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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Aktuelles
Klares NEIN der Griechen zur deutschen Austeritätspolitik
Die erste Niederlage
Von Hans Georg

Mit dem "NEIN" beim gestrigen Referendum in Griechenland muss Deutschland erstmals eine schwere Niederlage beim Oktroy seiner Spardiktate hinnehmen. Rund 61 Prozent der Wähler wiesen am Sonntag eine Übereinkunft Griechenlands mit seinen Gläubigern zurück, die eine Fortsetzung der deutschen Austeritätspolitik vorsah. Für Berlin wiegt die Niederlage umso schwerer, als deutsche Politiker sich massiv in die Referendums-Debatte eingemischt hatten. Nun muss entschieden werden, ob erneut Verhandlungen mit Athen aufgenommen werden – und, wenn ja, unter welchen Bedingungen. Während am Sonntagabend zahllose Griechen die deutliche Zurückweisung der Spardiktate feierten, erklärten deutsche Politiker, weitere Gespräche mit der Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras seien "kaum vorstellbar" (Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel); Griechenland stehe vielmehr vor dem Ausscheiden aus dem Euro und vor einer "humanitären Katastrophe" (EU-Parlamentspräsident Martin Schulz). 
 
Auf Konfliktkurs gegen Berlin ging Paris; die dort regierende Parti Socialiste (PS) sprach sich am Sonntagabend klar "gegen die Austerität" aus, "die Griechenlands Bruttoinlandsprodukt verringert und zahlreiche Bürger in die Armut gestürzt hat". Erste Entscheidungen werden von der heutigen Zusammenkunft der deutschen Kanzlerin und des französischen Staatspräsidenten erwartet.
 
Das NEIN
 
Mit dem "NEIN" beim gestrigen griechischen Referendum muss Berlin zum ersten Mal eine schwere Niederlage beim Oktroy seiner Spardiktate hinnehmen. Über fünf Jahre lang war es der Bundesregierung gelungen, Griechenland mit Hilfe von EU, EZB und IWF eine Austeritätspolitik aufzuzwingen, die das Land ökonomisch ruiniert und soziale Verwüstungen fürchterlichen Ausmaßes hervorgerufen hat.[1] Die griechische Bevölkerung hat den Spardiktaten nun mit klarer Mehrheit eine Abfuhr erteilt: Rund 61 Prozent der Wähler sprachen sich am gestrigen Sonntag gegen eine Übereinkunft mit Griechenlands Gläubigern aus, die den Austeritätskurs ungeachtet seiner katastrophalen Folgen fortschreiben sollte. Die deutliche Ablehnung ist umso bemerkenswerter, als nicht nur das griechische Establishment mit all seiner Macht für ein "Ja" gekämpft hatte; auch Deutschland und in dessen Gefolge erhebliche Teile der EU hatten sich in beispielloser Weise in die Referendumsdebatte eingemischt und ihren Druck auf die griechische Bevölkerung massiv erhöht - noch bis gestern.
 
Unter Druck aus Berlin
 
So hatte in den vergangenen Tagen nicht nur der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble für den Fall eines "Nein" das Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro in Aussicht gestellt - offenbar darauf setzend, dass eine klare Mehrheit der griechischen Bevölkerung den Euro behalten will und mit der Drohung seines Entzugs zu einem "Ja" veranlasst werden könne. Martin Schulz (SPD), Präsident des Europaparlaments, warf Ministerpräsident Alexis Tsipras vor, er sei "unberechenbar und manipuliert die Menschen in Griechenland". Schulz hatte schon am Freitag dekretiert, im Falle eines "Ja" müsse Tsipras "folgerichtig" zurücktreten; bis zu Neuwahlen müsse ein - nicht gewähltes - Technokratenkabinett "eine vernünftige Vereinbarung mit den Geldgebern" finden.[2] Ein solches Technokratenkabinett hatten Berlin und Brüssel bereits vor Jahren nicht nur in Griechenland, sondern auch in Italien genutzt, um jeweils die die deutsche Austeritätspolitik zu oktroyieren.[3] Den Attacken auf die demokratisch gewählte griechische Regierung schloss sich schließlich der deutsche Außenminister persönlich an. Athen habe mit einer "Mischung von Unerfahrenheit, Ideologie und radikaler Rhetorik" die "Verhandlungen in die Sackgasse getrieben"; dabei sei "auf der Strecke geblieben, was dieser Kurs für die Menschen in Griechenland bedeutet", behauptete Frank-Walter Steinmeier (SPD).[4] Steinmeier empfahl Athen, einen Weg zu suchen, "der Europa und die Mitgliedsländer der Euro-Zone nicht überfordert". Schon zuvor war der Druck auf die griechische Bevölkerung durch das - von Berlin durchgesetzte [5] - Einfrieren der EZB-Notkredite und die damit erzwungenen Kapitalverkehrskontrollen in Griechenland drastisch verschärft worden.
 
Tricks kaum möglich
 
Die deutsche Niederlage im griechischen Referendum wiegt umso schwerer, als sie - anders als in früheren Fällen - nicht durch einfache Tricks ausgehebelt werden kann. Nach der Ablehnung der EU-Verfassung durch die Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande im Jahr 2005 etwa nahm die EU einen weitgehend identischen Gesetzestext unter der Bezeichnung "Vertrag von Lissabon" im Jahr 2007 an, diesmal allerdings, ohne ihn den betroffenen Bevölkerungen zur Abstimmung vorzulegen. Lediglich in Irland ließ sich aufgrund nationaler Bestimmungen ein Referendum nicht vermeiden. Nachdem es im Jahr 2008 zur Ablehnung des "Vertrags von Lissabon" durch die irische Bevölkerung führte, wurde es 2009 wiederholt; dank einer massiven PR-Kampagne gelang es, diesmal das gewünschte Resultat zu erzielen. Das Verfahren konnte damals bereits als erprobt gelten: Schon nach der Ablehnung des "Vertrags von Nizza" in einem irischen Referendum im Jahr 2001 hatte die Regierung des Landes die Bevölkerung 2002 zur Wiederholung an die Urnen rufen müssen und mit massiver Propaganda, die als "Informationskampagne" bezeichnet wurde, die von Berlin und Brüssel verlangte Zustimmung eingeholt. Ein ähnliches Vorgehen ist allerdings im Falle des griechischen "Nein" ohne weiteres kaum denkbar.
 
Zuspitzung
 
Entsprechend müssen Berlin und Brüssel die Frage beantworten, wie sie auf neue Vorschläge der griechischen Regierung reagieren, die - dem Ergebnis des Referendums entsprechend - jetzt einen Bruch mit der deutschen Austeritätspolitik fordern wird. Maßgebliche deutsche Politiker haben sich am gestrigen Sonntag klar gegen jegliche Abkehr von den Spardiktaten ausgesprochen. Nach dem "Nein" seien "Verhandlungen über milliardenschwere Programme kaum vorstellbar", sagte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD): Ministerpräsident Tsipras habe "letzte Brücken eingerissen, über die Europa und Griechenland sich auf einen Kompromiss zubewegen konnten".[6] EU-Parlamentspräsident Schulz wollte bereits eine humanitäre Katastrophe in Griechenland erkennen: "Ich glaube, dass wir morgen und übermorgen schon über humanitäre Hilfsmaßnahmen reden müssen." Schulz sprach von Armenspeisungen in Schulen und davon, dass "wir" - die EU - "sicher dafür sorgen müssen, dass Rentner ein Essen bekommen".[7] Die Zielrichtung solcher Prognosen legte der Europa-Analyst der Deutschen Bank, Nicolas Heinen, offen. "Denkbar ist, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Griechenland weiter zuspitzen werden, sodass die Stimmung kippt und die Regierung Alexis Tsipras unter Druck gerät", erklärte Heinen. Unter einer neuen Regierung könne dann über ein weiteres "Rettungspaket" verhandelt werden.[8]
 
Inakzeptable Starrheit
 
In deutlichem Gegensatz dazu brachten sich Gegner der Berliner Austeritätspolitik in mehreren EU-Staaten in Stellung. In Frankreich erklärte der Vorsitzende der regierenden Parti Socialiste (PS), Jean-Christophe Cambadélis, das gestrige "Nein" richte sich nicht "gegen Europa", sondern "gegen die Austerität, die Griechenlands Bruttoinlandsprodukt verringert und zahlreiche Bürger in die Armut gestürzt hat".[9] Griechenland müsse "in der Eurozone bleiben". Dazu müssten sofort Gespräche aufgenommen werden; Athen solle "die Zeit und die Mittel" für den ökonomischen Wiederaufbau erhalten. Gianni Pittella, Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament aus Italien, forderte, die Verhandlungen mit Athen umgehend "in einer neuen Atmosphäre der Solidarität und Kooperation" wiederaufzunehmen: Es werde "Zeit, dass einige Mitgliedsstaaten und Minister endlich aufhören, sich von inakzeptabler Starrheit, Selbstsucht und innenpolitischen Angelegenheiten leiten zu lassen".[10]
 
Die dominierende Macht der EU
 
Damit zeichnet sich ein erneuter Kampf um die deutschen Spardiktate ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel reist am heutigen Montag nach Paris, um dort mit Staatspräsident François Hollande über die Konsequenzen aus dem griechischen Referendum zu konferieren. Den erwarteten Absprachen zwischen Merkel und Hollande werden sich die übrigen EU-Mitgliedstaaten auf dem für den morgigen Dienstag angekündigten EU-Sondergipfel kaum entziehen können. Dabei kann die Kanzlerin trotz der schweren deutschen Niederlage im gestrigen griechischen Referendum mit dem Bewusstsein in die Verhandlungen gehen, dass Deutschland die EU zurzeit so klar dominiert wie noch nie zuvor.
 
Mehr zur deutschen Griechenland-Politik: Von Irrläufern, Zockern und Bürschchen, Die strategische Flanke, Austerität um jeden Preis, Zum Teufel gejagt und Das Referendum als Chance. (PK)
 
[1] S. dazu Die Folgen des Spardiktats, Verelendung made in Germany, Todesursache: Euro-Krise und Die Bilanz des Spardiktats.
[2] EU-Kommission erhöht den Druck. www.tagesspiegel.de 03.07.2015.
[3] S. dazu Europa auf deutsche Art (III).
[4] Hans Monath, Stephan Haselberger: "Signal eines Grexit wäre verheerend". www.tagesspiegel.de 04.07.2015.
[5] S. dazu Zum Teufel gejagt.
[6] Ingrid Müller, Stephan Haselberger: Nein-Wähler liegen vorn - Samaras tritt zurück. www.tagesspiegel.de 05.07.2015.
[7] "Nein" vorne: 60 Prozent der Griechen gegen Sparpläne der Geldgeber. www.focus.de 05.07.2015.
[8] Erste Reaktionen auf das Referendum. www.wiwo.de 05.07.2015.
[9] EU-Sozialisten wollen verhandeln, Gabriel wehrt ab. www.handelsblatt.com 05.07.2015.
[10] Référendum en Grèce: Réaction de Jean-Christophe Cambadélis. www.parti-socialiste.fr 05.07.2015.

(1) Mit oktroyiert bezeichnet man Gesetze, Verordnungen oder Maßnahmen von Regierungen, Obrigkeiten, Ämtern, Vorgesetzten o. Ä., die als aufgezwungen empfunden werden.
 
Diesen aktuellen Artikel von GFP haben wir am Montag mit Dank übernommen:
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59151


Online-Flyer Nr. 518  vom 06.07.2015

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