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Globales
Wie die EU es Flüchtlingen auf deutschen Wunsch schwerer machen soll
Der "Hotspot Approach" zur Flüchtlingsabwehr
Von Hans Georg

Der deutsche Innenminister bekräftigt die Forderung nach einem schnellen Aufbau EU-gesteuerter Zentren zur Sammlung von Flüchtlingen in Griechenland und Italien und plädiert für die Errichtung eines weiteren EU-Flüchtlingslagers in der Türkei. In sogenannten Aufnahmezentren sollten etwaige Asylanträge unmittelbar nach dem Eintreffen der Flüchtlinge unter Aufsicht von EU-Behörden geprüft werden, heißt es in einer Erklärung von Thomas de Maizière und seinen Amtskollegen aus Frankreich und Großbritannien vom Wochenende.

Minister Thomas de Maizière offenbar erfolgreich
NRhZ-Archiv
 
Abgelehnte Asylbewerber sind Brüsseler Plänen zufolge umgehend aus den "Aufnahmezentren" abzuschieben ("Hotspot Approach"). Ein Sondertreffen der EU-Innen- und Justizminister am 14. September soll weitere Schritte beschließen. Die Realisierung der Pläne würde die sogenannten Dublin-Verordnungen faktisch wieder in Kraft setzen, die Deutschland der Sorge um Flüchtlinge, die nicht zuletzt durch teils militärische Auslandsoperationen Berlins und der NATO auf die Flucht getrieben wurden, in der Praxis entheben. Parallel schreitet der Aufbau von Hochsicherheitsanlagen an den EU-Außengrenzen voran. Nach Bulgarien und Griechenland schottet sich nun auch Ungarn mit einem mehrere Meter hohen, stacheldrahtbewehrten "Grenzzaun" gegen Flüchtlinge ab - und verhindert damit präventiv deren Weiterreise in die Bundesrepublik.
 
Das "Dublin"-Regime
 
Berlin dringt mit aller Macht auf die Umsetzung neuer EU-Maßnahmen, um künftigen Flüchtlingen die Einreise in die Bundesrepublik faktisch unmöglich zu machen. Dieses Ziel ist nicht neu. Seiner Realisierung dienten ursprünglich die "Dublin-Verordnungen" der EU. Schon in der "Dublin Convention" [1], die am 15. Juni 1990 unterzeichnet wurde und in den ersten zwölf Mitgliedstaaten zum 1. September 1997 in Kraft trat, wurde explizit festgelegt, dass für einen Asylantrag eines ohne die vorgeschriebenen Papiere eingereisten Migranten "der Mitgliedstaat" zuständig sei, "über den er nachweislich eingereist ist". Die EU-Verordnungen "Dublin II" vom 18. Februar 2003 und "Dublin III" vom 29. Juni 2013 schrieben diese Bestimmung fort. Weil die Bundesrepublik seit der EU-Osterweiterung vom 1. Mai 2004 ausschließlich von EU-Mitgliedstaaten umgeben ist, ist die Einreise von außerhalb der EU auf dem Landweg zumindest theoretisch längst nicht mehr möglich. Regierungspolitiker in Berlin beschweren sich allerdings seit geraumer Zeit, "Dublin" funktioniere nicht mehr, weil einerseits die Grenzkontrollen versagten und andererseits die Staaten an der EU-Peripherie - nicht dazu bereit, die Vielzahl an Asylanträgen allein zu bearbeiten - immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland weiterziehen ließen. Neben einer Verschärfung der Grenzkontrollen verlangt die Bundesregierung deshalb Maßnahmen zur Wiederherstellung des "Dublin"-Regimes.
 
NATO-Stacheldraht
 
Eine Verschärfung der Grenzabschottung ist seit geraumer Zeit im Gange. Dies gilt nicht nur für militärische Kontrolltätigkeiten der EU im Mittelmeer [2], sondern auch für die Hochrüstung der Landgrenzen. Griechenland hat bereits im Herbst 2012 entlang seiner Grenze zur Türkei einen drei Meter hohen, stacheldrahtbewehrten Hochsicherheits-"Grenzzaun" fertiggestellt, der Flüchtlingen dort die Einreise in die EU auf dem Landweg unmöglich machte. Wenig später begann Bulgarien, an seiner Grenze zur Türkei ebenfalls einen drei Meter hohen "Grenzzaun" mit messerscharfem NATO-Stacheldraht zu bauen. Die Abschottungsanlage wird gegenwärtig verlängert und soll perspektivisch die gesamte Grenze zur Türkei abdecken. Ergänzend hat Sofia letzte Woche seine Armee an die Grenze entsandt, um etwaige Flüchtlinge abzuwehren. Ungarn zieht nach, hat am Wochenende die provisorische Stacheldrahtabschottung seiner Grenze zu Serbien abgeschlossen und wird im Herbst ebenfalls einen mehrere Meter hohen Stacheldraht-"Grenzzaun" fertigstellen. Zudem soll auch in Ungarn das Militär die Grenze überwachen. Budapest will Flüchtlinge in einem 60 Meter breiten Streifen entlang der Grenze festsetzen, bis ihr Asylverfahren abgeschlossen ist. Illegaler Grenzübertritt soll künftig mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Damit unterbindet die ungarische Regierung zugleich die Weiterreise von Flüchtlingen in die Bundesrepublik.
 
Flüchtlingszentren
 
Weil selbst die quasimilitärische Befestigung der EU-Außengrenzen mutmaßlich nicht ausreichen wird, um die unerwünschte Einreise von Flüchtlingen umfassend zu verhindern, dringt Berlin nun mit aller Macht auf die Errichtung sogenannter Aufnahmezentren ("Reception Centres") in EU-Randstaaten und in angrenzenden Ländern. In ihnen sollen im Idealfall sämtliche Flüchtlinge sofort nach ihrer Einreise versammelt werden, um sie einem vereinheitlichten Kontrollmechanismus zu unterziehen. Im aktuellen EU-Jargon ist von einem "Hotspot-Ansatz" die Rede. Er soll in Schwerpunktgebieten der Ankunft von Flüchtlingen in der EU angewandt werden. Die detaillierten Modalitäten können einem Brief von EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos vom 15. Juli an die Regierungen der Mitgliedstaaten entnommen werden. Demnach wird Brüssel in Zukunft "EU Regional Task Forces" (EURTF) bilden, die von Personal der einschlägigen, in den letzten Jahren systematisch aufgebauten EU-Behörden bestückt werden - von der Abschottungsagentur "Frontex" (gegründet 2004), dem "European Asylum Support Office" (EASO, gegründet 2010) und der EU-Polizeibehörde "Europol" (gegründet 1999). Die EURTF sollen jeweils in Flüchtlingslagern eingesetzt werden und, wie es offiziell heißt, die Behörden des jeweiligen EU-Staats "unterstützen". Faktisch kontrollieren sie zugleich dessen hoheitliche Tätigkeit.
 
Identifizieren, registrieren, abschieben
 
Wie die EURTF im Rahmen des "Hotspot-Ansatzes" verfahren werden, lässt sich einem Anhang zu Avramopoulos' Brief entnehmen. Demnach sollen die ankommenden Flüchtlinge zunächst einem medizinischen "Screening" und dann einem Prozess der "Identifizierung" und "Registrierung" unterzogen werden. Nach Möglichkeit folgt ein "Debriefing" - eine behördliche Befragung vor allem über Fluchtrouten und Fluchthelfer. Wer sich der Entnahme von Fingerabdrücken verweigert, kann inhaftiert oder gar abgeschoben werden. Es folgt ein "Dublin Check", mit dem offiziell festgestellt wird, ob der Einreisestaat für ein Asylverfahren zuständig ist. Ein "beschleunigtes Verfahren" soll gegebenenfalls eine rasche Abschiebung ermöglichen.[3] Die deutschen Behörden würden damit weitestgehend entlastet. Berlin macht entsprechend Druck. "Wir können keine Verzögerungen akzeptieren", erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits am vergangenen Montag anlässlich eines Treffens mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande.[4] Die "Aufnahmezentren" müssten noch in diesem Jahr die Arbeit aufnehmen, verlangte auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière an diesem Wochenende nach einem Treffen mit seinen Amtskollegen aus Frankreich und Großbritannien. Ein erstes "Reception Centre" befindet sich im italienischen Catania (Sizilien) bereits im Aufbau; ein zweites im griechischen Piräus ist geplant.
 

Quelle:http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59186

 
Vorgeschobene Lager
 
Innenminister de Maizière plädiert dafür, vergleichbare Einrichtungen auch außerhalb der EU zu etablieren. Entsprechende Pläne hatte bereits im Jahr 2004 der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) verfolgt und vor allem dafür geworben, Flüchtlingslager in Libyen zu errichten.[5] Daraus ist nichts geworden, und nach dem Zerfall Libyens, den die NATO 2011 mit ihrem Krieg zum Sturz von Muammar al Gaddafi einleitete, ist das Land zum unkontrollierbaren Haupt-Transitland von Flüchtlingen geworden.[6] Auch das Vorhaben der EU, die Immigration aus Westafrika über ein Anwerbezentrum für Arbeitskräfte in Mali zu steuern [7], ist schon vor Jahren gescheitert. In diesen Tagen wird erneut über eine solche Einrichtung debattiert; sie soll in Niger aufgebaut werden. Experten geben sich skeptisch: Ein Anwerbezentrum in Niger werde die Flucht über das Mittelmeer nicht aufhalten, solange die libyschen Grenzen nicht abgeschottet werden könnten, urteilen Beobachter.[8]
 
In der Türkei
 
De Maizière spricht sich daher für den Aufbau eines EU-finanzierten Flüchtlingszentrums in der Türkei aus. Zwar leiste das Land mit seinen Flüchtlingslagern "an der Grenze zu Syrien" viel, erklärt der Bundesinnenminister; tatsächlich gewährt Ankara zurzeit fast zwei Millionen Syrern Schutz. Allerdings warteten "in der Gegend von Izmir ... viele, viele tausend Menschen, vielleicht Hunderttausende auf ihre Ausreise nach Europa", behauptete de Maizière Ende vergangener Woche in einem Interview [9]: "Auch dort - glaube ich - muss gegebenenfalls ein großes Flüchtlingslager gebaut werden, um von dort dann zu entscheiden, wer nach Europa kommen kann". Dass bei derartigen Entscheidungen nicht humanitäre, sondern ökonomische Motive den Ausschlag geben, lassen Äußerungen aus unterschiedlichen Spektren des deutschen Establishments vermuten. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.(PK)
 
Mehr zum Thema: Die Flüchtlings-Todesregion Nr. 1, Krieg gegen Flüchtlinge, Krieg gegen Flüchtlinge (II), Zu Gast bei Freunden, Auf die Flucht getrieben (I), Gezielt ausgehungert, Zu Gast bei Freunden (II), Auf die Flucht getrieben (II), Auf die Flucht getrieben (III) und Auf die Flucht getrieben (IV).
PK
 
 
[1] Vollständige Bezeichnung: "Dublin Convention determining the State responsible for examining applications for asylum lodged in one of the Member States of the European Communities".
[2] S. dazu Krieg gegen Flüchtlinge.
[3] Der Anhang zu Avramopoulos' Brief ist von der Bürgerrechtsorganisation Statewatch veröffentlicht worden. german-foreign-policy.com dokumentiert einen Ausschnitt.
[4] Pressestatements von Bundeskanzlerin Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Hollande vor ihrem Gespräch am 24. August 2015 in Berlin.
[5] S. dazu Festung und Lagerspezialisten.
[6] S. dazu Vom Westen befreit (II) und Krieg gegen Flüchtlinge (II).
[7] S. dazu Rekrutierungsbüro.
[8] Eckart Lohse: Agadez statt Heidenau. Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.08.2015.
[9] Kirsten Ripper: Thomas de Maizière fordert EU-Auffanglager für Flüchtlinge in der Türkei. de.euronews.com 28.08.2015.
 
 
Diesen Artikel haben wir mit Dank von german foreign policy übernommen: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59186


Online-Flyer Nr. 526  vom 02.09.2015

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