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Aktueller Online-Flyer vom 16. April 2024  

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Inland
Schäuble beharrt auf seiner Drohung mit einem "Grexit auf Zeit"
Weiter blanker Druck
Von Hans Georg

Mit der erneuten Drohung mit einem "Grexit auf Zeit" hält Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble den Druck auf Griechenland aufrecht. Ein Schuldenschnitt für das Land sei nur außerhalb der Eurozone möglich, behauptete Schäuble am gestrigen Donnerstag vergangener Woche zum wiederholten Mal. Damit stellt sich der Minister weiterhin gegen mehrere EU-Amtskollegen, den IWF sowie US-Finanzminister Jacob Lew, der am Tag vorher persönlich bei Schäuble interveniert hatte. Während der Bundestag am Freitag dem sogenannten neuen Hilfspaket für Griechenland zustimmte und damit die deutschen Spardiktate fortschreiben will, berichten Hilfsorganisationen von deren katastrophalen Folgen. Demnach sterben Kinder in griechischen Krankenhäusern, weil nicht mehr genügend Infusionsnadeln beschafft werden können; in griechischen Kinderheimen seien Grundnahrungsmittel mittlerweile "Mangelware".

Schäuble kündigt weitere Hilfen für Griechenland an
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
 
Mitte der Woche sind in Athen erstmals wieder Massenproteste laut geworden. Mit weiteren Streiks und Demonstrationen wird gerechnet. Gleichzeitig konstatieren Beobachter, dass es den alten Eliten des Landes nicht mehr gelingt, mit Hilfe der Medien auf die Stimmung in der Bevölkerung wirksam Einfluss zu nehmen. Die ideologische Kontrolle schwindet.
 
Allein gegen alle
 
Finanzminister Schäuble beharrt auf der Drohung mit einem "Grexit auf Zeit". Er behauptete zum wiederholten Male, ein Schuldenschnitt innerhalb der Eurozone sei nicht zulässig; Griechenland müsse deshalb, wolle es eine signifikante Entlastung erhalten, die EU-Währung preisgeben. Damit stellt sich Schäuble weiterhin nicht nur - unter anderem - gegen mehrere EU-Amtskollegen, den französischen Staatspräsidenten François Hollande, weitere EU-Regierungschefs und den IWF. Auch US-Finanzminister Jacob Lee hat sich bei Schäuble erneut für einen Schuldenschnitt für Griechenland stark gemacht. Sogar EZB-Präsident Mario Draghi hat ausdrücklich erklärt: "Es ist unbestritten, dass eine Schuldenerleichterung notwendig ist".[1] Berlin ist trotz aller Einwände immer noch nicht bereit, Athen mehr als eine bloße Verlängerung der Kreditlaufzeiten zuzugestehen. Vor diesem Hintergrund beschloss der Deutsche Bundestag am Freitag das neue "Hilfspaket" für Griechenland und will damit die deutsche Austeritätspolitik fortschreiben - begleitet von Protesten in Athen.
 
Tödliche Austerität
 
Die von Berlin oktroyierte Austeritätspolitik der vergangenen fünf Jahre sowie die aktuellen, ebenfalls von Berlin erzwungenen Kapitalverkehrskontrollen führen inzwischen zu einer sich stets weiter verschärfenden humanitären Notlage in Griechenland. Es sei "ganz hässlich", was da gegenwärtig "auf dem Buckel der Bevölkerung ausgetragen wird", klagt der Schweizer Jakob Kohn, ein Therapeut, der Hilfstransporte nach Griechenland organisiert und am Wochenende den Verein "Griechenlandhilfe Schweiz" gegründet hat. Am meisten litten Krankenhäuser sowie Kinder- und Behindertenheime; sie "können praktisch keinen normalen Betrieb mehr aufrecht erhalten", berichtet Kohn und nannte Beispiele: "Eine Ärztin schilderte mir, wie ein Kind in ihren Armen gestorben ist. Sie konnte keine Infusion legen, um das Leben des Kindes zu retten, weil es im Spital keine Nadeln mehr gab." In anderen Krankenhäusern könnten keine Blutuntersuchungen durchgeführt werden, weil das Geld für Reagenzgläser fehle. "Auf kleinen Inseln ist die Lage noch schlimmer." Kohn kündigte an, er wolle bei der nächsten Griechenlandreise mit dem Koch eines Kinder- oder Behindertenheimes "in einem Supermarkt vor Ort einkaufen gehen", da es "in der Küche ... an fast allem" fehle": "Grundnahrungsmittel wie Reis, Bohnen, Teigwaren sind Mangelware. Fleisch gibt es seit Wochen nicht mehr." "Als Erstes erhoffe ich mir etwas weniger Leid für die griechische Bevölkerung", sagte Kohn: "Längerfristig wünsche ich mir, dass die Griechen ihre Würde zurückbekommen und nicht mehr auf Almosen angewiesen sind."[2]
 
Proteste
 
Parallel zur Zuspitzung der humanitären Notlage sind in den vergangenen Tagen die Proteste gegen die deutsch-europäischen Spardiktate wieder aufgeflammt. Bereits am Montag vergangener Woche gingen einige Tausend Menschen in Griechenland auf die Straßen, um gegen die Fortsetzung der Austeritätspolitik zu demonstrieren. Für Mittwoch - den Tag der Parlamentsentscheidung über die erneuten Kürzungsprogramme - hatte ADEDY, die Gewerkschaft der Angestellten des öffentlichen Dienstes, zum Streik aufgerufen. Der Streik betraf unter anderem die Ministerien und legte Teile des öffentlichen Nahverkehrs in Athen sowie Bahnverbindungen im ganzen Land lahm. Ihm schlossen sich die Apotheker mit einem 24-stündigen Ausstand an. Am Mittwochabend protestierten weit über 10.000 Menschen auf dem Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlament, wo sich die Abgeordneten einfanden, um den Spardiktaten zuzustimmen. Es kam zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen. Selbst Beobachter aus dem medialen Mainstream in Deutschland bescheinigten der griechischen Polizei, mit Schlagstöcken und Tränengas "rücksichtslos" auf friedliche Demonstranten und sogar auf Journalisten losgegangen zu sein.[3]
 
Medialer Einflussverlust
 
Wie explosiv die Situation ist, zeigt sich daran, dass die griechischen Eliten in einem wichtigen Bereich die Kontrolle über die Stimmung im Land offenbar verloren haben - bei den Medien. Dies hatten Beobachter bereits unmittelbar nach dem Referendum vom 5. Juli konstatiert. Fast alle bedeutenden Zeitungen sowie die großen Rundfunk- und Fernsehsender hatten sich massiv an der Ja-Kampagne beteiligt. So waren etwa, heißt es, "die Sendezeiten über die Nein-Demonstrationen unverhältnismäßig kurz ... im Verhältnis zu denen der Ja-Demonstrationen". "Noch am Wahltag erschienen so gut wie alle großen Sonntagszeitungen mit einem großen Ja auf der Titelseite", während die großen privaten TV-Sender vor allem "Berichte über die massenhaften Stornierungen von Touristen" wegen des Referendums sowie "Katastrophenszenarien über die Liquidität der Banken und den Verbleib Griechenlands in der Eurozone" verbreitet hätten, hieß es in einem Bericht über die medialen Bemühungen, Panik zu schüren und damit ein "Nein" zu verhindern. Noch bis zum Nachmittag des 5. Juli hätten "die Medien den Eindruck" vermittelt, "dass das Nein als ein riskantes Unterfangen in der griechischen Gesellschaft gelte und daher wenig Chancen auf eine Mehrheit habe". Die tatsächliche Stimmung in der Bevölkerung sei in keinster Weise wiedergegeben worden. Die griechischen Medien seien "offensichtlich ... nicht gehört" worden, urteilt eine Beobachterin über diese gescheiterten Beeinflussungsversuche.[4] Ein Mitarbeiter des Forschungszentrums Eliamep in Athen wird mit der Einschätzung zitiert, das Referendum sei "nicht nur ein Votum gegen die alten Parteien" gewesen, sondern auch eine Stellungnahme gegen die staatstragenden privaten Medien.[5]
 
Kontraproduktiv
 
Greift damit in Griechenland die auch andernorts übliche Praxis nicht mehr zuverlässig, bei Bedarf über mediale Propaganda die Stimmung in der Bevölkerung zu steuern, so sind auch die Möglichkeiten von EU-Politikern, im Namen eines in leuchtenden Farben ausgemalten "Europa" politisch zu intervenieren, tief erschüttert. "Die Äußerungen führender europäischer Politiker in der Woche vor dem Referendum" hätten "kontraproduktiv gewirkt", räumt ein deutscher Kommentator offen ein: "Sie wurden als drohende Einmischungen verstanden - etwa von Parlamentspräsident Martin Schulz und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker - und halfen nicht dem 'Ja-Lager', sondern dem 'Nein-Lager'."[6] Insbesondere deutsche Politiker treiben die Menschen in Griechenland mittlerweile in Scharen der Opposition zu, Finanzminister Wolfgang Schäuble an erster Stelle. Angesichts schwindender Optionen, ideologisch die Kontrolle zu behalten, gewinnt für die Zukunft blanker Druck als Mittel der Wahl zur Sicherung der deutschen Dominanz über die EU an Bedeutung. Finanzminister Schäuble exerziert es vor.
 
Mehr zum Thema: Von Irrläufern, Zockern und Bürschchen, Die strategische Flanke, Austerität um jeden Preis, Zum Teufel gejagt, Das Referendum als Chance, Die erste Niederlage, Countdown für Athen, Austerität oder Demokratie, Austerität oder Demokratie (II), Die Politik des Staatsstreichs, Das Brüsseler Abkommen und Warnung vor Kerneuropa. (PK)
 
 
[1] Draghi will "Schuldenerleichterung" für Athen. www.wienerzeitung.at 16.07.2015.
[2] Schweizer Griechenland-Helfer: "In den Spitälern sterben Kinder in den Armen von Ärzten, weil es keine Nadeln mehr gibt". www.watson.ch 14.07.2015.
[3] n-tv-Korrespondent: "Rücksichtloses Vorgehen der Polizei". www.n-tv.de 15.07.2015.
[4] Margarita Tsomou: "Das Oxi ist auch ein Oxi an die Massenmedien". www.zeit.de 06.07.2015.
[5], [6] Rainer Hermann: Mit "Oxi" gegen die Besatzer. Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.07.2015.
 
Diese Bericht haben wir mit Dank von http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59162 übernommen.


Online-Flyer Nr. 520  vom 22.07.2015

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