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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Globales
Tahir Elci, Vorsitzender der Rechtanwaltskammer Diyarbakir ist tot
Vom türkischen Staat ermordet?
Von Civaka Azad

Der Vorsitzende der Anwaltskammer von Diyarbakir, Rechtsanwalt Tahir Elçi, wurde am 28. November 2015 während einer Pressekonferenz im Stadtteil Sur in Diyarbakir ermordet. Tahir Elci, selbst kurdischer Herkunft, warzeit seines Lebens ein engagierter Kämpfer für die Menschenrechte, eine friedliche Lösung der kurdischen Frage und Verteidiger grundlegender Rechte der kurdischen Bevölkerung in der Türkei. Als Anwalt vertrat er von staatlicher Repression Betroffene vor allem kurdischer und türkischer Herkunft. Die brutale Ermordung unseres geschätzten Kollegen macht uns traurig, betroffen und auch wütend.

Rechtsanwalt Tahir Elci

Quelle: Civaka Azad 

Unmittelbar vor seinem Tod warb Tahir Elçi vor Journalisten für Frieden in der Region: "In diesem Gebiet, das Heimat so vieler Zivilisationen war, wollen wir keine Schüsse, keine Gewalt und keine Operationen“, sagte er, dann fielen Schüsse. Er wurde von einem Geschoss in den Kopf getroffen und verstarb vor Ort. Die Pressekonferenz wurde begleitet von bewaffneten Polizisten, die ebenfalls das Feuer eröffneten. Zwei mutmaßliche Täter flohen durch eine Straße in unmittelbarer Nähe von Polizeibeamten und konnten unbehelligt entkommen. Weitere Anwesende wurden verletzt, nach Angaben des türkischen Innenministeriums sei auch ein Polizist getötet worden. 

Während es sich nach Angaben des Innenministeriums um einen Anschlag auf Polizeibeamte gehandelt haben und unklar sein soll, von welcher Seite die tödlichen Schüsse abgefeuert wurden, gehen die Anwaltskammer von Diyarbakir und die Partei HDP davon aus, dass Tahir Elçi Opfer eines gezielten Mordanschlages geworden ist. 

Wir haben die Repression der letzten Wochen gegen den engagierten Juristen mit zunehmender Sorge verfolgt und bewerten seine Ermordung als Ergebnis einer vom türkischen Staat, den AKP-nahen Medien und den türkischen Ermittlungsbehörden angestachelten Lynchkampagne gegen unseren Kollegen, um ihn schließlich endgültig zum Schweigen zu bringen. 

Mitte Oktober hatte Tahir Elçi in einer politischen Diskussionsrunde des Senders CNN Türk erklärt: „Auch wenn manche Aktionen der PKK Terrorcharakter haben, ist die PKK keine Terrororganisation, sondern eine bewaffnete politische Bewegung, deren politische Forderungen eine große Unterstützung in der Bevölkerung genießen.“ Während solche Äußerungen auch von Politikern der AKP in der Phase des Waffenstillstandes konsequenzlos getätigt wurden, wurde Elçi kurz darauf festgenommen und nur unter Auflagen wieder entlassen. 

Dieses Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden ist Teil der von Staatspräsident Erdoǧan und der AKP für die Parlamentsneuwahlen am 1.11.2015 geschürten Atmosphäre der Eskalation und Gewalt gegen die progressive Partei HDP, prominente kurdische RepräsentantIinnen und die kurdische Bevölkerung. Innerhalb kürzester Zeit wurde Anklage wegen Werbung für eine terroristische Vereinigung mit einer Haftandrohung von 7,5 Jahren erhoben. Parallel wurde Tahir Elci durch die türkische Regierungspartei und ihr nahestehende Medien in den folgenden Wochen zur öffentlichen Zielscheibe. Morddrohungen wurden gegen ihn ausgesprochen. 

Tahir Elçi ist nicht das erste Mal wegen seiner politischen Meinung und seines anwaltlichen Engagements verfolgt worden. Bereits 1993 wurde er mit 15 anderen Kollegen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung festgenommen und war erheblichen Folterungen ausgesetzt. Hintergrund der Festnahme war seine anwaltliche Vertretung in politischen Verfahren vor den Staatssicherheitsgerichten und seine Tätigkeit in der Menschenrechtsarbeit. Im Jahre 2003 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei verurteilt. Das Gericht bewertete die Festnahmen und Folter von Elçi und seinen Kollegen als rechtswidrig und als Verstoß gegen die Europäischen Menschenrechtskonventionen.


Der ermordete Tahir Elçi

Quelle: Civaka Azad  

Bis zu seinem tragischen Tod trat der Anwalt entschlossen gegen die türkische Politik der Unterdrückung und des Krieges gegen die kurdische Bevölkerung ein. Seine brutale Ermordung weckt Erinnerungen an den Staatsterror der 90er Jahre in der Türkei, während dessen zahllose kurdische Intellektuelle und RepräsentantInnen von staatlichen Geheimdiensten und vom Staat erschaffenen Anti-Terrorgruppen ermordet wurden. 

Seit den Bombenanschlägen in Diyarbakir, Suruç und zuletzt in Ankara gegen progressive kurdische und türkische AktivistInnen, sowie den Mordanschlägen auf kurdische PolitikerInnen in den vergangenen Tagen warnen demokratische türkische und kurdische Kräfte vor einer neuen Welle der Gewalt. Dessen ungeachtet führt die

türkische Regierung seit Sommer 2015 einen blutigen Krieg in kurdischen Städten und Regionen gegen die Zivilbevölkerung unter dem Deckmantel des nach dem Wahlsieg der HDP im Juni 2015 wiederentdeckten Gegners PKK. Mit der Aufnahme der Kämpfe sollte die HDP für die Neuwahlen im November 2015 geschwächt werden, um einer Alleinherrschaft der AKP, die sie im Sommer 2015 deutlich verloren hatte, nicht mehr im Wege zu stehen. 

Vor dem Hintergrund dieses so profanen wie offensichtlichen Kalküls der türkischen Regierung und allen voran ihrem Staatspräsidenten Erdoǧan ist eine Verstrickung der türkischen Regierung in die Ermordung von Tahir Elçi nicht fernliegend. Wir unterstützen die Forderungen unserer KollegInnen der International Association of Democratic Lawyers (IADL) und der European Association of Lawyers for Democracy and World Human Rights (ELDH) zur Einrichtung einer unabhängigen internationalen Untersuchungskommission in Zusammenarbeit mit türkischen und kurdischen KollegInnen, um Tahir Elçi und den anderen Opfern des türkischen Staatsterrors Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Wir rufen mit dazu auf, am 10. Dezember 2015 – dem Internationalen Tag der Menschenrechte – vor den türkischen Botschaften und Konsulaten gegen die Politik der Eskalation und Gewalt und für eine umfassende Aufklärung der Umstände des Todes von Tahir Elçi zu demonstrieren. Köln, 30. November 2015 (PK)

 

Civaka Azad ist das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. in Deutschland

 



Online-Flyer Nr. 539  vom 02.12.2015

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