollen die Juden nicht, die Einwohner und Eigentümer Palästinas wollen sie auch nicht – was soll man mit den Juden anfangen? Wo liegt die Lösung der Judenfrage?“


Für Unterstützung bei den Recherchen danke ich Axel Jost, Ratingen, und Georg-D. Schaaf, Münster.

Erstveröffentlichung (mit Literaturangaben): Udo W. Hombach: „Ein Denkmal für Ludwig Schneller in Köln?“.  Köln,  3. erweiterte Auflage der Fassung vom 12. März 2016 (2. Mai 2016): http://udo-w-hombach.de/texte/Hombach_(2016_Vers_03).pdf


Nachbemerkung (September 2016)

Ludwig Schneller warf seinen Antisemitismus undifferenziert in einen Topf mit einem kritischen Misstrauen dem Zionismus gegenüber. Als Antizionist sagte er geradezu prophetisch voraus, dass die zionistisch geprägte und gesteuerte Einwanderung der europäischen Juden nach Palästina und die nach 1948 schrittweise erfolgende Okkupation des Landes mit der Verdrängung und Vertreibung der arabischen Einwohner des Landes verbunden sein würden. Die heute noch in Palästina lebenden Araber sind im israelischen Kernland Bürger zweiter Klasse, und in den besetzten Gebieten Gaza und Westbank werden sie malträtiert: im Gaza-Streifen – ohnehin ein riesiges Freiluftgefängnis – durch wiederholte Kriege und im Westjordanland durch ein unerbittlich diskriminierendes Besatzungsregime.



Online-Flyer Nr. 560  vom 04.05.2016

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