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Inland
§ 129b-Prozess gegen kurdischen Aktivisten Mehmet D. in Hamburg
Rechtsanwalt Ahues nennt PKK-Verbot sinnlos
Von Martin Dolzer

Am 20. Mai begann vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) das
Hauptverfahren gegen den kurdischen Aktivisten Mehmet D. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, Mitglied in einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß § 129b StGB zu sein; konkrete Straftaten in Deutschland werden dem 46-Jährigen nicht angelastet. Das spielt in Verfahren dieser Art auch keine Rolle; entscheidend für eine mögliche Strafbarkeit ist vielmehr die Frage, ob die PKK in der Türkei bzw. überall dort, wo sie bewaffnet kämpft, eine terroristische Vereinigung ist oder legitimen Widerstand leistet.
 
Die Anklage beschuldigt Mehmet D., von Januar bis Juni 2013 als Gebietsverantwortlicher der PKK die "Region Mitte" (Nordrhein-Westfalen) und dann bis Mitte 2014 die Region Nord geleitet zu haben. (1)
 
Gericht lehnt Vertrauensdolmetscher ab
 
Der Prozess begann – in Anwesenheit von rund 30 BesucherInnen – mit einer Auseinandersetzung um einen Vertrauensdolmetscher, den das Gericht dem Angeklagten verweigerte. „Der Dynamik des Verfahrens wird so keine Rechnung getragen. Es muss möglich sein, mit meinem Mandanten jederzeit ohne Prozessunterbrechung zu sprechen“, kritisierte Rainer Ahues, Verteidiger von Mehmet D. Das Gericht jedoch blieb bei seiner Ablehnung.
 
Verteidiger Ahues: PKK neu bewerten
 
Im Eröffnungsplädoyer sprach Ahues die veränderte Lage in den kurdischen Provinzen der Türkei, Syriens und des Irak seit 2011 an, wo die PKK als Stabilisierungsfaktor zu sehen sei. „Die PKK führt Friedensverhandlungen mit der türkischen Regierung, während sie zugleich im nordsyrischen Rojava demokratische Strukturenaufgebaut hat und gegen die Terrorbanden des IS und die Al-Nusra-Front kämpft“, so Ahues. Dies sei Grund genug, die Ermächtigung des Bundesjustizministeriums zur Strafverfolgung der PKK gem. § 129b StGB aufzuheben. „In Rojava leben sämtliche Bevölkerungs- und Religionsgruppen friedlich zusammen. Hier zeigt sich die demokratische Ausrichtung der Organisation.“ Vor diesem Hintergrund halte er das PKK-Verbot für eine sinnlose Handlung der Strafrechtspflege. Die PKK solle neu bewertet werden; die Bundesanwaltschaft hingegen erstarre in den
Erkenntnissen aus dem Jahre 2004.
 
Richter forderte Bekenntnis statt politischer Schilderungen
 
Mehmet D. beschrieb die Menschenrechtsverletzungen und das systematische Unrecht von Regierung, Armee und Sicherheitskräfte seit Anfang der 1990er Jahre, wovon auch er und seine Familie betroffen waren. Er sprach die aktuelle Rolle der Türkei hinsichtlich der Lieferung von Waffen und anderweitiger Unterstützungshandlungen für den IS an und erinnerte daran, dass Abdullah Öcalan Newroz 2013 zu Frieden und Demokratie aufgerufen habe und die PKK trotz militärischer Provokationen durch das Militär an ihrem neunten einseitigen Waffenstillstand festhalte. Es sei „großes Unrecht“, dass die PKK auf derselben EU-Terrorliste stehe wie der IS.
 
Der Vorsitzende Richter Rühle war an dieser Erklärung weniger interessiert. Er forderte Mehmet D. dazu auf, zu bestätigen, dass er PKK-Sektorleiter in Deutschland gewesen sei.
 
Gestanzte Aussagen der BKA-Beamten im Sinne der Anklage
 
An den folgenden Prozesstagen traten Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) in den Zeugenstand. Das Gericht wollte von ihnen wissen, ob und wie Mehmet D. in die bundes- und europaweiten PKK-Strukturen eingebunden war, ob er Veranstaltungen, das Newrozfest oder Demonstrationen wie die anlässlich der Ermordung von Sakine Cansız, Fidan Doǧan und Leyla Șaylemez im Januar 2013 in Paris organisiert habe. Auch in diesem Prozess haben die BKA-Beamten die seit über 20 Jahren unveränderte Einstufung der PKK als Terrororganisation heruntergebetet.
 
PKK steht für Frieden und Demokratie
 
„Die BAW betreibt mit diesem Prozess eine asymmetrische Verfolgung und Außenpolitik mit den Mitteln des Strafrechts“, kommentiere ich als justizpolitischer Sprecher der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft, das Verfahren. Der Vorwurf der Bundesanwaltschaft, dass die kurdischen Volksverteidigungskräfte (HPG) Anschläge, die auf Mord und Totschlag orientiert sind, durchgeführt hätten, entbehren jeglicher nachvollziehbarer Grundlage“. Es handelte sich völkerrechtlich gesehen vielmehr um eine „Auseinandersetzung zwischen einer staatlichen Armee und KombattantInnen“. Die PKK stehe für Frieden und Demokratie, weshalb ich und Die Linke die Aufhebung des PKK-Verbots fordern.
 
Bundesanwaltschaft bleibt bei rückwärts gewandt
 
Für die „junge welt“ sprach ich mit Rechtsanwalt Rainer Ahues. Auf die Frage, ob der Eindruck zutreffe, dass das Gericht den Prozess rasch beenden möchte und entsprechend das Selbstleseverfahren angeordnet hatte, erklärte Rechtsanwalt Ahues: „Das Selbstleseverfahren spielt eine unheilvolle Rolle. Sämtliche Urkunden über politische Aussagen der PKK, Berichte über Kongresse usw., sämtliche Übersetzungen von aufgezeichneten Telefongesprächen, die sich in den Ermittlungsakten befinden, wurden in insgesamt fünf Aktenordner gepackt und den Beteiligten übergeben, damit diese sie bis zu einem bestimmten Termin durchlesen. Das Gericht hatte es sehr eilig und wollte das bereits vor Beginn der Hauptverhandlung in Angriff nehmen. Das Gelesene wird dann Gegenstand der Beweisaufnahme, das Gericht kann darauf sein Urteil stützen. Es gibt darüber keine mündliche Verhandlung, sondern Lesestunden in der Besucherzelle im Keller der U-Haft, ohne Öffentlichkeit und Dynamik.“
 
Gericht bewertet Türkei als nicht funktionierenden Rechtsstaat, aber …
 
Die Verteidigung hatte mehrere Anträge eingebracht, u.a. zur Neubewertung der PKK, zur Situation in der Türkei und zu den Morden an drei kurdischen Aktivistinnen im Januar 2013 in Paris. Warum diese Anträge abgelehnt wurden, erläuterte RA Ahues: „Das Gericht hat sie abgewiesen, aber immerhin festgestellt, dass es zu den gerichtsbekannten Tatsachen gehört, dass kurdische Parteien und türkische Gewerkschaften immer wieder Verfolgung ausgesetzt waren, dass der türkische Staat bei kurdischen Demonstrationen mit massiver Gewalt bis hin zu Tötungen von Demonstranten vorging, dass Menschen festgenommen wurden und verschwanden, es außerdem immer wieder zu extralegalen Hinrichtungen kam, staatlicherseits systematisch gefoltert wurde und es nach wie vor unfaire Gerichtsverfahren gibt, keine wirksamen Vorkehrungen gegen Gewalt gegen Frauen getroffen werden und das Recht auf freie sexuelle Orientierung missachtet wird. Offenbar sieht das Gericht die Türkei nicht als funktionierenden Rechtsstaat und hat auch als erwiesen bestätigt, dassdie Türkei den IS mit Waffen beliefert.“
 
Interesse hat es nur an Anschlägen der PKK
 
Auf die Frage, ob nach dieser Analyse Mehmet D. und andere wegen des § 129b-Vorwurfs inhaftierte Kurden nicht freigelassen werden müssten, sagte Rainer Ahues: „Den Richtern geht es allein um die Bewertung von Anschlägen, die die PKK auf staatliche Einrichtungenmit den Mitteln von Mord und Totschlag‘ unternommen haben soll. Für die Richter ist ohne Bedeutung, ob der Demokratische Konföderalismus Ähnlichkeiten mit dem föderalen Begriff hat, die PKK keinen eigenen Staat mehr anstrebt und eine radikal partizipatorische demokratische Alternative zum repräsentativen demokratischen Ideal bietet. Ob Widerstand gegen systematisches Unrecht in der Türkei oder gegen den IS legitim sein könnte und Leben rettet, will das Gericht nicht erörtern.“
 
Mehmet D. befindet sich seit seiner Festnahme Ende August 2014 in Untersuchungshaft. „Der 46-Jährige saß seit wenigen Wochen in U-Haft, als der Unionsfraktionschef im Bundestag, Volker Kauder (CDU), Waffenlieferungen an die PKK zur Diskussion stellte. Hintergrund waren die Erfolge der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) und die Rettung zehntausender Zivilisten durch PKK-Einheiten: ‚Ich weiß, welche Probleme die Türkei mit der PKK hat, aber zuzuschauen, wie der IS wichtige Grenzstädte einnimmt und sich immer mehr zu einer Bedrohung der weltweiten Sicherheit entwickelt, kann nicht die Lösung sein,‘ hatte Kauder laut Spiegel online am 16. Oktober 2014 gesagt,“ hieß es in der jungen welt vom 21.5.2015. (PK)
 
Weitere Verhandlungstermine: 16., 17. Juli, 17., 18. und 28. August 2015. (PK)
 
(1) http://www.nadir.org/nadir/initiativ/
 
Martin Dolzer hat den ersten Text vor dem Interview unter dem Titel "Ein fatales Signal“ im Kurdistan-Report Nr . 180 Juli/August 2015 veröffentlicht: http://freemehmet.blogsport.eu
Für die „junge welt“ sprach Martin Dolzer mit Rechtsanwalt Rainer Ahues im Laufe des Verfahrens gegen Mehmet D..
Wir danken Monika Morres vom "AZADI e.V." (Freiheit) für den Hinweis auf diesen Text, den sie im Juni in dessen Monatszeitschrift veröffentlicht hat.


Online-Flyer Nr. 519  vom 15.07.2015

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