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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Globales
EU- und USA-Widerstand gegen deutsche Austeritätsdiktate für Athen
Eine verhängnisvolle Alternative
Von Hans Georg

Auch nach der Einführung neuer Austeritätsmaßnahmen in Griechenland dauern die internationalen Proteste gegen die deutschen Spardiktate an. Paris fordert zum wiederholten Male die Schaffung einer Wirtschaftsregierung für die Eurozone, die in der Lage wäre, die krassen Ungleichheiten innerhalb des Währungsgebiets ohne harte Kürzungsprogramme auszutarieren. US-Ökonomen dringen weiterhin auf einen Schuldenschnitt für Athen. Der Vorsitzende des französischen Parti socialiste (PS), Jean-Christophe Cambadélis, warnt, sollte Berlin auch weiterhin "der kontinentalen Solidarität den Rücken" kehren, dann riskiere es, "Europa faktisch vor eine verhängnisvolle Alternative zu stellen": "Für oder gegen Deutschland." In der Tat werden inzwischen erste Aufrufe laut, den Kauf deutscher Waren zu boykottieren; allein so könne man etwas gegen die austeritätsgetriebenen deutschen Exportoffensiven erreichen, die andere Staaten in die Verschuldung drängten, heißt es zur Erklärung. In Griechenland selbst ist gestern die von Berlin und Brüssel erzwungene Erhöhung der Mehrwertsteuer unter anderem auf Grundnahrungsmittel in Kraft getreten. Sie wälzt die gewünschte Steigerung der Staatseinnahmen vor allem auf die ärmeren Bevölkerungsteile ab.
 
Austerität
 
In Griechenland hat am gestrigen Montag die Realisierung der jüngsten deutsch-europäischen Austeritätsdiktate begonnen, denen das griechische Parlament am Mittwoch auf Druck aus Berlin und Brüssel zugestimmt hat. Unter anderem ist die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel und auf bestimmte Dienstleistungen von 13 auf 23 Prozent erhöht worden. Damit werden beispielsweise Reis, Mehl, Nudeln, Zucker, Milchprodukte, Kaffee und Tee deutlich teurer; allein beim Verkauf von Backwaren werden laut offiziellen Berechnungen pro Jahr rund 54 Millionen Euro zusätzlich aus den privaten Haushalten in die Staatskasse abgeführt - sofern die Privathaushalte die höheren Preise zahlen können und der Konsum nicht einbricht. Die Mehrwertsteuererhöhung trifft auch bestimmte Berufszweige, etwa Taxifahrer und Nachhilfelehrer; außerdem werden Anfang August wohl die Preise für den öffentlichen Nahverkehr steigen. Experten sprechen von zusätzlichen Staatseinnahmen in einer Höhe von 800 Millionen Euro bis Ende des Jahres. Ökonomen warnen allerdings, die Maßnahme spüle zwar mehr Geld in den öffentlichen Haushalt, verhindere dadurch aber, dass die weitgehend verarmte griechische Bevölkerung die vom Staat kassierten 800 Millionen Euro anderweitig ausgebe; es sei deshalb mit einer neuen Rezession zu rechnen.[1] Die Erhöhung der Mehrwertsteuer belastet sämtliche Konsumenten in gleicher Höhe und trifft damit faktisch besonders die ärmeren Teile der Bevölkerung.
 
Widerstand abgedrängt
 
Gleichzeitig ist im politischen Betrieb Athens die Entfernung widerständiger Politiker aus den Regierungsparteien in Angriff genommen worden. Insgesamt zehn Minister und stellvertretende Minister haben in den vergangenen Tagen ihr Amt niedergelegt oder sind entlassen worden, weil sie sich den Spardiktaten aus Berlin und Brüssel widersetzten. Der Druck auf die annähernd 40 Parlamentarier aus den Regierungsparteien, die sich dem Austeritätskurs immer noch verweigern, steigt. Deutsche Medien fordern unverhohlen eine "Regierung der nationalen Einheit", in der die kooperationsbereiten Teile der Tsipras-Regierung mit den alten Eliten zusammengingen, deren Parteien in aktuellen Umfragen weit abgeschlagen sind und keinerlei Hoffnung auf eigene demokratische Mehrheiten haben.[2] Schon jetzt ist die Regierung wegen des Widerstands in den eigenen Reihen auf Unterstützung der alten Eliten angewiesen. Auch der Parlamentsbeschluss über die nächsten Sparmaßnahmen, der am heutigen Mittwoch gefällt werden muss, wird, weil zahlreiche Syriza-Abgeordnete ihm wohl nicht zustimmen werden, von einer informellen großen Koalition gefällt werden müssen.
 
Keine demokratische Kontrolle
 
Während der politische Widerstand im griechischen Parlament nach dem "Nein" vom 5. Juli an den Rand gedrängt wird, verpufft zugleich eine neue französische Initiative zur Brechung der deutschen Austeritätsdiktate. Der französische Präsident François Hollande hat am Wochenende eine alte Pariser Forderung aufgegriffen und die Etablierung einer Wirtschaftsregierung für die Eurozone gefordert. Man müsse "die Idee Jacques Delors', eine Regierung der Eurozone einzurichten, wieder aufnehmen und ihr einen eigenen Etat sowie ein Parlament zur Seite stellen, um die demokratische Kontrolle zu sichern", heißt es in einem Namensbeitrag von Hollande, der am Wochenende im Journal du Dimanche erschienen ist.[3] Für eine derartige Wirtschaftsregierung hat sich Paris schon in den frühen 1990er Jahren in den ersten Gesprächen über den Euro ausgesprochen - der Tatsache Rechnung tragend, dass die Mitgliedstaaten der Eurozone ökonomisch beträchtliche Unterschiede aufweisen und ihre Zusammenführung unter einer gemeinsamen Währung ebenso politischer Gestaltung bedarf wie der Zusammenhalt deutscher Bundesländer, eine gewisse Umverteilung inklusive. Allerdings ist Paris damit von Anfang an zunächst an Bonn und dann an Berlin gescheitert; auch jetzt ist die Bundesregierung nicht bereit, dem französischen Vorschlag zu folgen. Das deutsche Gegenmodell basierte stets auf unterschiedloser Austerität; seine Folgen treten nun in Griechenland offen zutage.
 
Kein Schuldenschnitt
 
Einspruch gegen die deutsche Griechenland-Politik kommt weiterhin auch aus den Vereinigten Staaten, die russische Einflussgewinne in einem ökonomisch kollabierenden Griechenland fürchten.[4] So hat der US-Ökonom Jeffrey Sachs, dessen Schocktherapie katastrophale wirtschaftliche Zusammenbrüche im Osteuropa der 1990er Jahre verursacht hatte, in einem aktuellen Medienbeitrag die Washingtoner Forderung nach einem Schuldenschnitt für Athen bekräftigt. "Der größte Teil des Rettungspakets dient allein dazu, Griechenland in die Lage zu versetzen, Schulden zurückzuzahlen", erklärt Sachs; es unterscheide sich darin nicht von den bisherigen "Hilfspaketen", die Griechenland immer weiter in eine tiefe Depression getrieben hätten - "vergleichbar ... mit der in Deutschland während der Regierung des Reichskanzlers Heinrich Brüning von 1930 bis 1932". Ein Gläubiger dürfe einen Schuldner "nicht in den Abgrund treiben", mahnt Sachs: "Wenn die Gläubiger überziehen, dann zerbricht im verschuldeten Staat die Gesellschaft." Ein Schuldenerlass sei deshalb unerlässlich.[5] Der Befund, der von zahlreichen Kritikern in aller Welt geteilt wird, ist im Falle Washingtons auch dadurch motiviert, dass die deutsche Austeritätspolitik im eigenen Land inzwischen Exportoffensiven ermöglicht, die sogar in den USA zu einem hohen, rasch wachsenden Außenhandelsdefizit gegenüber Deutschland führen. Überstiegen die deutschen Einnahmen aus dem Export in die USA die Ausgaben für den Import aus den Vereinigten Staaten im Jahr 2010 um rund 20,5 Milliarden Euro, so erreichte das Außenhandelsplus 2014 bereits fast 47,5 Milliarden Euro - mit weiterhin steigender Tendenz.
 
Für oder gegen Deutschland
 
Als wie ernst die Lage mittlerweile eingeschätzt wird, zeigt ein Offener Brief, den der Vorsitzende der französischen Regierungspartei Parti socialiste (PS), Jean-Christophe Cambadélis, Mitte letzter Woche veröffentlicht hat. Darin konstatiert Cambadélis, in weiten Teilen der EU stoße die Berliner "Dickköpfigkeit" gegenüber Athen, Deutschlands "Unerbittlichkeit", auf Unverständnis. Der PS-Vorsitzende erinnert an die "Solidarität", die Frankreich Deutschland schon kurze Zeit nach den "grauenvollen Verbrechen" gewährt habe, die es im Zweiten Weltkrieg beging. Er erinnert darüber hinaus an die französische Unterstützung für Bonn im Kalten Krieg und später für die Übernahme der DDR. "Frankreich und Europa haben es Deutschland ermöglicht, die Macht zu werden, die es heute ist" - "eine große Macht", fährt Cambadélis fort und warnt: "Wenn Deutschland der kontinentalen Solidarität den Rücken kehrt, riskiert es, auf Unverständnis zu stoßen und Europa faktisch vor eine verhängnisvolle Alternative zu stellen, vor ein schlimmes Referendum - für oder gegen Deutschland."[6] Cambadélis veröffentlichte seinen Offenen Brief unter dem Titel "Lettre à un ami allemand" - eine unverhohlene Anspielung auf die "Lettres à un ami allemand", die Albert Camus ab 1943 im französischen Untergrund publizierte.
 
#boycottgermany
 
Tatsächlich werden mittlerweile wegen des Berliner Vorgehens gegen Athen erste Boykottaufrufe gegen Deutschland laut. Seit einigen Tagen kursiert auf Twitter der Hashtag #boycottgermany, mit dem dazu aufgefordert wird, keine deutschen Produkte mehr zu kaufen. Deutschlands "Achillesferse" seien die immensen Außenhandelsüberschüsse, die die Bundesrepublik mit ihrer Austeritätspolitik erziele und mit denen sie andere Staaten in die Verschuldung treibe; man könne den "aggressive(n) Merkantilismus Deutschlands" nur bremsen, indem man die deutschen Exporte ins Visier nehme - auch durch Boykott, heißt es in einem Text, der die Logik von #boycottgermany erläutert.[7] Der Appell wird inzwischen auch von prominenten Persönlichkeiten wie etwa dem Occupy-Theoretiker David Graeber unterstützt. Graeber fügt als weitere Erklärung für seine Unterstützung hinzu, Deutschland sei nach seiner Weigerung, Griechenland einen unverzichtbaren Schuldenschnitt zu gewähren, "moralisch verpflichtet", nun auch seinerseits "die Nazi-Schulden zurückzuzahlen, die ihm 1953 erlassen wurden" - und zwar "mit Zinsen."[8]
 
Mehr zum Thema: Von Irrläufern, Zockern und Bürschchen, Die strategische Flanke, Austerität um jeden Preis, Zum Teufel gejagt, Das Referendum als Chance, Die erste Niederlage, Countdown für Athen, Austerität oder Demokratie, Austerität oder Demokratie (II), Die Politik des Staatsstreichs, Das Brüsseler Abkommen, Warnung vor Kerneuropa und Blanker Druck.
 
[1] Jannis Papadimitriou: Griechenland wird teurer. www.dw.com 19.07.2015.
[2] Rainer Hermann: Griechischer Hürdenlauf. Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.07.2015.
[3] François Hollande: "Ce qui nous menace, ce n'est pas l'excès d'Europe, mais son insuffisance". www.lejdd.fr 19.07.2015.
[4] S. dazu Die strategische Flanke.
[5] Jeffrey Sachs: Deutschland ist für die Misere mitverantwortlich. www.sueddeutsche.de 18.07.2015.
[6] Jean-Christophe Cambadelis: Lettre ouverte à un ami allemand. www.cambadelis.net
 16.07.2015.
[7] Tomasz Konicz: http://www.neues-deutschland.de/artikel/978382.kampffeld-europa.html
[8] #BOYCOTTGERMANY. dradiowissen.de.
 
Diesen Artikel haben wir mit Dank von http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59164 übernommen.
 


Online-Flyer Nr. 520  vom 22.07.2015

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