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Inland
70 Jahre nach der Befreiung der deutschen Konzentrationslager
Psyche des Kommandanten Rudolf Höß
Von Rudolf Hänsel

Am 27. Januar 1945 hat die Rote Armee das KZ Auschwitz befreit, am 11. April übernahmen die Häftlinge des KZ Buchenwald beim Herannahen der US-Armee durch einen Aufstand von der abziehenden SS die Leitung des Lagers, öffneten die Tore und hissten die weiße Fahne. In den darauf folgenden Wochen wurden weitere Lager befreit. Diese Jahrestage können Anlass sein, einmal mehr über das vermeintlich Unbegreifliche nachzudenken. Was für Menschen waren die Vollstrecker der mörderischen Befehle des Nazi-Regimes, die sich als willige Werkzeuge einer gigantischen Vernichtungsmaschinerie blind zur Verfügung stellten? Die autobiographischen Aufzeichnungen des Kommandanten von Auschwitz („Meine Psyche. Werden, Leben und Vorleben“) – niedergeschrieben während der Krakauer Untersuchungshaft 1946 – sind ein psychologisches Dokument von beispielhafter historischer Bedeutung und repräsentativ für den Lebensweg vieler Deutscher aus Höß’ Generation. (1)
 

Rudolf Höß beim Gerichtsprozess in Polen
Quelle: wikipedia
Die handschriftlichen Aufzeichnungen ermöglichen dem Leser einen Blick in die Abgründe menschlichen Verhaltens. Dabei erweist sich Höß, wie der Herausgeber der Autobiographie schreibt, „keineswegs als sadistischer Henkersknecht, sondern vielmehr als ein Mann, der Ordnung und Disziplin liebte, der in der Freizeit ‚innerlich’ tierlieb und ein guter Familienvater, im Dienst aber als ‚anständiger’ SS-Führer stets beflissen und bereit war, auch den unmenschlichsten Befehl zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten auszuführen“. (2) Wie ist das möglich? Die Antwort liefert uns das psychologische Dokument. Es zeigt uns den Zusammenhang auf zwischen Höß’ autoritärer Erziehung nach streng militärischen Grundsätzen und seinem späteren absoluten Gehorsam gegenüber den mörderischen Befehlen seines „Führers“. Das scheinbar Unbegreifliche wird dadurch begreiflich.
 
Eine Erziehung nach streng militärischen Grundsätzen
 
„Ich wurde von meinem Vater nach strengen militärischen Grundsätzen erzogen“, schreibt Höß. (S. 33) Diese Erziehungsgrundsätze, davon war er überzeugt, seien ihm in Fleisch und Blut übergegangen: Wünsche oder Anordnungen der Eltern, Lehrer, Pfarrer hatte der kleine Rudolf unverzüglich durchzuführen bzw. zu befolgen; was die Erwachsenen sagten, war immer richtig und nicht in Frage zu stellen; alle Aufträge der Eltern waren genau und gewissenhaft auszuführen, die Anordnungen und Wünsche des Vaters waren peinlichst zu befolgen. (S. 34f.) Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war diese Kasernenhof-Erziehung eine gängige Erziehungspraxis, die vom Kind absoluten Gehorsam einforderte und ihn für den späteren Soldatenberuf vorbereiten sollte.
 
Eine autoritäre Erziehung verunmöglicht es dem Kind, echte Elternliebe und Vertrauen (Urvertrauen) zum Mitmenschen zu entwickeln. Es kapselt sich stattdessen innerlich ab und bleibt mit seinen Sorgen allein. Das erging auch Höß so, wenn er schreibt: „Obwohl mir doch beide Eltern sehr zugetan waren, konnte ich nie den Weg zu ihnen finden in all dem großen und kleinen Kummer, der so ein Jungenherz ab und zu mal bedrückt. Ich machte dies alles mit mir selbst ab. Mein einziger Vertrauter war mein Hans (Pony) – und der verstand mich, nach meiner Ansicht.“ (S. 36) Auch wenn er seine Eltern sehr achtete und mit Verehrung zu ihnen aufsah, so brachte er doch keine echte Elternliebe für sie auf. Schon von frühester Jugend an lehnte er deshalb jeden Zärtlichkeitsbeweis stets ab – ganz zum Bedauern seiner Mutter. (S. 35) Er wurde Einzelgänger und Tierfreund. Seine zwei älteren Schwestern beschreibt Höß dagegen als „sehr anschmiegsam und stets um die Mutter“. Diese Schwestern seien ihm jedoch immer fremd geblieben, nie hätte er ein wärmeres Gefühl für sie aufbringen können. (S. 36)
 
Die Atmosphäre im Elternhaus empfand Höß als tief religiös. Sein Vater sei ein fanatischer Katholik gewesen, der das Gelübde ablegte, seinen Sohn durch große Strenge zu einem Geistlichen zu erziehen. (S. 33) Aufgrund seiner religiösen Überzeugung sei der Vater ein entschiedener Gegner der Reichsregierung und deren Politik gewesen, war aber dennoch entschieden der Meinung, dass „trotz aller Gegnerschaft die Gesetze und Anordnungen des Staates unbedingt zu befolgen wären“. (S. 35)
 
Nun ist es eine Erkenntnis der wissenschaftlichen Psychologie, dass wir Menschen im späteren Leben im Großen und Ganzen nur das zur Verfügung haben, was wir im Laufe unserer Kindheit von den Erziehungspersonen mitbekommen haben. Bei Höß waren das in erster Linie soldatische „Tugenden“ wie absoluter blinder Gehorsam, Pflichterfüllung und Nichthinterfragen von „höheren“ Anordnungen sowie die Eigenschaft, Probleme mit sich selbst abzumachen und keine Gefühle zu zeigen.
 
Die soldatischen „Tugenden“ des Rudolf Höß
 
Der Herausgeber von Höß’ autobiographischen Aufzeichnungen, Martin Broszat, schreibt in der Einleitung: „Die im Sinne des Nationalsozialismus ‚idealen’ Kommandanten der Konzentrationslager waren letztlich nicht die persönlich brutalen, ausschweifenden und heruntergekommenen Kreaturen in der SS, sondern Höß und seinesgleichen. Ihre ‚aufopfernde Hingabe’ an den Dienst im Konzentrationslager und ihre nie rastende Tätigkeit machten das System der Lager funktionsfähig, dank ihrer ‚Gewissenhaftigkeit’ konnte als eine Einrichtung der Ordnung und Erziehung erscheinen, was ein Instrument des Terrors war. Und sie waren die geeignetsten Exekutionsbeamten jener Form des hygienischen Massenmordes, die es erlaubte, Tausende von Menschen zu töten, ohne das Gefühl des Mordes zu haben.“ (S. 21)
 
Rudolf Höß sei beseelt gewesen von „roboterhafter Pflichterfüllung“ an den Dienst im KZ und jemand, der sich rücksichtslos durchsetzte, vor keinem Befehl zurückschreckte, aber dabei persönlich „anständig“ blieb. (S. 20f.) Er sei der im Kadavergehorsam Erzogene gewesen, der sich in langjährigen Schulungen durch seine Vorgesetzten einreden ließ, dass die Liquidierung Hunderttausender von Menschen bzw. die Ausmerzung „rassisch-biologischer Fremdkörper und Volksschädlinge“ ein Dienst für Volk und Vaterland bzw. ein notwendiger Akt völkisch-nationaler „Schädlingsbekämpfung“ sei. (S. 22)
 
Der SS-Mann, schreibt Höß selbst, müsse ein „gläubiger Fanatiker“ der Weltanschauung des Nationalsozialismus sein, an Adolf Hitler glauben: „Nur durch Fanatiker, die gewillt sind, ihr Ich ganz aufzugeben für die Idee, könne eine Weltanschauung getragen und auf Dauer gehalten werden.“ (S. 114)
 
Als Heinrich Himmler, Reichsführer der SS, Höß 1941 den Befehl gab, „in Auschwitz einen Platz zur Massenvernichtung vorzubereiten und diese Vernichtung durchzuführen,“ reagierte Höß so, wie er es in der Kinderstube beim Vater gelernt hatte: „Ich stellte damals keine Überlegungen an – ich hatte den Befehl bekommen – und hatte ihn durchzuführen. Ob diese Massenvernichtung der Juden notwendig war oder nicht, darüber konnte ich mir kein Urteil erlauben, so weit konnte ich nicht sehen: Wenn der Führer selbst die ‚Endlösung der Judenfrage’ befohlen hatte, gab es für einen Nationalsozialisten keine Überlegungen, noch weniger für einen SS-Führer. ‚Führer befiel, wir folgen’ – war keinesfalls eine Phrase, kein Schlagwort für uns. Es war bitter ernst gemeint.“ (S. 186)
 
Als ihm nach seiner Verhaftung wiederholt gesagt wurde, er hätte ja diesen Befehl ablehnen oder „Himmler über den Haufen schießen“ können, meinte Höß in seinen Aufzeichnungen: „Seine Person als RFSS (Reichsführer der SS) war unantastbar. Seine grundsätzlichen Befehle im Namen des Führers waren heilig. An denen gab es keine Überlegungen, keine Auslegungen, keine Deutungen. Bis zur letzten Konsequenz wurden sie durchgeführt und sei es durch bewusste Hingabe des Lebens, wie es nicht wenige SS-Führer im Kriege taten.“ (S. 187) Das war die Macht der Erziehung. Und Rudolf Höß war kein Einzelfall.
 
„Das Erschreckende war seine Normalität“
 
Diese Einschätzung trifft zwar auch auf Rudolf Höß zu, ist aber das Ergebnis der Eichmann-Studie von Hanna Arendt. (3) Adolf Eichmann war wie Rudolf Höß einer der größten Verbrecher jener Zeit und wie er erschreckend „normal“. Arendt gelangte in ihrem Bericht über den Jerusalemer Prozess gegen Eichmann 1961 zu der Überzeugung, „dass das bestimmende Motiv Eichmanns neben persönlichem Ehrgeiz in einer irregeleiteten Pflichterfüllung und einem bürokratischen Kadavergehorsam lag.“ (S. 25) Der Völkermord (Genozid) der Nazis war für sie deshalb ein „Verwaltungsmassenmord“. (S. 58)
 
Eichmann selbst schreibt in seinem Lebenslauf – ähnlich wie Höß: „Von Haus aus kannte ich keinen Hass gegen Juden, denn die ganze Erziehung durch meine Mutter und meinen Vater war streng christlich.“(S. 104) Nur eins hätte ihm ein schlechtes Gewissen bereitet: wenn er den Befehlen nicht nachgekommen wäre und Millionen von Männern, Frauen und Kindern nicht mit unermüdlichem Eifer und peinlichster Sorgfalt in den Tod transportiert hätte. (S. 98)

Hanna Arendt
Quelle: www.hannaharendtcenter.org
  
Dazu bemerkte Hanna Arendt: „Das Beunruhigende an der Person Eichmann war doch gerade, dass er war wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind. Vom Standpunkt unserer Rechtsinstitutionen und an unseren moralischen Urteilsmaßstäben gemessen, war diese Normalität viel erschreckender als all die Greuel zusammengenommen...“ (4) Nach Erscheinen ihres Buches 1964 wurde gegen die jüdische Professorin deutscher Abstammung – vor allem auf Initiative jüdischer Organisationen – eine vernichtende publizistische Kampagne gestartet, die ihrer Auffassung nach darauf abzielte, sie mundtot zu machen. (S. 33)
 
Wir können nicht nein sagen
 
Wie kommt es, dass wir Menschen nicht nein sagen können? „Nein, ich gehe nicht in den Krieg und lasse Frau und Kinder zurück!“ oder „Nein, ich führe diesen unmenschlichen Befehl nicht aus!“ Wir können es nicht, weil die Erziehung so auf uns eingewirkt hat, dass wir in den Krieg ziehen und die barbarischsten Befehle zur Zufriedenheit der Vorgesetzten ausführen. Wir können nicht anders. Es ist kein Wille, sondern unser Gefühlsleben ist durch die Erziehung so geprägt, dass wir nicht nein sagen können. So wie wir in der Kinderstube folgen mussten, so folgen wir als Erwachsene.
 
Für die Erziehung stellt sich deshalb die Frage, welche Werte und Tugenden wir unseren Kindern mitgeben, wie wir mit ihnen umgehen müssen, dass sie menschlich fühlen und handeln und die endlose Spirale der Gewalt in dieser Welt einmal durchbrechen werden. Immer wieder hat es diese mitmenschlich fühlenden und handelnden Menschen gegeben wie zum Beispiel den evangelischen Pfarrer und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer. Auch an ihn wurde vor kurzem öffentlich gedacht. Am 9. April 1945 wurde er von den Nazis hingerichtet. Bereits zwei Tage nach Hitlers Machtübernahme 1933 warnte er in einer Rundfunk-Rede davor, dass der „Führer“ zum „Verführer“ werden könnte. Im April 1933 erwog er unter dem Eindruck der beginnenden Judenverfolgung die Möglichkeit, „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“ (5) Wie wir wissen, hat er es dann auch getan. (PK)
 
(1) Broszat, Martin (Hrsg.) (1994, 14. Auflage). Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß. München.
(2) A.a.O., „Über dieses Buch“
(3) Arendt, Hanna (2013, 8. Auflage). Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München. (Siehe auch Film „Hannah Arendt. Ihr Denken veränderte die Welt“)
(4) A.a.O., Text Buchdeckel.
(5) S. http://www.dekanat-hof.de/meinungdesmonats/meinungfeb06.htm.
 
Dr. Rudolf Hänsel ist Diplompsychologe, Erziehungswissenschaftler, Buchautor und Autor von Fachartikeln zur Gewaltprävention, Mediengewalt und Werteerziehung.  www.psychologische-menschenkenntnis.de


Online-Flyer Nr. 507  vom 22.04.2015

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